Deutschland: 20 Jahre danach, wie steht es um die Wiedervereinigung? (Vortrag des Leo Trotzki-Zirkels (Paris) vom 19. November 2010)

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Deutschland: 20 Jahre danach, wie steht es um die Wiedervereinigung?
November 2010

Manche erinnern sich noch an die Bilder der Ausgelassenheit, als der Fall der Mauer angekündigt wurde, an die Leute, die von beiden Seiten auf die Mauer kletterten und sich mit Freudentränen in den Augen in die Arme fielen, an die endlich geöffneten Checkpoints, an die Menschen, die sich noch nie begegnet waren und einander umarmten. Die 17 Millionen Ostdeutschen konnten endlich, von einem Tag auf den anderen, auf die andere Seite des Eisernen Vorhangs gelangen, in den Westen gehen und frei ihre Verwandten besuchen. Wie oft hatten sie gedacht, dass sie diesen Tag nie erleben würden! Aber die Freude und Erleichterung gingen weit über Deutschland hinaus. Hier stürzte eines der bedeutendsten Symbole für die Teilung Europas in zwei feindliche Hälften ein und mit ihm die quälende Angst vor einem Krieg, die das Klima seit 1945 geprägt hatte. Die Kommunismus-Gegner aller Länder hielten mit ihrer Freude über diesen Schlag gegen den "Ostblock" natürlich nicht hinter dem Berg. Aber für uns Kommunisten und allgemein für alle Internationalisten, für alle Freiheitsliebenden, gab es allen Grund zur Freude darüber, dass diese Mauer und barbarische Grenze, die mitten durch ein Volk führte, endlich einstürzte, die gehasste Diktatur endlich ins Wanken kam und die Bevölkerung Freiheiten und gewisse demokratische Rechte erhielt.

Bereits ein Jahr später hatten die Großmächte die deutsche Wiedervereinigung akzeptiert und ratifiziert. Die DDR wurde von der BRD geschluckt.

Aber noch heute, zwanzig Jahre später, ist die deutsche Teilung spürbar. Politiker und andere Personen des öffentlichen Lebens, die vor einem Jahr keine Mittel und Ausgaben scheuten, um den 20. Jahrestag des Mauerfalls zu feiern, hielten sich am 20. Jahrestag der Wiedervereinigung weit bedeckter. In Deutschland hört man oft, dass "die Mauer in den Köpfen noch da ist", aber sie existiert durchaus nicht nur in den Köpfen. Würde man den Stand der Arbeitslosigkeit 2010, die Höhe der Löhne, den Reichtum pro Haushalt oder die Industriestandorte in den verschiedenen Bundesländern auf einer Karte darstellen, würde sich die Grenze zwischen der BRD und der DDR deutlich abzeichnen. Auch bei den politischen Einstellungen, Wertvorstellungen, dem Lebensstil oder den sozialen Gewohnheiten gibt es keine Vereinheitlichung: So ist z. B. die Anzahl der unverheiratet zusammenlebenden Paare im Osten weit höher als im Westen, wie auch der Anteil der erwerbstätigen Frauen oder der Atheisten. Die Unterschiede bleiben groß, auch wenn das Leben der Bevölkerung natürlich vor allem "drüben", im ehemaligen Ostdeutschland, erschüttert wurde. Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten vergrößert sich der Unterschied sogar eher. Man kann sich also fragen, was von der Freude und den Hoffnungen von 1989-90 geblieben ist und wie es eigentlich um die deutsche Wiedervereinigung bestellt ist.

1945-1949: Ursprünge und Umstände der Teilung
Die Lage vor 1945

Die USA, Großbritannien und die UdSSR hatten schon lange vor ihrem Sieg 1945 damit begonnen, sich über die Zukunft Deutschlands Gedanken zu machen. Die Deutschen sollten spüren, wie total die Niederlage Deutschlands war. 1944 sah der Morgenthau-Plan - nach dem Namen eines amerikanischen Staatssekretärs - vor, Deutschland in mehrere souveräne Staaten aufzuteilen und es in ein rein der Landwirtschaft gewidmetes Land zu verwandeln. Die Montanindustrie und überhaupt die gesamte Industrie des industriell am höchsten entwickelten Landes Europas sollte vollkommen zerstört werden. Dieser Plan sah auch Zwangsarbeit vor - etwa, um den Deutschen wieder Demokratie beizubringen? Morgenthau war kein Außenseiter, sein Plan wurde ernsthaft diskutiert und es wurde sogar mit seiner Umsetzung begonnen.

Im Februar 1945 legten die drei Großmächte in Jalta den Grenzverlauf ihrer Besatzungszonen fest. Es ging damals noch nicht um eine Teilung Deutschlands, sondern es war eine Antwort auf ihre konkrete und aktuelle Sorge: Sie erinnerten sich noch gut an das Ende des Krieges von 1914-1918, und sie wollten nach dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes revolutionäre Bewegungen der deutschen Arbeiter, die nichts mehr zu verlieren hatten, verhindern. Jeder von ihnen - Stalin, Churchill und Roosevelt - sollte daher in seiner Zone für Ordnung sorgen. Frankreich, dessen Teilnahme an den Verhandlungen mit den Siegermächten anfangs gar nicht zur Debatte stand, verlangte hartnäckig ebenfalls eine Zone, welche es schließlich auch bekam.

Das Abkommen, das im Sommer 1945 zwischen den drei Siegermächten in Potsdam geschlossen wurde, forderte nicht weniger als die Zerschlagung des Großkapitals, das angeklagt wurde, die Nazis finanziert und ihrer Machtergreifung den Weg bereitet zu haben. Heute klingt das vielleicht überraschend, aber in den Jahren direkt nach dem Krieg hätte es keiner gewagt, die Verantwortung der deutschen Industriellen am Nationalsozialismus zu leugnen. Und dieser Wortlaut ließ die "Dekartellisierung" (Entflechtung) zu: Große Unternehmen und Banken wurden in mehrere getrennte Gesellschaften zerteilt, wodurch einige unangenehme Konkurrenten der amerikanischen Konzerne von der Bildfläche verschwanden. Was die Kriegsentschädigungen betraf, so konnte sich jeder in seiner Zone selbst bedienen.

Zu diesem Zeitpunkt befand sich das Land in einem apokalyptischen Zustand. Die Bombardierung Dresdens hat viele zu Recht erschüttert, umso mehr als es dort keinerlei militärisches Ziel gab und die Stadt voller Flüchtlinge war. Aber eigentlich lagen 1945 alle deutschen Städte in Trümmern. Die völlig ausgebrannten Städte boten ein alptraumhaftes Bild. Die Bomben regneten nur so auf die Wohnviertel, weniger auf Fabriken oder Gleisanlagen. Hamburg sah aus wie eine Geisterstadt, über die Hälfte aller Gebäude war vollkommen zerstört, in Nürnberg, Essen oder Hannover wurden 90% der Wohnhäuser von Bomben getroffen. Es ging darum, die Bevölkerung zu terrorisieren, sie ans Ende ihrer Kräfte zu bringen und sie zu zerstreuen. 500.000 Menschen fielen diesen Bombenangriffen zum Opfer.

Die Überlebenden verbergen sich unter den Ruinen, in Kellern, manchmal drei, vier oder fünf Jahre lang. Nur eine Minderheit der Bevölkerung hat noch ihr eigenes Heim. Die Hauptsorge besteht darin, etwas zu essen zu finden. Die Krankenhäuser sind zerstört, Straßen und Infrastrukturen kaputt, Brücken liegen auf dem Grund von Flüssen, es gibt praktisch kein Gas und keinen Strom mehr. Deutschland zählt seine Toten: 7 Millionen, darunter 3 Millionen Zivilisten.

Weitere Millionen Menschen strömen in die Ruinenstädte, darunter die Flüchtlinge, die vor der roten Armee fliehen. Vor allem aber haben sich die Alliierten darauf geeinigt, Polen nach Westen zu verschieben: Die UdSSR vergrößert ihr Gebiet nach Westen, indem sie den östlichen Teil Polens annektiert. Zum Ausgleich erhält Polen den gesamten Osten Deutschlands, das so ein Viertel seiner Gebiete verliert, in denen 9,5 Millionen Menschen leben. 1945 werden diese Deutschen aufgefordert, auszuziehen und der Grenzverschiebung zu folgen. Güterzüge über Güterzüge spucken ihre menschliche Fracht aus: 8 Millionen Menschen kommen im Winter 1945-1946 an, hungernd und mit nicht mehr Besitz als dem, was sie auf dem Leib tragen.

Zu diesen Flüchtlingen kommen noch einmal beinahe genauso viele Vertriebene. In der Tat haben sich die Siegermächte in Potsdam darauf geeinigt, die deutschen Minderheiten aus Osteuropa auszuweisen: Das waren noch einmal 7 Millionen Menschen. Der Großteil von ihnen hatte nie woanders gelebt, ihre entfernten Urahnen waren vor dem Elend in Deutschland geflüchtet und hatten woanders ein Stückchen Land gesucht, das sie bebauen konnten. Diese Minderheiten lebten in Ungarn, Rumänien, der Tschechoslowakei, in Jugoslawien, den Republiken der UdSSR; alles Länder, deren Völker grauenvoll unter den systematischen Massenmorden, Plünderungen und Zerstörungen der Nazi-Armee gelitten hatten.

Insgesamt wird die Anzahl der deportierten Deutschen aufgrund der Grenzverschiebungen und der Vertreibung dieser Minderheiten auf 12 Millionen Menschen geschätzt. Man muss die Bilder dieser Züge von Frauen und Kindern gesehen haben, die mühsam im Schnee vorwärts stapften und ihre Toten auf dem Weg hinter sich ließen. Die Kinder, die in diesem grauenvollen Chaos verloren gingen und die viele Jahre später verzweifelt versuchten, ihre Mutter wiederzufinden. Sie starben an Hunger, Erschöpfung, und Misshandlungen. Die Zahl derjenigen, die diese "Bevölkerungstransfers", die, wie es hieß, auf eine "menschliche Art" erfolgen sollen, nicht überlebten, wird auf 2,5 Millionen Menschen geschätzt. In den 90er Jahren hatten die Politiker, die sich über die "ethnischen Säuberungen" in Bosnien-Herzegowina entrüsteten, scheinbar vergessen, dass ihre Vorgänger 1945 damit in einem ganz anderen Maßstab angefangen hatten.

Die Großmächte hatten mit den Bedingungen dieses Exodus keine Probleme. In der Regel wurde alle Habe konfisziert, man ließ seine gewohnte Umgebung, die Erinnerungen eines ganzen Lebens hinter sich und machte sich auf zu einem unbekannten Ziel, in dieses zerstörte Deutschland, in das man noch nie einen Fuß gesetzt hatte. Das ist eines der Dramen am Ende des Krieges, lange unbekannt, sogar tabu in Deutschland, denn die Schuldigen würden sich ja wohl nicht auch noch beklagen.

Verbände und Lobbygruppen bilden sich, die meist den rechten Parteien nahe stehen und sich der Verteidigung der Vertriebenen und der Flüchtlinge widmen. Ihrer Meinung nach müsste eine deutsche Vereinigung in der Wiederherstellung der Grenzen von 1937 bestehen und damit das verschwundene Preußen und die polnisch und sowjetisch gewordenen Gebiete beinhalten. Die Westmächte ihrerseits sind der Auffassung, dass die Oder-Neiße-Linie einseitig und willkürlich festgelegt worden sei und dass das Gebiet östlich dieser Linie von Polen nur verwaltet würde - eine beunruhigende Situation für dieses Land. In jedem Fall teilten viele Jahre lang viele Menschen die Ansicht, dass Deutschland nicht in zwei, sondern in drei Teile zerstückelt sei.

Die Flüchtlinge ihrerseits träumten weiter von einer Rückkehr in ihr Heimatland. Vor allem diejenigen, die mindestens bis 1955-1956 in Baracken leben mussten, mit Lebensmittelkarten, die nicht wirklich zum Leben reichten. Mit dem Wirtschaftsaufschwung jedoch fanden diese knapp 12 Millionen Menschen, das heißt 20% der Bevölkerung, die nur mit ihren Kleidern auf dem Leib in Gesellschaften gekommen waren, in denen es an allem mangelte, trotz allem einen Platz in der Gesellschaft, fanden Arbeit und Wohnung.

Der Kalte Krieg: Die Teilung Deutschlands bahnt sich an

Dieses zerstörte, amputierte Land wird anschließend in vier militärische Besatzungszonen aufgeteilt, seine Hauptstadt Berlin in 4 Sektoren. Dasselbe Schicksal trifft Österreich und seine Hauptstadt Wien.

Mit dem Beginn des kalten Kriegs werden aus den Verbündeten USA und UdSSR, plötzlich heftige Gegner. Die Behandlung, die die USA ihrer Besatzungszone zukommen lässt, wird sich dadurch plötzlich vollkommen ändern: Es geht nicht mehr darum, die Bevölkerung als besiegten Feind zu behandeln, sondern sie als Partner im Krieg gegen den "Kommunismus" zu gewinnen. Jedes Stück Deutschland wird zum Streitobjekt, ein Tor, das Zugang zum feindlichen Block verschafft. Mitten in Europa werden sich die Besatzungszonen, die ursprünglich nur dafür vorgesehen waren, in der kritischen Phase von 1945 die Ordnung aufrecht zu erhalten, verfestigen. Und mit den zunehmenden Spannungen werden die einzelnen Zonen so fest wie möglich an ihren jeweiligen Block gebunden.

Entgegen der Behauptungen vieler Historiker trägt also nicht die UdSSR die Verantwortung für die Teilung. In der Zeit nach dem Krieg besteht deren Sorge darin, dass dieses Deutschland, das gerade einen erbarmungslosen und verheerenden Krieg gegen die UdSSR geführt hat, der sie 20 Millionen Tote gekostet hat, entwaffnet wird. In der UdSSR weiß man, dass eine Wiederbewaffnung Deutschlands sich auf jeden Fall gegen die UdSSR richten wird. Sie erhofft sich die Gründung eines neutralen Deutschlands, auch wenn man es dafür wiedervereinigen muss. Eine solche Vereinigung mit Verbot der Wiederbewaffnung erfolgt übrigens 1955 für Österreich. Noch 1952 legt die UdSSR für Deutschland einen solchen Vereinigungsplan vor, der jedoch von den USA und dem Bundeskanzler der BRD vehement zurückgewiesen wird. Zwischen der Vereinigung Deutschlands und der Integration eines Deutschen Teilstaates in die kapitalistische Welt haben die sich ohne zu zögern entschieden. Um aus Deutschland einen Partner im Herzen Europas zu machen, haben die USA dem Land die Mittel verschafft, um wieder eine Macht zu werden. Die USA waren in der Position des Stärkeren und sie haben zu dem Zeitpunkt die Initiativen ergriffen. Ihre Kriegsausgaben stiegen unaufhörlich, und der gemeinsame, identifizierte Feind, gegen den die Armeen in ständiger Bereitschaft standen, das war die UdSSR.

Die Teilung Deutschlands geht also aus dem kalten Krieg hervor und aus Strategieänderungen. Es braucht nicht extra gesagt zu werden, dass man die Bevölkerung natürlich nie nach ihrer Meinung gefragt hat. Der Zufall entschied, auf welcher Seite man sich befand. Generationen von Deutschen sahen schließlich in der Teilung, den Stacheldrahtzäunen zwischen den beiden Landesteilen, den auseinander gerissenen Familien die Strafe für den Zweiten Weltkrieg und die Judenvernichtung. Wenn man Deutsche zu der Teilung befragte, war die häufigste Erklärung: Auschwitz musste doch bestraft werden.

Die Lüge der "Kollektivschuld"B

Ab Kriegsende wird eine gigantische Kampagne geführt, die auf eine kollektive Beschuldigung des deutschen Volks abzielte. Dieselben Abgeordneten, die für das Ermächtigungsgesetz gestimmt und Hitler damit die alleinige Macht übertragen haben, erklären nun dem Volk, dass jeder gleich schuld ist, dass jeder ein Rädchen der Höllenmaschine war, und dass man sein Schicksal annehmen muss. Die Bombenteppiche über den Städten, die Besatzungszonen mit ihren Leiden, die Prostitution für ein Stück Brot und die wiederholten Vergewaltigungen, alles wird so von vornherein gerechtfertigt.

Die Kollektivschuld ist ein abscheulicher Begriff und eine politische Lüge. Sie war und ist noch heute eine Art moralischer Vorschlaghammer, der über den Deutschen geschwungen wird. Sie ist eine gewollte Verleugnung des Widerstandes, die vergessen machen will, dass die Nazis bereits vor der Machtergreifung Krieg gegen die Kommunisten, Sozialisten und Gewerkschaftler geführt haben. Dass bereits 1933 Konzentrationslager gebaut wurden, in denen kommunistische und sozialistische Parteimitglieder und Gewerkschafter eingesperrt und gefoltert wurden, um jegliche Opposition zum Schweigen zu bringen. Bis 1939 waren über 500.000 Deutsche aus politischen Gründen eingesperrt worden.

Kurt Schumacher, der damalige Vorsitzende der SPD, erklärte im Herbst 1945 voller Bitterkeit gegenüber den Besatzungsmächten, dass er selbst und zahlreiche Aktivisten bereits in Konzentrationslagern versauerten, als die Regierungen noch Bündnisse mit der Reichsregierung schlossen. Er wurde der Arroganz bezichtigt von führenden Politikern, die Schwierigkeiten hatten, ihn mit Argumenten zu widerlegen.

Von den Deutschen unter dem Nazi-Regime als von einem Kollektiv zu sprechen, bedeutet, die Unterschiede in den Verhaltensweisen zu leugnen, die es bis zum Schluss gegeben hat - Verhaltensweisen, die uns vielleicht unbedeutend erscheinen, die aber unter einer solch unerbittlichen Diktatur beachtlich sind: Jene, die vielleicht keine Helden waren, aber versuchten, sich nicht von der Angst auffressen zu lassen, die nicht der Partei beitraten, die weiterhin mit "Guten Tag" grüßten und nicht mit "Heil Hitler", die Gelegenheit fanden, einem Gefangenen ein wenig Tabak oder ein Stück Brot zuzustecken. Es bedeutet zum Beispiel, diese mit Juden verheirateten Frauen zu vergessen, die sich, als ihre Männer abgeführt wurden, tagelang vor dem Gebäude der Gestapo in der Berliner Rosenstraße versammelten, in dem ihre Männer festgehalten wurden, und schrien, um sie frei zu bekommen - und die letztendlich erfolgreich waren.

Mit einem Wort läuft es darauf hinaus, die Opfer der Nazis auf die gleiche Stufe zu stellen wie ihre Henker.

Immer wieder zu wiederholen, dass jeder Deutsche schuldig ist, ermöglicht letztlich auch, nicht erklären zu müssen, warum und wie die Henker an die Macht gekommen sind... und zu verschweigen, welche großen Bosse, welche Industriellen die faschistischen Banden bereits in den 20er Jahren unterstützten und welche sozialen Kräfte den Beschluss fassten, die NSDAP an die Macht zu bringen, um die Arbeiterklasse zu zerschlagen. Das gesamte deutsche Volk zum Schuldigen zu machen, hat letztendlich hauptsächlich die Funktion, diese wirklich Verantwortlichen zu entlasten! Und hier werden die Dinge wirklich pervers: Wenn nämlich alle gleich schuld sind, kann man ja die Unternehmenschefs, die hochgestellten Bürger, die hohen Beamten, die bereits im Nazi-Regime diese Posten innehatten, in ihrer Stellung lassen.

Wie viele Nazi-Gegner fühlten sich 1945 enttäuschter und besiegter, als es die Nazi-Sympathisanten je waren?

1945-1989 Zwei deutsche Staaten

Ab 1945-1946 wird deutlich, dass die gemeinsame Verwaltung Deutschlands durch die Alliierten nicht haltbar ist und ihre Gegensätze jegliches globale Friedensabkommen verhindern werden. Die Teilung, die als Provisorium gedacht war, wird dauerhaft.

Die Etappen der Teilung

1947 führen die Westmächte eine Reihe von Maßnahmen durch, die die Teilung vertiefen. Sie schließen ihre Zonen zusammen, so dass nunmehr eine einzige Westzone einer Sowjetzone gegenübersteht. Die USA kündigen die Hilfen des Marshallplans an, eine Maßnahme, die sowohl politische als auch wirtschaftliche Gründe hat. Die amerikanischen Verantwortlichen erklären offen, dass die Armut ein Problem ist, da "sie den Kampf gegen den Kommunismus erschwert." Anschließend führen Sie im Westen eine neue Währung ein, was der Auslöser der ersten Berlinkrise wird.

Geographisch ist die Hauptstadt von der Sowjetzone eingeschlossen. Um aus der Westzone nach Westberlin zu gelangen, muss man ein gutes Stück dieser Zone durchqueren. 1948 macht die UdSSR alle Eisenbahnlinien, Straßen und Wasserstraßen nach Westberlin zu, wodurch die 2 Millionen Einwohner Westberlins von der Außenwelt abgeschnitten werden. Die UdSSR versucht so, ein Friedensabkommen und die Schaffung eines einzigen, aber neutralen Deutschlands zu erzwingen.

Die Welt scheint am Rande eines dritten Weltkriegs zu stehen. In Deutschland herrscht Panik. Die USA wollen weder das Gesicht verlieren, noch eine kriegerische Eskalation und finden eine andere Lösung: die Luftbrücke. 850 Flüge am Tag versorgen Berlin. Ein Jahr lang werden Lebensmittel, Kohle, Treibstoff ausschließlich per Flugzeug nach Berlin befördert, eine technische Glanzleistung. Im Mai 1949 gibt die UdSSR auf und hebt die Blockade auf. Millionen Deutsche sehen die USA nun nicht mehr als Besatzer, sondern als Retter.

Wenige Wochen später wird die Bundesrepublik Deutschland ins Leben gerufen und im Oktober 1949 die DDR.

Eigenschaften der beiden deutschen Staaten
Die Bundesrepublik Deutschland...

Vergleichen wir die beiden deutschen Staaten zu Beginn ihrer Existenz und beginnen mit der uns besser bekannten BRD. Sie ist flächenmäßig größer als die DDR und hat drei Mal so viele Einwohner.

Bei Kriegsende hielten die amerikanischen Truppen vorübergehend die Gebiete im Osten des Landes besetzt, die der UdSSR zugesprochen worden waren. Sie überließen ihr den Platz nicht, ohne zuvor manche besondere Beute zu machen.

So statten sie zum Beispiel vor ihrem Abzug aus der Stadt Jena der international bekannten Firma Carl Zeiss einen Besuch ab, in der Hand eine Namensliste mit 84 bekannten Fachleuten, denen ein Ultimatum gestellt wird. Ob sie wollen oder nicht, sie werden mit den Truppen in den Lastwagen der Armee evakuiert. Auf diese Art kidnappten die USA denkende Köpfe und verfrachteten ganze Fabriken in die USA oder in ihre Besatzungszone, die zukünftige BRD, darunter z. B. Audi und die Dresdner Bank, eine der größten Banken. Andere Unternehmer, Wissenschaftler und wichtige Persönlichkeiten beeilen sich, die Sowjetzone auf eigene Initiative zu verlassen.

Vor allem aber greifen die USA in die Tasche: Die BRD erhält die Hilfen aus dem Marshallplan. Und die Industrie kommt umso schneller wieder in Fahrt, da sie weit weniger zerstört ist als die Wohnviertel und sogar weitgehend verschont wurde. Die chemische Industrie ist zu 10-15% zerstört, die Stahlwerke zu 10%. Im zu drei Viertel zerstörten Frankfurt steht unversehrt die riesige Anlage der IG Farben, dem größten Chemiekonzern der Welt.

In der Bevölkerung ist 1945 vielen klar, dass das Großkapital für die Machtergreifung der Nazis verantwortlich ist, dass es sich im Nazireich bereichert hat und für das allgemeine Desaster die größte Verantwortung trägt. Zahlreich sind die Stimmen, die die Vergesellschaftung der Produktionsmittel verlangen. Weitermachen, als wäre nichts geschehen, scheint reiner Wahnsinn. Schriftsteller prägten damals den Ausdruck "die Stunde Null", womit sie sagen wollten: Das Land liegt zwar am Boden, ist aber endlich von der Nazi-Unterdrückung befreit. Nun müssen neue Grundlagen geschaffen werden, die Kapitalisten dürfen nicht die gesamte Macht in den Händen behalten.

1946-47 sehen die neuen Verfassungen mehrerer Bundesländer die Vergesellschaftung der Sektoren Bergbau, Energie und Eisenbahn vor. Die Besatzungsmächte jedoch, und allen voran die USA, wollen von Vergesellschaftung egal in welcher Form nichts wissen. In Hessen verlangen sie schließlich einen Volksentscheid zu dieser Frage, und als das "Ja" zur Vergesellschaftung mit 71% gewinnt, legen sie ein für allemal ihr grundsätzliches Veto gegen jede Vergesellschaftung ein.

Die nächste Enttäuschung ist die "Entnazifizierung". Die Besatzungsmächte lassen die wichtigsten überlebenden Führer Nazideutschlands verurteilen, sowie Körperschaften wie die SS, die Gestapo, usw. Ferner wird ein Großteil der Bevölkerung mit Millionen Fragebögen befragt. Die Kriterien, mit denen über die Schuld befunden wird, sind willkürlich. Ein erzwungener Beitritt zur NSDAP, um seine Arbeit zu behalten, wird manchmal härter bestraft als die Finanzierung der Nazis durch einen Arbeitgeber... Leichtere und einfachere Fälle werden zuerst behandelt, während die Leute, die wirklich tief mit drin hangen, in Ruhe verschwinden können. Und sie verschwinden umso einfacher, da sie sich einen Anwalt leisten können. Die gefälschten Entlastungsscheine werden scherzend "Persilscheine" genannt. Sie waschen sogar braune Westen weiß.

Die Besatzungsmächte entlassen massenweise Beamte, die sie dann mit denselben Schnellverfahren sogleich wieder einstellen. Unter dem Vorwand, man benötige Führungskräfte für Wirtschaft, Verwaltung und Justiz, holen sie die meisten gleich wieder zurück.

Ganz oben auf der Liste der widerlichsten Verbrecher steht der Industrielle Friedrich Flick, der reichste Mann Deutschlands. 1944 arbeiten 130.000 Menschen in den Fabriken seines Industrieimperiums: Die meisten sind Gefangene aus Konzentrationslagern. Eine von den Nazis durchgeführte Inspektion der Fabriken und Baracken stellt eine besonders entwürdigende und unmenschliche Behandlung fest. 10.000 Gefangene haben sie nicht überlebt. Flick wird anlässlich der Nürnberger Prozesse der Sklaverei, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschheit und des massiven Einsatzes von Zwangsarbeit für schuldig befunden und Ende 1947 zu sieben Jahren Haft verurteilt. Von seiner Zelle aus führt er seine Geschäfte weiter und wird zwei Jahre später entlassen. Kurz darauf wird er Hauptaktionär von Daimler-Benz und Vorstand eines mächtigen Industrie- und Finanzimperiums... Alle Regierungsparteien akzeptieren seine kleinen Gaben - in aller Diskretion. Der Skandal kommt in den achtziger Jahren schließlich an die Öffentlichkeit. Was die Zwangsarbeiter betrifft, mit deren Blut er sich bereichert hatte, so verweigerte Flick ihnen bis zu seinem Lebensende jede Entschädigung.

Beim Anblick dieser Industriemagnaten, die vom Nazi-Regime gemästet worden waren und die jetzt so schnell wieder integriert werden, sind die Nazigegner erschüttert. Und müssen wieder einmal feststellen: "Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen" Während die Witwe einer der schlimmsten Schlächter der SS, Heydrich, eine Rente erhält, die dem Sold eines Generals entspricht, erhält die Witwe eines von den Nazis entlassenen Beamten nur eine magere Entschädigung.

Und als dann die Zeit des Kalten Kriegs anbricht, beenden die USA bereits 1948 die Entnazifizierung.

Um ihren Bruch mit dem Nationalsozialismus deutlich zu machen, werden manche Parteien, die sich zu sehr kompromittiert hatten, nach dem Krieg nicht wieder ins Leben gerufen. So zum Beispiel die katholische Zentrumspartei. An ihrer Stelle werden neue Parteien gegründet, wie die Christlich-Demokratische Union CDU, die besonders erfolgreich die Spitzenpolitiker der Zentrumspartei recyceln, einschließlich der Nazis, die unter Hitler hohe Staatsposten innehatten. Die ersten Bundestagswahlen 1949 gewinnt Adenauer von der CDU knapp vor der SPD. Er wird bis 1963 Kanzler bleiben. Der zutiefst antikommunistische Adenauer ist für eine möglichst feste Einbindung der BRD in den Block der Westmächte.

Der Gegenkandidat der SPD, Kurt Schumacher, spricht sich gegen die Eingliederung in den Westblock um jeden Preis aus und erklärt, dass die Wiedervereinigung, von der die CDU spricht, ein Trugbild ist. Aber er widersetzt sich der deutschen Teilung vor allem aus nationalistischen Gründen. Er steht dem Kommunismus ebenfalls äußerst feindlich gegenüber. Im Krieg von 1914 hatte er einen Arm verloren und den Rest seiner Gesundheit in zehn Jahren Konzentrationslager. Die SPD-Abgeordneten waren 1933 die einzigen gewesen, die nicht für Hitlers Ermächtigungsgesetz gestimmt hatten. Die Kommunistische Partei war zu dem Zeitpunkt schon verboten gewesen.

Bei der Gründung der BRD 1949 halten die Politiker die Fiktion einer nur vorübergehenden Teilung aufrecht. Sie betonen, dass die Grenzen nicht fest sind, dass es unnütz ist, eine Verfassung auszuarbeiten, da man für das wiedervereinigte Land ja wieder eine neue bräuchte. Ein Grundgesetz tue es auch. Die Hauptstadt Bonn, ein kleines Provinzstädtchen am Rhein, scheint mit Absicht gewählt worden zu sein, wie um zu betonen, dass es sich nicht um eine Hauptstadt handelt. Alle Entscheidungen der Regierung binden die BRD an den Westen und vertiefen die Teilung, aber jedes Mal mimt Adenauer den Meister der Einheit und erklärt, dass es sich um einen unvermeidlichen Umweg handelt, dass das Ziel aber natürlich bleibe, die einzelnen Stücke Deutschlands wieder zusammenzufügen.

Schon 1945 hatten einfache Frauen mit dem Aufräumen begonnen und mit bloßen Händen tonnenweise Schutt, Steine und sonstige Trümmer weggeschafft. Man nannte sie die "Trümmerfrauen", und dass die Städte nachher so schnell wieder aufgebaut werden konnten, ist zu einem großen Teil ihnen zu verdanken.

Später war viel vom deutschen "Wirtschaftswunder" die Rede. Aber ein Wunder hat es natürlich nicht gegeben, es kamen einfach mehrere Faktoren zusammen: der Wiederaufbau, die amerikanische Unterstützung und Millionen Menschen, die alles verloren hatten und unbedingt Arbeit brauchten. Es gab die Westdeutschen und diejenigen, die aus der DDR geflohen waren, und dann die Millionen Flüchtlinge aus den osteuropäischen Ländern, die nichts hatten, nicht gut angesehen waren und bereit waren, jegliche Arbeit zu jeglichen Bedingungen zu machen.

Wenn diese Faktoren etwas von einem Wunder hatten, dann für die Unternehmensbosse. Sie verfügten so über riesige Reserven an Arbeitskräften, die keine andere Wahl hatten und teilweise 48 Stunden in der Woche hart ausgebeutet wurden. In den 50er und 60er Jahren war das Wirtschaftswachstum spektakulär und die Reichen bereicherten sich maßlos. Die Arbeiterklasse hat nie einen proportionalen Anteil an diesem Reichtum erhalten, auch wenn sie nach und nach weniger schlecht lebte als anderswo. Die Unternehmen und der Staat zogen es manchmal vor, nachzugeben, um allen zu zeigen, dass Kapitalismus besser ist als der schreckliche Kommunismus "drüben". Es wurde oft gesagt, dass zwischen den Bossen und der Gewerkschaft "ein Dritter mit am Verhandlungstisch sitzt": das Gespenst Ostdeutschland, das die Bosse dazu bringt, ein paar Brotkrumen mehr herauszurücken.

In dieser Situation wurde das Klassenbewusstsein von Millionen Werktätigen über Generationen hinweg durch den scheinbaren Erfolg des westdeutschen Modells getrübt und dadurch, dass es ihnen noch mehr an Perspektiven mangelte als anderswo: Wozu kämpfen, wenn man dadurch nur die traurigen Verhältnisse in Ostdeutschland erreicht, die nur abschreckend wirken konnten? Ferner wurde das Klassenbewusstsein vieler durch den Antikommunismus getrübt, der nach 1945 so etwas wie eine moralische Verpflichtung der USA gegenüber war und dem bereits 12 Jahre antikommunistischer Indoktrination durch die Nazis vorausgegangen waren.

Die deutsche Arbeiterklasse, die vor 1933 zahlenmäßig, von ihrer Bedeutung in der Produktion, ihrem Klassenbewusstsein, ihrer reichen Erfahrung und der Kraft ihrer Organisationen die stärkste von allen war, war von Hitler gebrochen worden und ebenso durch die Art und Weise, wie er an die Macht gekommen war: Denn die Unfähigkeit und die kriminellen Verirrungen der beiden großen Arbeiterparteien, SPD und KPD, haben dabei zweifellos eine wichtige Rolle gespielt. Es war eine schreckliche Niederlage. Zwar hatten viele Parteimitglieder bis zum Schluss Widerstand zu leisten versucht, mit all dem Mut und all der Entschlossenheit, die ihren Führungen fehlte. Diese waren dem Kampf ausgewichen und hatten die Arbeiter politisch entwaffnet, so dass die Niederlage schließlich kampflos stattgefunden hat. Trotzki schrieb im März 1933, nach den ersten gewalttätigen Angriffen der Hitlerregierung auf die Arbeiterorganisationen, dass sich die deutschen Proletarier eines Tages wieder erheben würden, die KPD jedoch nie wieder.

Was die DDR betrifft, so waren nicht wenige in der ersten Führungsriege Überlebende der Konzentrationslager. Der Präsident Wilhelm Pieck und der Vorsitzende der Einheitspartei Walter Ulbricht, die für lange Zeit an die Staatsspitze katapultiert worden waren, gehörten zu diesen Kommunisten, die überlebt hatten. Sie hatten bereits viele Jahre politischer Tätigkeit hinter sich. Pieck war kurz vor der Jahrhundertwende in die SPD eingetreten. 1917 hatte er wegen Antikriegspropaganda vor dem Kriegsgericht gestanden. Ende 1918 waren er und Ulbricht mitten im Wirbelsturm der deutschen Revolution der neu gegründeten KPD beigetreten. Später folgten sie dem Stalinismus, gehörten aber weiterhin zu einer Generation wirklicher Aktivisten. Als sie 1945 an die Spitze eines Staats katapultiert wurden, der sich für kommunistisch ausgab, stellten sie sich dieser Aufgabe und begruben spätestens zu diesem Zeitpunkt ihr Ideal. So konnten die Nachkriegsverhältnisse die KPD, die sich vor 1933 zugrunde gerichtet hatte, auch im Osten nicht wieder aufrichten.

... und die Deutsche Demokratische Republik

Die Deutsche Demokratische Republik gehörte zu dieser Gruppe von "Volksdemokratien", die weder demokratisch noch im Volk beliebt waren. Die Diktatur richtete sich vor allem gegen die Arbeiterklasse und was vielleicht das Schlimmste ist, sie tat dies im Namen des Kommunismus. Büsten von Lenin, der das gehasst hätte, thronten in allen Klassenzimmern, Marx und Engels wurden bei jedem und allem herangezogen.

Die Sowjetzone war in einer weit schwierigeren Situation als die BRD. Der Krieg hatte sie härter getroffen, mit nur 16 Millionen Einwohnern war sie kleiner und die UdSSR war keineswegs in der Lage, ihr in ähnlicher Weise unter die Arme zu greifen, wie die USA mit dem Marshallplan. Im Gegenteil, sie versuchte sich an diesem kleinen Stück Deutschland für die Plünderungen und entsetzlichen Zerstörungen zu entschädigen, die die deutsche Armee in der Sowjetunion angerichtet hatte. So kam die DDR weit mehr für die Kriegsfolgen auf, als ihr zukam.

3.500 Führungs- und Fachkräfte aus der Besatzungszone werden zum Umzug in die Sowjetunion gezwungen. Im Oktober 1946 wird die Belegschaft des Glaswerks Schott eines Morgens aus ihren Betten geholt und mitsamt ihrer Fabrik in die UdSSR verfrachtet. Bis 1953 werden 3.400 Fabriken in der DDR demontiert. Das Gleiche geschieht mit den Eisenbahnschienen. Aber diese Demontagen waren nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war der ständige und massive Strom von Menschen, die das Land in Richtung Westen verließen, manchmal mit Diplomen und immer mit ihrem Know-how und ihren Fachkenntnissen. Die Höchstqualifizierten, die Aussicht auf eine Karriere im Westen hatten, neigten am meisten dazu, die Zone zu verlassen: Insgesamt ein riesiger Technologietransfer von Ost nach West.

Zwischen 1945 und 1949 führt die UdSSR in der zukünftigen DDR eine Agrarreform durch: Alle landwirtschaftlichen Betriebe von mehr als 100 Hektar werden enteignet, ein großer Teil des so frei gewordenen Land wird verstaatlicht, der Rest wird zwischen den Landarbeitern, Kleinbauern und landlosen Flüchtlingen aus dem Osten aufgeteilt. Eine beachtliche Veränderung in diesem Land, wo einige wenige Großgrundbesitzer riesige Ländereien besaßen. Später wurden die Landwirte mit Nachdruck "eingeladen", sich zu Produktionsgenossenschaften zusammenzuschließen.

Zum Zeitpunkt der Gründung der DDR war noch die Hälfte der Werktätigen im Privatsektor beschäftigt, aber die meisten Großunternehmen wurden in mehreren Wellen verstaatlicht. Es hat natürlich keine proletarische Revolution gegeben und auch in den Staatsbetrieben, die sich im so genannten "Volkseigentum" befanden, hatten die Arbeiter keine besondere Rolle in der Organisation der Produktion inne, ganz zu schweigen von einer Führungsrolle in der Wirtschaft. Die Verstaatlichungen waren für das Regime erforderlich, da die Eigentümer der großen Unternehmen mögliche Stützen des Imperialismus waren und wirtschaftlich und politisch Einfluss ausüben konnten, um die DDR zu schwächen. Die Großunternehmen wurden also verstaatlicht. Allerdings haben die Genossenschaften und kleinen Privatunternehmen bis zum Schluss weiter existiert.

Die Industrieproduktion wurde der im Ostblock herrschenden Situation entsprechend gesteuert. Zwar war diese Planwirtschaft bürokratisch und entsprach absolut nicht den Bedürfnissen der Bevölkerung, aber es herrschte auch nicht die Anarchie der kapitalistischen Produktion, wo allein der erhoffte Profit bestimmt, was uns wie viel die einzelnen Unternehmer produzieren. Und vor allem gingen die Erträge an den Staat, nicht an Aktionäre, auch wenn sich die Bürokraten ein wenig bedienten.

Politisch fürchteten die Führer der DDR bis 1955, von der der UdSSR "fallen gelassen" zu werden, denn diese hatte Zweifel hinsichtlich der Teilung und bevorzugte weiterhin ein geeintes und neutrales Deutschland. Sie waren vollkommen abhängig von Moskau und das erklärt, warum dieses Regime von allen Ostblockländern der von der UdSSR vorgegebenen Linie immer am treusten folgte.

Um ihre Existenz offiziell und positiv begründen zu können, setzte sich die DDR als das friedliche antifaschistische Deutschland in Szene, das dem anderen imperialistischen und kriegstreiberischen Deutschland gegenüberstand. In Wirklichkeit waren die echten Nazis 1945 vor dem Einmarsch der Roten Armee geflohen und war die Säuberung etwas strenger gewesen als im Westen, vor allem gegen die Richter, aber ansonsten war die gleiche Kontinuität des Staatsapparats festzustellen wie im Westen. Ehemalige Nazis konnten der SED, der einzigen und regierenden Partei, schnell wieder beitreten und hohe Ämter bekleiden. Für die Führer war der Antifaschismus nichts anderes als Floskeln, die es ihnen im Übrigen ermöglicht haben, über das Thema nie wirklich zu sprechen, denn sie waren ja die "Guten". So hieß die Berliner Mauer in der DDR immer nur "antifaschistischer Schutzwall", also gebaut, um einem Angriff des imperialistischen Lagers zu widerstehen - zu einer Zeit, als ein solcher Krieg keineswegs unwahrscheinlich erschien.

Wenn man versuchen will, die Dinge in wenigen Sätzen zusammenzufassen, kann man sagen, dass es sich um eine Gesellschaft handelte, in der Zensur und viele Verbote herrschten, wo man nicht sagen oder lesen konnte, was man wollte, wo man oft einen Buckel machen musste, und das umso mehr als die Staatssicherheit, die berüchtigte Stasi, zahlreich genug war, um das Tun und Lassen jedes einzelnen zu bespitzeln, ein Land außerdem, in dem oft Mangel herrschte.

Aber auch ein Land, in dem es keine Milliardäre gab, die es zu bereichern galt, und wo die Leute keine Angst vor Armut kannten, da das Recht auf Arbeit kein leeres Wort war. Zu den wirklich wichtigen Dingen gehörte auch der Zugang zum Gesundheitssystem und zahlreichen Dienstleistungen in den Unternehmen. Und wie in den anderen Ostblockländern waren die meisten Wohnhäuser Eigentum des Staats, der die Wohnungen für einen symbolischen Betrag vermietete. Auch Gas und Strom kosteten so gut wie nichts. Wenn man bedenkt, dass bei uns die Unterkunft oft die Hälfte des Lohns verschlingt und auf jeden Fall einen großen Teil des Budgets einer Familie, kann man sich vorstellen, dass es für eine Arbeiterfamilie in der DDR nicht unbedeutend war, praktisch kostenlos wohnen zu können.

Juni 1953 in Ost-Deutschland

In den fünfziger Jahren entfernen sich die beiden Deutschlands voneinander, die gegenseitige Feindseligkeit wird immer deutlicher. Die BRD erklärt, dass sie das einzige rechtmäßige Deutschland sei, dass sie die DDR nicht anerkennen werde und dass sie von den anderen Ländern das gleiche fordere, sonst würden die diplomatischen Beziehungen abgebrochen. Jeder muss sich für eines der beiden Deutschlands entscheiden. Um die DDR nicht anzuerkennen, nennen die Machthaber der BRD sie nie beim Namen: Sie nennen sie "die Zone", "drüben", die "SBZ" (für Sowjetische Besatzungszone). Als Reaktion darauf wird die BRD "der Klassenfeind" genannt, die Propaganda stellt den Westen als einen Ort des Lasters voller Zuhälter und Gangster dar.

Unter diesen politischen Umständen bricht 1953 der Juni-Aufstand in der DDR aus. Stalins Tod im März 1953 weckt viele Hoffnungen. Der Staat verspricht den kleinen Unternehmern, den Handwerkern, den Bauern, kurz gesagt kleinbürgerlichen sozialen Schichten Zugeständnisse, aber den Arbeitenden nichts! Im Gegenteil, für sie wird angekündigt, dass die Produktionsnormen um 10 % erhöht werden. Das bedeutet eine Lohnkürzung, obwohl sie schon jetzt mit dem Geld nicht auskommen. Am 16. Juni treten die Maurer der beiden großen Baustellen in Ost-Berlin in den Streik. Sie fangen an zu demonstrieren, andere Maurer und Arbeiter der U-Bahn und der Eisenbahn folgen ihnen spontan. Sie sind nun 3.000 und auf dem Weg zum Sitz der Regierung. Auf den Bürgersteigen jubeln ihnen die Leute zu.

Schon mittags weicht das Politbüro zurück: Es nimmt die Normenerhöhung zurück. Es ist aber schon zu spät. Es reicht nicht mehr, um die Bewegung anzuhalten. Die Arbeitenden drücken politische Forderungen aus: Sie fordern freie geheime Wahlen, den Rücktritt der gesamten Regierung. Sie rufen zum Generalstreik auf. Ein Radiosender in West-Berlin überträgt vorsichtig diesen Aufruf. Doch das genügt. Schon am nächsten Tag, am 17. Juni, hat sich der Streik auf das ganze Land ausgebreitet. An diesem Tag finden Streiks und Demonstrationen in mehr als 500 Gemeinden der DDR statt. Besonders stark ist die Streikbewegung in den großen Unternehmen und in den großen Arbeiterstädten.

Die Unzufriedenheit der Arbeitenden sitzt tief und wird nicht durch einige Zugeständnisse bei den Arbeitsbedingungen und Preisen entschärft. Der spontane Ausbruch wird aber die Zeit nicht haben, sich eine Leitung und klare Perspektiven zu geben. In einigen Städten fordern die Streikenden die Bildung einer vorläufigen, aus "fortschrittlichen Arbeitern" zusammengesetzten Regierung oder die sofortige Befreiung aller politischen Gefangenen. Fast überall besetzen sie die amtlichen Gebäude, die Büros der SED-Leitungen, sie greifen die Stasi-Gebäude und die Polizeiwachen an, und an mehreren Orten öffnen sie die Gefängnisse.

Die Regierung scheint die Lage nicht mehr im Griff zu haben, die Polizei steht unschlüssig da: Ein Teil von ihnen schließt sich den Arbeitenden und Demonstranten an. Am 18. Juni wiederholt der Ministerpräsident Grotewohl im Radio die Aussage, dass die Normenerhöhung zurückgenommen werden soll. Kurz darauf tauchen die russischen Panzer auf, der Ausnahmezustand wird erklärt und das Kriegsrecht ausgerufen. Am gleichen Tag teilt der Ost-Berliner Rundfunk mit, dass "Ordnung" und "Ruhe" wieder herrschen. Die Streiks gehen noch ein paar Tage weiter, sogar stellenweise bis Juli. Aufständische werfen Steine auf die Panzer... aber angesichts von 20.000 russischen Soldaten und 8.000 Vopos ist es mit dem Aufstand vorbei.

Zwar waren die Panzer hauptsächlich zur Abschreckung da, dennoch wurden Dutzende Demonstranten getötet. Danach wurden ungefähr vierzig Personen zum Tode verurteilt. 18 von ihnen waren russische Soldaten. Sie wurden erschossen, weil sie sich geweigert hatten zu schießen. Tausende wurden verhaftet, in erster Linie Arbeitende, darunter 14-oder 15-jährige Jugendliche. Hunderte wurden in Lager nach Sibirien geschickt. Alle hatten gewusst, dass die Beschlüsse in Moskau gefasst wurden, aber es sind solche Erlebnisse, die einem das richtig zu Bewusstsein bringen, und die dann eine ohnmächtige Wut erregen.

Das Trio Grotewohl-Pieck-Ulbricht, dessen Anfangsbuchstaben das Wort "GPU" bilden und das diesen Spitznamen bei den Arbeitern in der DDR wett hatte, wird von einem "vom Großkapital angestifteten konterrevolutionären Putsch" und von einer "faschistischen Provokation" sprechen. Das sagt natürlich alles über den angeblichen « Arbeiterstaat DDR » aus. Aber zur gleichen Zeit ist in den USA der Teufel Kommunist, und in dieser "freien" Welt - wie sie sich selber nennt - wird das Ehepaar Rosenberg am 19. Juni 1953 hingerichtet, angeblich wegen Spionage, in Wirklichkeit jedoch wegen ihrer kommunistischen Ideen.

Im darauf folgenden Jahr wird die Hälfte der SED-Hauptamtlichen ersetzt. Die Partei nützt den Aufstand für Parteiausschlüsse, um die Führungsetage umzubilden, um Polizisten abzusetzen, deren Verhalten gegenüber den Streikenden als zu sanft oder zu verständnisvoll eingeschätzt wurde, und um sich mit gehorsamen Leuten zu umgeben.

Auf der anderen Seite muss man sich anschauen, wie die BRD den Aufstand politisch ausnützt. Die Gelegenheit ist zu günstig. Sobald er niedergeschlagen ist, drücken BRD-Politiker unverschämt ihre Fürsorge gegenüber den streikenden Arbeitenden aus. Sie brauchen nur fünf Tage, um die große Straße, die geradeaus zum Brandenburger Tor führt und das Symbol der deutschen Einheit und zu dieser Zeit das Symbol ihrer Teilung ist, in die Straße des 17. Juni umzubenennen. Noch ein paar Tage später wird der 17. Juni zum Nationalfeiertag erklärt, zum "Tag der deutschen Einheit". Sie gestalten Briefmarken des 17. Juni, eine von ihnen zeigt zwei hochgehobene Fäuste, die ihre Fesseln sprengen. Die Unterdrückung der Arbeitenden in der kapitalistischen Welt stört sie weniger.

Für die DDR ist das größte und sich nach Juni 1953 zuspitzende Problem der anhaltende Strom von Einwohnern, die ihr den Rücken zuwenden, um in die BRD zu gehen. Sie fliehen vor der Diktatur, der besonders autoritären Art, dem Mangel an allem. Doch für das Land ist dieser Aderlass umso dramatischer, da hauptsächlich junge Leute ausreisen. Von heute auf morgen verschwinden Dutzende von jungen qualifizierten Arbeitenden und Fachleuten von ihrer Arbeitsstelle; zuweilen gerät deswegen die Wirtschaft ins Stocken. Forscher, Ingenieure, die im Westen mit einfacheren Lebensbedingungen rechnen können, versuchen ihr Glück. In manchen Jahren verschwinden gesamte Jahrgänge junger Ärzte, die eben mit ihrem Studium fertig sind, und die nie mehr zurückkommen. Ganze Familien sind geflohen. Es war leicht, in Berlin in den westlichen Teil zu gelangen, und von dort aus gelangte man mit dem Flugzeug in jede beliebige Stadt der BRD.

Es kommt der Moment, wo dieser Zustand für das ostdeutsche Regime nicht mehr erträglich ist, und an einem Morgen im August 1961 wacht Berlin entsetzt auf. Familien, Ehepaare, Freunde sind plötzlich durch eine hermetisch abgeschlossene Grenze voneinander getrennt. Die Stadt ist erst durch Stacheldraht, dann auch noch von einer 3,50 Meter hohen Mauer in seiner Mitte durchschnitten. Die westlichen Machthaber ihrerseits verbergen ihre Erleichterung kaum. Sie akzeptierten die Mauer, die eine Art Status quo, die Stabilisierung bedeutete. Zudem waren sie nicht unzufrieden zu betonen, dass der "kommunistische" Osten, um seine Bevölkerung zu behalten, gezwungen war, sie in ein riesiges Gefängnis einzusperren...

"1968" in der BRD

Zur gleichen Zeit, Anfang der sechziger Jahre, aber auf der anderen Seite in der BRD, erreichen mit dem Prozess gegen Eichmann, einen Verantwortlichen der Judenvernichtung, und mit dem Prozess von Auschwitz die Bilder der Vernichtungslager weite Teile der Bevölkerung. Und mit dem Vietnam-Krieg entdecken viele entsetzt, dass die USA, die Meister der Demokratie und Beschützer von West-Berlin, dort einen grausamen Krieg führen. Das Ausmaß ihrer Solidarität mit dem vietnamesischen Volk entspricht dem Ausmaß ihrer Enttäuschung. Die Gründe, sich aufzulehnen, treffen einander und verstärken sich gegenseitig.

1966 verursacht die Wahl des CDU-Kanzlers Kiesinger eine heftige Auseinandersetzung. Schon 1933 war Kiesinger Mitglied der NSDAP gewesen und hatte für die Propaganda-Abteilung des Naziregimes gearbeitet. Am Tag vor seiner Wahl schrieb ihm der Schriftsteller Günter Grass in einem Protestbrief: "Wie sollen wir den gefolterten und ermordeten Widerstandkämpfern, wie sollen wir den Toten von Auschwitz und Treblinka gedenken, wenn Sie, der Mitläufer von damals, es wagten, heute und hier die Richtlinien der Politik zu bestimmen?"

Kiesinger ist alles andere als eine Ausnahme. In den höchsten politischen Ämtern, als Bundesminister- oder Ministerpräsidenten eines Landes findet man ehemalige Nazis. An den Händen mancher von ihnen klebt viel Blut. Seit fast zwanzig Jahren war Globke, der unabsetzbare Staatssekretär des Kanzlers Adenauers, dessen rechte Hand. Als hoher Beamter des Innenministeriums war er Mitverfasser eines Begleittextes über die judenfeindlichen Nürnberger Gesetze gewesen. Die Leute wissen das schon lange, aber in den sechziger Jahren ist etwas neu: Man nimmt es nicht mehr einfach hin. Manche drücken ihre Angst aus, dass diese Männer immer noch Nazis sind, die nur auf einen Anlass warten würden, um die Maske fallen zu lassen. Umso mehr, als die rechtsextreme Partei NPD eben in zwei Landtage gewählt worden ist.

1967 wendet sich das Blatt, als die Protestdemonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien mit roher Gewalt niedergeschlagen und ein Student von der Polizei erschossen wird. Dieser sinnlose Tod ist der Funke im Pulverfass. Von nun an gibt es Massendemonstrationen in der ganzen BRD. Die Empörung wird noch größer, als der Polizist, der geschossen hatte, freigesprochen wird. Und dann wird auch noch der Richter Rehse freigesprochen, der unter den Nazis Hunderte Gegner des Regimes zum Tod verurteilt hatte. Zu Zehntausenden gehen die Studenten nun auf die Straße.

Neue Fragestellungen kommen auf, über die Justiz, den Staat, und indem sie ihre Eltern ein bisschen drängen zu erzählen, kommen junge Leute zu dem berühmten: "Was haben eigentlich unsere Väter unter den Nazis getan?"

Die reaktionären Milieus, mit der Springerpresse und ihrer Bild-Zeitung, einer populistischen Tageszeitung mit einer Auflage von 4 Millionen Exemplaren, führen eine gehässige Pressekampagne gegen die Demonstranten. Bild klagt sie an, im Auftrag der Sowjetunion zu arbeiten, sie wirft ihnen das ewige: "Du kannst ja nach drüben gehen" (in die DDR) an den Kopf. Ihre Titelseiten gleichen einem Aufruf zur Lynchjustiz, mit Schlagzeilen in der Art: "Wir werden aufräumen" oder "Sollen wir alle Drecksarbeit der Polizei überlassen?" Bild leistet ihren Beitrag dazu, eine Stimmung zu schaffen, in der dann ein Geisteskranker mitten in einer Demonstration auf den Studentenführer Rudi Dutschke schießt. Dieser wird schwer verletzt.

Die Betroffenheit und Wut sind riesig. Sie fixieren sich auf die Springer-Gruppe, die für den Mord verantwortlich gemacht wird. Fast überall in der BRD wird die Auslieferung der Bild-Zeitung verhindert, ihre Gebäude werden geplündert. Die Unruhen verursachen etwa 400 Verletzte, und 2 Todesopfer in München. Ende Sommer 68 flaut die Protestbewegung wieder ab. Gleichzeitig radikalisiert sich eine kleine Gruppe, die versucht, den Verlust an Massenwirkung durch aufsehenerregende, manchmal gewalttätige Aktionen zu ersetzen. 1970 gründen Ulrike Meinhof, Andreas Baader, Gudrun Enslin und andere die Rote Armee Fraktion (RAF); nach mehreren Anschlägen werden sie 1972 verhaftet.

Anfang 1972 schrieb der Schriftsteller Heinrich Böll einen Artikel, in dem er die verleumderischen skrupellosen Methoden der Bild-Zeitung verurteilte, die eine Hexenjagd gegen die RAF begonnen hatte. Er erklärte, dass Ulrike Meinhof und ihre Freunde, die nur eine Handvoll Leute waren und nie die bestehende Ordnung gefährden konnten, aber deren Grundfesten angegriffen hatten, mit keiner Nachsicht von Seiten eines Staates würde rechnen können, der doch sogar den nazistischen Henkern verziehen hatte. Er prangerte die Tatsache an, dass viele nach 1945 ordnungsgemäß verurteilte Kriegsverbrecher auf Anraten des so tadellosen Kanzlers Adenauers heimlich aus der Haft entlassen worden waren. Böll, der gegenüber den Terroristen keineswegs nachsichtig war, wurde nun seinerseits verleumdet. Er wurde mit der RAF gleichgesetzt, im Morgengrauen wurde eine Haussuchung bei ihm durchgeführt. Empört griff er zur Feder und antwortete (zur Freude der Leser) mit seinem Roman Die verlorene Ehre der Katharina Blum. Der Staat verzieh den Mitgliedern der RAF tatsächlich nie. Ihnen gegenüber wendete die SPD, die zu dieser Zeit an der Macht war, erbarmungslose repressive Maßnahmen an. Sie erlitten die Folter der Isolationshaft, ihnen wurde in ihrem Hochsicherheitsgefängnis jegliche gesundheitliche Versorgung verweigert, bevor sie dort 1976 und 1977 tot aufgefunden wurden. Die Mitglieder, die noch nicht verhaftet worden waren, antworteten daraufhin mit der Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer.

Um zur Studentenrevolte zurückzukommen, so führte sie zu einem gewissen Rückgang des Antikommunismus und die Kommunistische Partei, die seit 1956 verboten war, wurde neu gegründet. Allgemeiner hat sie wie überall viele fortschrittliche Veränderungen im Bereich der menschlichen Beziehungen und der Frauenemanzipation angestoßen. Die nächsten Generationen sind auch in Deutschland (wie in Frankreich) Kinder der 68er. Vor allem trugen die jungen Leute mit ihrem schonungslosen Ausfragen dazu bei, dass das Land dem Völkermord und der Grausamkeit des Naziregimes ins Auge blickte. Seitdem gibt es vielleicht kein anderes Land, in dem die Erinnerung an die begangenen Verbrechen so gegenwärtig ist und wie ein ständiger Schatten über dem Land schwebt.

Ungefähr 25 Jahre nach dem Ende des Krieges wurde 1969 Willy Brandt der erste sozialdemokratische Kanzler der BRD. Er nutzt eine gewisse "Entspannung" zwischen den Großmächten aus und beginnt eine "neue Ostpolitik", die zur Unterzeichnung von Verträgen mit der UdSSR und anschließend mit Polen führt, mit denen die BRD auf die polnisch gewordenen Gebiete verzichtet. Die Rechte tut so, als würde sie sich darüber entrüsten. In Wirklichkeit liegt diese Normalisierung der Beziehungen im besten Interesse der gesamten Geschäftswelt, ermöglicht sie ihnen doch, in Osteuropa wieder festen Fuß zu fassen und einen bedeutenden Absatzmarkt zurück zu erobern.

Die Vertragsserie endet 1972 mit dem schwierigsten Vertrag, dem zwischen den beiden Deutschlands. Die Wirtschaftsverbindungen werden intensiver, die Grenze zwischen ihnen ist nicht mehr ganz so hermetisch abgeriegelt. Das heißt jedoch nicht, dass die Sozialdemokraten Sympathie für die Kommunisten gehabt hätten. Noch im selben Jahr, 1972, erlässt die SPD-Regierung die so genannten " Berufsverbote", die es Kommunisten verbietet, Beamte zu werden. Viele Lehrer, manchmal auch Postbeamte und Eisenbahner, mussten für ihre linksextremen Auffassungen mit ihrer Entlassung büßen.

1989-1990. Fall der Mauer

Ende der 80er Jahre muss Gorbatschow einsehen, dass die UdSSR ihre Kräfte damit verausgabt, die "zweite Großmacht" zu spielen und dass sie nicht mehr in der Lage ist, den Zusammenhalt des gesamten Blocks zu gewährleisten. Und er entschließt sich letztendlich dazu, seine Satelliten loszulassen.

1989 öffnet Ungarn seine Grenze mit Österreich, und die Einwohner der DDR beginnen massenweise das Land zu verlassen, um von Ungarn aus den Westen zu erreichen. Der Strom wird immer dichter, umso mehr als niemand weiß, ob dieser Weg offen bleiben wird. Das wirtschaftliche und soziale Leben ist bald lahm gelegt: Krankenhäuser, Fabriken, Verkehrsmittel, nichts funktioniert mehr wie es soll. Jeder hat in seinem Umfeld Verwandte, Bekannte, die von einem Tag auf den anderen verschwinden, und alle befürchten, sie nie mehr wieder zu sehen.

Da beginnt die Bevölkerung in der DDR wutentbrannt zu demonstrieren. Sie protestiert gegen den Wahlbetrug, für freie Wahlen, will aber vor allem auf diese Ausreisewelle reagieren. Als Antwort auf das Schlagwort der einen "Wir wollen raus", schreien die Demonstranten "Wir bleiben!". Es ist eine Herausforderung, die auch ausdrückt, dass es an der Regierung ist zu gehen und dass man versuchen muss, die Verhältnisse dort zu ändern, wo man lebt. Alle erinnern sich daran, wie alle Aufstände, der Aufstand 1953 in der DDR, der Volksaufstand 1956 in Ungarn und dann 1968 in Prag, blutig niedergeschlagen worden waren. Und die Machthaber haben eben zur Niederschlagung auf dem Tiananmen-Platz in China Beifall geklatscht. Trotzdem fordern die Demonstranten weiter "Vorrechte für alle" oder skandieren "Wir sind das Volk", gegen diese SED an der Macht, die ständig das Wort "Volk" im Mund führt. Die Regierung versinkt in der Krise, Honecker wird abgesetzt. Verzeihung, er zieht sich "aus gesundheitlichen Gründen" zurück.

Die Demonstrationen werden immer größer. Ende Oktober 89 sind es oft 300.000 in Leipzig; eine Million in Berlin am 4. November. Insgesamt hat über die Hälfte der Bevölkerung der DDR in diesen Wochen demonstriert. Nach 40 Jahren Unterwerfung gibt es so etwas wie einen Rausch, seinem Zorn freien Lauf zu lassen und zu fühlen, dass man nicht allein ist, dass man mit allen gemeinsamen Parolen ruft, sich eine andere Zukunft vorstellt, und die Machthaber niederschreit. Die Bewegung ist zugleich tiefgehend und heiter. Mit ihren Diskussionen in alle Richtungen und ihrem bedeutenden Anteil an jungen Leuten wirkt sie ein wenig wie Mai 68.

Dann, am 9. November 1989, fällt die Mauer. Tatsächlich ist es fast ein Zufall, dass sie genau zu diesem Zeitpunkt fällt. Auch das Politbüro hat sich in Glasnost, in Transparenz üben wollen, einem Bereich, in dem es allerdings keine große Erfahrung hat. Und so kündigt der Staatssekretär Schabowski bei einer Pressekonferenz aus Versehen die Öffnung der Mauer an, was dann tatsächlich ihre Öffnung auslöst.

Eine Wiedervereinigung in Lichtgeschwindigkeit

Angesichts der sich überschlagenden Ereignisse tut nun die Ost-Bevölkerung ihren Wunsch nach Vereinigung kund, der mit einem Traum von Überfluss einhergeht. Überfluss, das bedeutet manchmal so genannte exotische Obstsorten: Bananen werden zum Symbol für den Sturz der Diktatur. Die Demonstranten fangen an zu skandieren "Wir sind ein Volk" und bald "Wenn die D-Mark zu uns kommt, bleiben wir, wenn sie nicht kommt, gehen wir zu ihr".

Das Bürgertum und die politischen Kreise verstehen sehr gut, dass darin eine Art Drohung liegt und für sie liegt die dringendste Aufgabe darin, den Ansturm von Ostdeutschen in die BRD zu stoppen, die Löcher in der Mauer politisch zu stopfen. Im Übrigen, wenn sie es zu dieser Zeit gekonnt hätten, hätten sie gerne als erstes... die Mauer wieder zugemacht.

Das Beispiel von Oskar Lafontaine ist hier vielsagend. Er wird später zum Ko-Vorsitzenden der Partei Die Linke werden, aber zu dieser Zeit ist er der Kanzlerkandidat der SPD, also der Kandidat für das höchste politische Amt in der BRD. Kaum einen Monat nach dem Mauerfall schlägt Lafontaine vor, eine Aufenthaltsgenehmigung für die Ostdeutschen einzuführen: Um in die BRD einzureisen, müssten sie vorher - also vom Osten aus - eine Unterkunft und eine Arbeitsstelle gefunden haben! Das hieß so viel wie die eben abgeschafften Grenzübergänge, die Checkpoints, wieder einzuführen. Angesichts des allgemeinen Protests hat er es sich allerdings sofort anders überlegt.

Nachdem sie so viele Jahre lang Zeter und Mordio geschrien hatten über die Barbaren, die ihr Volk hinter Stacheldrähten einsperren, wäre es politisch doch problematisch gewesen, den in den Westen ziehenden Menschen Hindernisse in den Weg zu legen. So fing Kanzler Kohl dann an, eine glückliche Zukunft im Osten zu versprechen - "blühende Landschaften" wie er es nannte - um klar zu machen, dass es keinen Grund mehr zum Auswandern gäbe.

Die Machthaber fühlen sich nicht sicher: Sie haben ein Volk vor sich, das nach 40 Jahren die Freiheit erfährt, das erlebt hat, wie im Laufe weniger Wochen - in Wahrheit zwar mit Gorbatschows Hilfe, aber scheinbar durch ihre Demonstrationen - ein verabscheuter Polizeistaat zusammengebrochen ist, der unerschütterlich schien. Der so leichte Zusammenbruch der Diktatur lässt viel Freude und Begeisterung aufkommen, und zusammen mit den vielen nach dem Westen strebenden Menschen und der Perspektivlosigkeit im Osten... konnte ein explosiver Cocktail entstehen.

Die vier großen Siegermächte von 1945 schließen sich der Idee einer Vereinigung an, und die Verhandlungen werden mit verblüffender Geschwindigkeit zum Abschluss gebracht. Am 3. Oktober 1990 feiert Deutschland seine Vereinigung, und endlich wird ein Friedensvertrag unterschrieben, der nach fast einem halben Jahrhundert einen Schlussstrich unter den zweiten Weltkrieg zieht. Es bedarf noch neun weiterer Jahre und einiger Kontroversen, bevor Berlin wieder Hauptstadt wird.

... in Form einer Annexion?

Auch vom politischen Standpunkt aus herrschte das Gesetz des Siegers. Die Partei, die in der DDR an der Macht war, hatte 2,2 Millionen Mitglieder; um Karriere zu machen oder um seinen Kindern einen Studienplatz zu garantieren, war der Eintritt in die Partei empfehlenswert. Und wieder war die politische Säuberung hart für die kleinen Leute, härter noch als die, die nach der Nazizeit stattgefunden hatte. In der antikommunistischen Hysterie wurden massenhaft Beamte entlassen, ohne ihre persönlichen Umstände zu prüfen. Die Lehrer bezahlten einen hohen Preis. In den Universitäten verloren bis zu 80 Prozent der Dozenten und der Forscher ihre Arbeit. Engstirnige Politiker sahen in ihnen die wahren Gegner und erklärten, dass "die marxistische Ideologie (im Bildungswesen) auszumerzen" sei.

Schriftsteller und linke Oppositionelle protestierten auf beiden Seiten gegen diese einfache Erweiterung der BRD. Wieder einmal hatten sie, wie schon 1945, von einem "dritten Weg" zwischen Sozialismus und Kapitalismus geträumt und fühlten sich beraubt; sie hatten sich eine "Wiedervereinigung" auf einer neuen Grundlage erhofft, mit Zugeständnissen auf beiden Seiten und nicht diese Absorption des schwächeren Landes durch das stärkere. Die Oppositionellen der DDR wurden rasch zu Außenseitern gemacht. Die westlichen Medien, die den Oppositionellen zuerst den Hof gemacht hatten, waren darüber verärgert, dass diese sich nicht uneingeschränkt dem Westen anschlossen und dass sie regimekritisch blieben - diesmal allerdings gegenüber dem Kapitalismus. Die Medien hörten einfach auf, denen das Wort zu erteilen, die laut davon träumten, endlich einen wirklichen, demokratischen Sozialismus aufzubauen.

Auch ohne von Sozialismus zu sprechen, hätte man sich doch vorstellen können, dass man das, was in der DDR positiv und fortschrittlicher als in der BRD gewesen war, beibehielt. Schon 1990 konnte man sich fragen, was aus dem mehr oder wenig kostenlosen Gesundheitssystem werden würde, aus dem Zugang zu Krankenhäusern, aus den Renten, die es den älteren Menschen wenigstens ermöglichten, über die Runde zu kommen. Und seit diesem Zeitpunkt war auch voraussehbar, dass die Arbeitslosigkeit ihren Einzug halten würde und dass die Mieten mit der Ankunft der Grundstücks- und Häusermakler explosionsartig steigen würden.

Eine Politik für die Arbeiterklasse wäre da notwendig gewesen, deren Ziel es zum Beispiel gewesen wäre, das Wohnungs- und Gesundheitswesen zu verteidigen: Kämpfe zur Aufrechterhaltung möglichst vieler sozialer Rechte wären für die Arbeiterklasse vielleicht im Bereich des Möglichen gewesen. Es gab aber keine Organisation, die so etwas vorgeschlagen hätte. In einer Situation, wo der so genannte kommunistische Block zusammenbrach, wo die Wiedervereinigung unter der Leitung des scheinbar triumphierenden Kapitalismus vonstattenging, waren das Bestreben nach Freiheit und die Verlockung der D-Mark stärker.

1989-2010: Wie steht es um die Wiedervereinigung?
Die Zerstörung der ostdeutschen Wirtschaft

Die ostdeutsche Wirtschaft war in den Ostblock eingebunden, in dem es eine Arbeitsteilung gab und wo jedes Land auf ein oder mehrere Gebiete spezialisiert war. Die Industrie der DDR zeichnete sich durch eine hohe Konzentration aus: 76% der Arbeitsplätze befanden sich in Betrieben mit mehr als 1.000 Beschäftigten. Riesige Kombinate vereinigten alle Zweige eines Betätigungsfeldes. Zum Beispiel konnte ein Baukombinat einen Betrieb, der Sand förderte, ein Architekturbüro, eine Ingenieurabteilung und alle für das Bauwesen notwendigen Industrien umfassen. 1989 beschäftigten 9 von diesen Kombinaten mehr als 50.000 Lohnabhängige. 1990 begannen deren Abbau und Zerschlagung. Die teilweise Stilllegung von Kombinaten, um besonders profitable Stücke zu privatisieren, führte zu einer großen Desorganisation und verurteilte oft auch die restlichen Sektoren des Kombinats, die nur als Teile eines Ganzen lebensfähig waren.

Noch dazu betraf der Umbruch seit dem Jahre 1989 alle Länder des Ostens. Überall fielen die westlichen Kapitalisten wie die Aasgeier ein. Die DDR, die zwischen 60 und 80 Prozent ihrer Produktion nach Osteuropa exportierte, erschien den Kapitalisten der BRD als Eingangstor in diese Länder. Sie profitierten von dieser idealen Lage: Einige von ihnen kauften die Betriebe nur, um den Kundenstamm und die Auftragsbücher in die Hand zu bekommen und schlossen sie dann sofort. Um es klar zu sagen, sie kauften sie nur, um sie verenden zu lassen.

Seit dem Jahre 1989 wiederholen Politiker und Geschäftemacher immer wieder, dass die Wirtschaft der DDR am Rande des Konkurses gestanden hätte und durch 40 Jahre Planwirtschaft und Sozialismus ruiniert worden sei. Es geht ihnen dabei aber vor allem darum, ihre eigene Verantwortung daran zu vertuschen und die Art und Weise, wie sie die ostdeutsche Industrie systematisch zerstört haben.

Die erste Maßnahme war die Währungsunion, die für den 1. Juli 1990 angesetzt wurde. Anstatt einer wirklichen Union bedeutete sie nur, dass die Ostwährung paritätisch durch die Deutsche Mark ersetzt wurde, also mit einem Umrechnungskurs von 1 zu 1 für Gehälter, Pensionen und Mieten. Im Osten jubelten viele Menschen, da ihre Gehälter sich auf einmal verdreifacht oder vervierfacht zu haben schienen.

Aber es war ein vergiftetes Geschenk. Die Preise schnellten in die Höhe. Durch den brutalen und abrupten Währungswechsel waren die östlichen Produkte nicht mehr billig; von einem Tag auf den anderen verschwanden ihre Absatzmärkte. Schon deshalb, weil die traditionellen Abnehmer in Polen, in der Tschechischen Republik und der UdSSR die Preise, die sich in einer Nacht verdreifacht hatten, nicht bezahlen konnten. Man führte die Marktwirtschaft ein und nahm gleichzeitig den Betrieben ihren Markt weg. Damit war ihr Ruin von Anfang an geplant.

1990-1991 ist das Jahr des katastrophalen Zusammenbruchs der ostdeutschen Wirtschaft. Die Industrieproduktion des Landes beträgt in diesen Jahren nur mehr ein Drittel von dem, was sie vor der D-Mark war, also nur ein Jahr zuvor. Es ist ein wirtschaftliches Desaster, schlimmer als das, was das Land während des ersten Weltkriegs oder während der Krise in der dreißiger Jahren erlitten hatte. Ein Desaster, wie die moderne Geschichte kein zweites kennt. Nur einige Monate, nachdem die Arbeitenden der Freiheit begegnet sind, lernen sie die Katastrophe der Arbeitslosigkeit kennen. Schon im Jahre 1991 trifft die Arbeitslosigkeit 18 Prozent der aktiven Bevölkerung.

Eine Wirtschaftszeitung (Das Handelsblatt) beschreibt die Situation treffend: "Wenn die USA bei der Währungsreform 1948 der BRD einen Währungswechsel von 1 zu 1 zwischen dem Dollar und der deutschen Mark aufgezwungen hätten, hätte sich der Morgenthau-Plan verwirklicht, der die Verwandlung Deutschlands in eine Wüste vorsah".

Dann kommt die Treuhandgesellschaft, deren Aufgabe es ist, die ostdeutsche Wirtschaft zu privatisieren. An ihrer Spitze: hohe Manager, Industrielle und Politiker. 1990 unterstehen ihr 8.500 staatliche Betriebe, in denen insgesamt 4,1 Millionen Menschen arbeiteten.

Die Treuhand handelt ohne Umschweife und die Bevölkerung erlebt, wie vor den Kopf geschlagen, eine Welle von Privatisierungen und Betriebsschließungen von unglaublicher Gewalt. Große Betriebe werden von der Treuhand in mehr oder weniger gewinnbringende Einzelteile zerlegt. Manchmal löst sie sogar einzelne Abteilungen heraus. Dann, insgeheim und so schnell wie möglich, werden die besten Stücke den westlichen Kapitalisten angeboten und alles, was für nicht rentabel erklärt wird, wird geschlossen.

In Wirklichkeit wurde ein Betrieb fast immer für "unrentabel" erklärt, wenn er drohte, einem anderen im Westen Konkurrenz zu machen. Dann war sein Los im Reich des freien Wettbewerbs oft schon beschlossenen Sache: Der DDR-Betrieb wurde schlichtweg geschlossen. So wunderten sich manche über das Schicksal von Pentacon, einem führenden Betrieb auf dem Gebiet der Fotografie, der doch seine Apparate in die ganze Welt exportierte. Man kann nicht wirklich behaupten, dass dieser Betrieb zu alt und nicht produktiv genug gewesen wäre. Dennoch war er einer der ersten, die von der Treuhand geschlossen wurden. Seine 5.000 Beschäftigten wurden entlassen. Er gehörte zu den Betrieben, die buchstäblich zerstört wurden, um für die Hersteller der BRD Platz zu schaffen.

In anderen Fällen kauften westliche Firmen für eine symbolische D-Mark eine ähnliche Firma im Osten auf, um einen Konkurrenten auszuschalten. Continental zum Beispiel erwarb die Reifenfabrik in Plauen, schaffte alle Maschinen in seine westlichen Produktionsstätten und schloss dann das Werk.

Insgesamt handelt es sich um einen großen Ausverkauf. Betriebe, die tatsächlich privatisiert wurden, wurden in der Regel zu einem sehr niedrigen Preis verkauft, oft unter dem Wert des Grundstücks oder sogar mit Verlust. Um die staatlichen Zuschüsse zu erhalten, mussten theoretisch die Arbeitsplätze erhalten bleiben aber viele Käufer machten vor solchen Details nicht Halt, sie kassierten das Geld und entließen dann doch. Der Staat zog sie praktisch nie zur Rechenschaft.

Die Zerstörung der Wirtschaft geht erschreckend schnell und mit einer furchtbaren Gewalt vor sich. Schon 1994 sind von den 8.500 Betrieben, die der Treuhand am Anfang unterstanden, nur noch 400 übrig. Von fast 4 Millionen Beschäftigten haben 60 Prozent, zweieinhalb Millionen Menschen, ihre Arbeit verloren.

Wie hätte das anders geschehen können als im Dunkeln? Die Leiter der Treuhand, die die Käufer frei aussuchen konnten, nahmen direkt Kontakt zu Unternehmern auf, die sehr oft aus Westdeutschland kamen und manchmal ihrem Freundeskreis angehörten. Nur ein Teil der Unterschlagungen ist bekannt. Die französische Firma Elf zum Beispiel stand im Mittelpunkt eines Bestechungsskandals, der das Erdöl-Verteilernetz der ehemaligen DDR und die Raffinerie von Leuna betraf.

Bevor er Präsident der Treuhand wurde, hatte Rohwedder bereits eine ansehnliche Karriere hinter sich: Er war lange Zeit Staatssekretär der SPD gewesen, hatte massenhaft Entlassungen als Generaldirektor der Firma Hoesch vorgenommen und war dafür zum Manager des Jahres gewählt worden. Als Chef der Treuhand war er einer der bestbeschützten Männer Deutschlands, so sehr musste er den Hass seiner Opfer fürchten. Beschützt oder nicht, 1991 wurde er dennoch bei sich zu Hause erschossen, wahrscheinlich von der dritten Generation der Roten Armee Fraktion. Die Bourgeoisie fand problemlos Ersatz. Aber die Bevölkerung teilte die Wut über die Zerstörung der Wirtschaft und entlang der Straßen drohten Schilder: "Treuhandleute betreten dieses Gebiet auf eigene Gefahr".

1994 hinterließ die Treuhand, die doch eigentlich - und das wäre doch das mindeste gewesen - aus dem Verkauf all dieses Staatseigentums hunderte Milliarden hätte einnehmen müssen, dem Staat schließlich nicht nur keinen Überschuss, sondern... 130 Milliarden Schulden! Dieses Geld war allerdings nicht für alle verloren. Während die Wirtschaft im Osten zusammenstürzte, setzte sie im Westen zum Höhenflug an. Die westdeutsche Bourgeoisie war schon vorher eine der zahlenmäßig größten gewesen und sehr reich, aber in diesen Jahren stieg die Anzahl der Millionäre wie noch nie.

Eine sabotierte Wirtschaft

Einige Leute in Deutschland kritisieren die Annexion der DDR scharf; sie sprechen auch von Kolonisierung. Und in der Tat fallen die großen westdeutschen Firmen über die früheren Staatsmonopole her, aus denen man sofort Gewinn schlagen konnte und die man nicht verlagern konnte, so wie Energie-, Telefon- oder Versicherungsgesellschaften. Die Deutsche und die Dresdner Bank reißen sich im Jahre 1990 die größte Bank der DDR für 20 Milliarden D-Mark unter den Nagel - bereits 1996 hat ihnen dieses Geschäft60 Milliarden D-Mark eingebracht.

Die Bauwirtschaft erlebte nach 1990 für eine gewisse Zeit einen starken Aufschwung, der über den wirtschaftlichen Zusammenbruch hinwegtäuschte. Die Infrastrukturen wurden modernisiert, die Straßen erneuert, zahlreiche Wohnungen wurden gebaut oder saniert. Die Städte voller Kräne und Baustellen gaben den Anschein von Dynamismus und bei vielen weckten die renovierten Stadtzentren Begeisterung. Aber schon 1996 platzte die spekulative Immobilienblase, der Bausektor brach seinerseits zusammen und es wurde massenhaft entlassen. Der Boom war vollkommen künstlich gewesen. Die Baulöwen bereicherten sich an den öffentlichen Aufträgen und bauten viel zu viel: Heute stehen 1,2 Millionen Wohnungen leer, 16% des Wohnraums; und dieselben Aktionäre der Baukonzerne bekommen nun öffentliches Geld, um gesamte Straßenzüge mit leer stehenden Mietshäusern abzureißen.

Die Kapitalisten hatten sich nicht auf Ostdeutschland gestürzt, um zu investieren oder um die Wirtschaft weiter zu entwickeln. In der Regel brachten sie nicht einmal die mageren Investitionen ein, die sie bei Vertragsabschluss versprochen hatten. In den erhaltenen Betrieben wurden Massenentlassungen vorgenommen; die industriellen Hochburgen wurden zu Wirtschaftswüsten, das ganze industrielle Netz wurde zerstört.

Der Schriftsteller Rolf Hochhuth schrieb im Jahre 1993: "Ich frage mich, ob ein so scheußliches, abbruchreifes, korruptes und so wenig rentables Wirtschaftssystem wie das der DDR, das aber seine Untertanen ernährte, trotz allem nicht besser für die Menschen ist, als ein System, das sie nur auf die Straße wirft."

Währenddessen überschwemmten westdeutsche Erzeugnisse den Osten. Plötzlich hatten die Unternehmer der BRD einen Markt vor sich, der sich um Millionen von Verbrauchern vergrößert hatte, und als ob das nicht schon genug gewesen wäre, bekamen die großen Handelsketten noch großzügige Zuschüsse für ihre Verankerung auf diesem Markt, was aber natürlich den Bankrott der ostdeutschen Geschäfte bedeutete.

Die gesamte ostdeutsche Wirtschaft fiel in die Hände der Kapitalisten der BRD. Sie behielten sich dabei alles vor, was sie interessierte und Ende 1993 hatten die westdeutschen Kapitalisten 87 Prozent der privatisierten Betriebe aufgekauft. Wenn die ostdeutschen Werktätigen dagegen ihren Betrieb kollektiv übernehmen wollten, standen sie vor einem Hindernislauf und die Kassen der Treuhand, die immer großzügig für die Kapitalisten offen standen, hatten für sie kein Geld. Letztendlich haben Investoren aus der ehemaligen DDR nur 5 Prozent der Betriebe erhalten, meistens kleine Geschäfte, Wirtshäuser und Apotheken vor Ort.

Es gibt so gut wie keinen einzigen Firmensitz im Osten, und sehr wenige Zentren für Forschung und Entwicklung. Die anstrengendsten und gering qualifiziertesten Arbeitsplätze, wo es am meisten Lärm, Schadstoffe und Schichtarbeit gibt, befinden sich hingegen sehr oft im Osten... Dass der Osten "die Werkbank des Westens" ist, ist heute eine banale Feststellung geworden.

Unter dem Vorwand, den Osten wiederaufzubauen, haben die Unsummen an öffentlichen Geldern vor allem dazu gedient, die Profite der Kapitalisten "wieder aufzubauen" und ein wenig dazu, die von ihnen verursachte Arbeitslosigkeit zu dämpfen. Bundeskanzler Kohl hatte 1990 erklärt, dass die Vereinigung ohne Opfer vonstattengehen würde. Er schätzte, dass für die Angleichung der beiden deutschen Halbstaaten "ungefähr 6 Jahre" nötig seien. Seitdem ist der Abstand zwischen ihnen, anstatt sich zu verringern, immer größer geworden. Und mit der Verschärfung der Krise wird sich die Situation sicher nicht verbessern. Einige bringen die Situation auf den Punkt, wenn sie sagen: "Die Wessis waren schlauer, das Geld ist jetzt die Mauer".

Und die Bevölkerung?

Im Übrigen hört man oft die Leute sagen, dass es "die Mauer in den Köpfen noch gibt". In Wirklichkeit existieren die Ungleichheiten ganz konkret, nicht nur in den Köpfen, sondern vor allem in den tatsächlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen.

Die Bevölkerung im Westen, die im wirtschaftlich stärkeren Teil lebte und mehr Freiheiten hatte, hatte weniger unter der Teilung des Landes gelitten. Aber in der Zwischenzeit haben sich die Kapitalisten nicht damit begnügt, den Osten einzuverleiben, sie nutzen auch die Krise und den angeblich extrem hohen Preis der Wiedervereinigung aus, um allen Arbeitenden, einschließlich denen im Westen, einen noch nie dagewesenen Rückschritt aufzuzwingen.

Wir werden hier nicht die Liste aller in den letzten 20 Jahren erlittenen Verschlechterungen aufzählen. Die Unternehmer und Regierungen aller Länder kopieren sich gegenseitig und machen uns überall auf die gleiche Weise ärmer, bei den Löhnen, bei der Gesundheitsversorgung, den Renten und dem öffentlichen Dienst. Wie auch in Frankreich ist die Massenarbeitslosigkeit der Faktor, der hierbei am meisten ins Gewicht fällt. 2004 führte die Regierung Schröder (SPD) die Hartz IV-Gesetze ein, die die Arbeitslosengelder auf ein Jahr begrenzen. Danach gibt es die Sozialhilfe "Hartz IV", vergleichbar mit dem französischen RMI. Ziel von Hartz IV ist es, die Arbeitslosen zur Annahme jeder Arbeit zu zwingen, auch wenn diese viel weniger bezahlt wird, nichts mit ihrem eigentlichen Beruf zu tun hat oder weit von ihrem Wohnort entfernt ist. Dazu gehören auch die Ein-Euro-Jobs mit einem Euro Stundenlohn.

Diese Gesetze lasten auf der gesamten Arbeiterklasse, da sie den Unternehmern nutzen, die allen Lohnabhängigen immer niedrigere Löhne und schlechtere Arbeitsbedingungen aufzwingen: Prekäre Arbeitsverhältnisse, unfreiwillige Teilzeit. Leiharbeit nimmt explosionsartig zu; Beschäftigte werden entlassen, um dann wieder als Leiharbeiter in demselben Betrieb eingestellt zu werden, in dem sie vorher fest gearbeitet haben. Immer mehr Arbeitende haben zwei oder drei Jobs, um über die Runde zu kommen.

Was aber die Bevölkerung auch empört hat war, dass bei den Hartz IV-Empfängern alles, sogar ihr Sparbuch oder ihr Auto, zu ihrem Einkommen gerechnet wird, um die Unterstützung so gering wie möglich zu halten. Um das Ganze zu überwachen, wurden erniedrigende Kontrollen eingeführt - wie sie sich so gerne Leute ausdenken, die selber mit Milliarden jonglieren und auf diesem Gebiet keine Kontrolle ertragen. Manche Hartz-IV-Empfänger müssen umziehen, weil ihre Miete die erlaubte Norm um ein paar Euro übersteigt. Man bezahlt Kontrolleure, die sogar die Anzahl der Zahnbürsten im Badezimmer zählen.

Die Regierung hat auch eine zusätzliche Steuer eingeführt, die so genannte "Solidaritätssteuer" für den Osten. Politiker führen die enormen Summen an, die für den Osten ausgegeben worden seien und wiederholen in verschiedener Form immer wieder, dass "der Westen für den Osten, der noch immer am Tropf hängt und nicht gesund wird, zur Ader gelassen wird". In erster Linie hängen aber die Kapitalisten am Tropf und dadurch wird der Osten ganz bestimmt nicht gesund. Doch nur sehr wenige Stimmen prangern die Mechanismen der Wiedervereinigung als eine riesige Bereicherungsmaschine für die westliche Bourgeoisie an. Und so bezeichnen Politiker die Ostdeutschen weiter als undankbare Menschen und versuchen die Westdeutschen gegen sie aufzubringen. Die Grundlage ihrer Demagogie ist, wie immer im Kapitalismus, die Klassenkonflikte zu verwischen durch eine Konkurrenz zwischen Nationalitäten oder hier zwischen mehr oder weniger bevorzugten Regionen.

Die Unternehmer machen sich die katastrophale Situation im Osten als ständige Bedrohung für die Arbeitenden im Westen zunutze, um deren Forderungen zum Schweigen zu bringen und sie in die Knie zu zwingen. 40 Jahre lang war das Leitmotiv der Unternehmer gegenüber Menschen in der BRD, die protestierten: "Wenn ihr nicht zufrieden seid, geht doch nach drüben". Heute drohen die Unternehmer: "Wenn ihr nicht zufrieden seid, gehe ich nach drüben". Das erklärt, warum man in beiden Landesteilen manchmal wie einen Seufzer zu hören bekommt: "Ach, wenn doch die Mauer noch da wäre!" Obwohl nur wenige Leute das ernstlich wollen.

Kommen wir zum Osten. Was die Reichen betrifft, so gibt es nicht viel zu sagen. Es gibt viele Milliardäre in der BRD, aber man riskiert kaum, einem solchen im Osten zu begegnen, da keiner von ihnen dort lebt. Die Anzahl der Arbeitslosen und der Hartz IV-Empfänger ist hingegen doppelt so hoch im Osten und die Löhne liegen bei nur 75 Prozent der Westlöhne. Ein Viertel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze. Die Unternehmer benutzen die "neuen Länder", wie man den Osten nach 20 Jahren noch immer nennt, als Experimentierfeld für mehr Flexibilität, prekäre Verträge, immer mehr Schichtarbeit und unvorhersehbare Arbeitszeiten. Reinigungskräfte, Krankenpflegehelferinnen, Friseure oder Gärtner werden oft zwischen 3 und 4 Euro pro Stunde bezahlt; in den großen Handelsketten arbeiten manche ganztätig und 6 Tage pro Woche für 650 Euro im Monat.

Bereits 1991 gab es Reaktionen, zum Beispiel Streiks gegen Betriebs- und Bergwerkschließungen. Um gegen die Hartz IV-Gesetze zu protestieren, begann die Bevölkerung wieder jeden Montag zu demonstrieren, wie vor dem Fall der Mauer, indem sie den Regierenden - dieses Mal denen der BRD - wütend ihr "Wir sind das Volk" ins Gesicht schleuderte. Sie begannen zu verstehen, dass die einen wie die anderen gegen das Volk regieren.

Diese schwierige Situation und die unsichere Zukunft riefen das hervor, was seitdem als "Ostalgie" bezeichnet wurde. Dieses Gefühl verstehen einige im Westen nicht, die sich fragen, wie dieses merkwürdige Volk sein Gefängnis vermissen könne. Aber was konnten denn zum Beispiel seit 1990 die Rentner denken, denen Immobilienmakler erklärten, dass sie entweder das Vierfache der früheren Miete zu bezahlen hätten oder sonst auf die Straße geworfen würden? Oder die Familien, denen man einige Stunden gab, bevor sie ausziehen mussten, da ihre Wohnung angeblich Leuten gehörte, die eines Tages in den Westen gegangen waren?

Die Großbetriebe in der ehemaligen DDR waren eine Welt für sich, mit Kantine und Kinderbetreuung. Sie boten Ausflüge an, Theaterbesuche, kulturelle Veranstaltungen, Ferien zu unschlagbaren Preisen; aber noch dazu verfügten sie über ein Gesundheitszentrum, eine Apotheke, manchmal sogar über eine Sauna oder eine Bibliothek. Wenn man seine Stelle verlor, verlor man damit auch den Anschluss an ein ganzes soziales Leben und an viele Dinge, die das Leben erleichtern.

Die ostdeutsche Bevölkerung erlangte die Freiheit, wenn diese sich auch weitgehend als formell erwies. Sie entdeckte jedoch die lähmende Angst vor der Arbeitslosigkeit. Eine Angst, angesichts derer manche sagen, dass sie im früheren System innerhalb der Betriebe mehr Redefreiheit hatten als heute. Und letztendlich erklärt sich die Ostalgie auch dadurch, dass irgendwann der Moment kommt, wo man es satt hat, dass einem alle möglichen Leute die Leviten lesen und einem klarmachen wollen, wie sehr man sein ganzes Leben damit verbracht hätte, sich in großen und kleinen Dingen zu irren. Ein Moment, in dem man nicht mehr akzeptieren kann, dass die ganze eigene Vergangenheit nur zum Wegwerfen tauge. Wenn die Mehrheit der DDR auch nicht nachtrauert, so ist es doch klar, dass Kummer und Bitternis den Platz einnehmen, der 1989 mit Hoffnung gefüllt war.

Eine andere Tatsache bezeugt auf ihre Weise den Umbruch der ehemaligen DDR, nämlich ihre demographische Entwicklung. Der Osten, der jünger als der Westen war, erlebt eine beschleunigte Bevölkerungsalterung. Die Geburtenrate ist eingebrochen und auf einen Schlag um 60 Prozent zurückgegangen. In den neunziger Jahren hatte die ehemalige DDR die niedrigste Geburtenrate der Welt. Der einzige Ort, wo wahrscheinlich weniger Babys zur Welt kamen, war der Vatikanstaat!

Dieses Phänomen wird noch verschlimmert durch die Abwanderung in den Westen, die nie aufgehört hat. Warum sollte man eine zweimal höhere Arbeitslosigkeit und niedrigere Gehälter ertragen, wenn man 300 Kilometer weiter, ohne das Land zu verlassen, etwas Besseres finden kann? Den Betrieben des Westens fiel mit einem Mal ein enormes Reservoir an Arbeitskräften in die Hände, an jungen Leuten die die gleiche Sprache sprachen, die schon ausgebildet und wenig anspruchsvoll in Lohnfragen waren. Und wieder ist die Auswanderungswelle vollkommen ungleichgewichtig. Wieder sind es die jungen Leute, die abwandern, aber dieses Mal kommt noch ein weiteres Ungleichgewicht dazu: Die Frauen, die ihr Glück anderswo versuchen, sind erheblich zahlreicher als die Männer. Es handelt sich hier um eine absolut merkwürdige Situation, die dazu führt, dass es in einigen ostdeutschen Gebieten nur noch 80 Frauen auf 100 Männer gibt.

Die Abwanderung ihrer Bevölkerung war immer schon eines der größten Probleme der früheren DDR, aus der vor 1990 bereits 5 Millionen Menschen emigriert waren. Aber seit der Wiedervereinigung und im Gegensatz zum Kalkül der Machthaber hat sich die Flucht in den Westen nicht verlangsamt. Die neuen Länder haben noch einmal fast 2 Millionen Einwohner verloren. Die Bevölkerung sank im Jahre 2010 auf nur noch 13 Millionen (bei 82 Millionen in ganz Deutschland).

Die ländlichen Gebiete leiden besonders darunter. Die Dörfer sind menschenleer mit verlassenen Häusern und ohne ein einziges Geschäft. Die Schließung der Post und dann der Schule veranlassen die letzten Familien auszuwandern. Das ist ein Teufelskreis, denn der Bevölkerungsrückgang führt dazu, dass der Staat diese Gebiete noch mehr vernachlässigt und ihrem Schicksal überlässt, und das bereitet die nächste Auswanderungswelle vor. Auch die Städte haben viele Einwohner verloren, oft zwischen 10 und 20 Prozent, und der Kontrast zwischen den renovierten Stadtzentren mit ihren modernen Infrastrukturen und den geschlossenen Fabriken rund herum ist verblüffend. In Görlitz (Sachsen) steht fast die Hälfte der Wohnungen in der wunderbar restaurierten Altstadt leer, weil niemand die Mieten bezahlen kann, da mehr als ein Viertel der Bevölkerung arbeitslos ist.

Wenn die Ungleichheiten größer werden, bezahlen es diejenigen besonders, die am verletzlichsten sind, nicht zuletzt die Kranken, die Rentner und Frauen. In der Tat wurden die Frauen von der Wiedervereinigung mit voller Wucht getroffen. Die DDR hatte 1990 den höchsten Beschäftigungsgrad von Frauen auf der Welt (91 Prozent). Mit oder ohne Kinder, verheiratet oder nicht, sie waren unabhängig. Das Regime brauchte die Mitarbeit Aller bei der produktiven Arbeit, aber es umhüllte diese Tatsache mit Ideologie und zitierte Marx, der gesagt hatte, dass man den Entwicklungsgrad einer Gesellschaft am Emanzipationsgrad der Frauen messen könne. Infolgedessen wurde die Last der verschiedenen Aufgaben, die üblicherweise den Frauen zufallen, ein wenig auf die Gemeinschaft verteilt. Plätze in den Kinderkrippen gab es für alle Kinder in ausreichender Zahl. Im Westen, im Jahre 1990, gab es dagegen nur für 1,5 Prozent der Kinder Kinderkrippen. In der DDR war die Empfängnisverhütung kostenlos und seit dem Jahre 1972 war Abtreibung ein unantastbares Recht, wogegen sie im Westen noch immer strafbar war.

Ab 1990 verschlechterte sich die Situation der Frauen der DDR. Sie sind noch mehr als die Männer Opfer der Arbeitslosigkeit, der sozialen Unsicherheit und der Armut. Berufe, die sie früher wie selbstverständlich ausübten, wie Elektriker oder Kranführer, bleiben ihnen heute fast ganz verschlossen.

Und sie waren nicht nur das erste Opfer der wachsenden sozialen Ungleichheiten, sie mussten auch einen anderen Rückschritt erleben, nämlich was das Recht betrifft, über ihren Körper zu verfügen. Der Vereinigungsvertrag gab sich zwei Jahre Zeit, um ein Gesetz zum Schwangerschaftsabbruch zu erlassen. Bis ins Jahre 1992 existierten parallel zwei Systeme: Recht auf Schwangerschaftsabbruch in der DDR; Verbot in der BRD. Dann stimmte das Parlament dafür, den Schwangerschaftsabbruch zu erlauben, und viele Feministen stießen einen Seufzer der Erleichterung aus. Sie hatten zwar gesehen, dass der Osten sich in jeder Hinsicht nach dem Westen richtete, aber sie hatten doch gehofft, dass man das fortschrittlichere Recht wenigstens in dieser Frage anwenden würde. Viele reaktionäre Politiker wollten jedoch davon nichts hören und sie erreichten schließlich, dass der Schwangerschaftsabbruch nur für straffrei erklärt wurde. Aber straffrei sein bedeutet nicht, dass es erlaubt ist; und mit dem neuen Gesetz kam eine Kostenübernahme durch die Sozialversicherung nicht mehr in Betracht. Für die Frauen des Westens war das eine verfehlte Gelegenheit und für die aus dem Osten ein ernster Rückschritt, ein zusätzliches Unrecht. Man hatte ihnen die Freiheit in leuchtenden Farben ausgemalt, um dann die Unterdrückung wieder einzuführen.

Der Feminismus der Männer, die in der DDR an der Macht waren, war genauso wenig überzeugend wie ihr Sozialismus oder ihr Internationalismus. Es ist jedoch offenbar etwas vom Feminismus im Bewusstsein der Menschen übrig geblieben. Heute, zwanzig Jahre später, fühlt sich die Bevölkerung im Osten mehr von den Ideen einer Aufgabenverteilung im Haushalt oder von der Gleichberechtigung der Geschlechter angesprochen als die im Westen; und trotz der massiven Arbeitslosigkeit sind die Frauen weit mehr berufstätig als im Westen. Es sieht so aus, als ob die Frauen, die mit Generationen von Müttern und Großmüttern aufwuchsen, die in der feministischen Tradition der kommunistischen Führerin Clara Zetkin standen, verinnerlicht haben, dass die Emanzipierung der Frauen deren materielle Unabhängigkeit erfordert.

Auch auf dem Gebiet der Religion hat die DDR einen Rückschritt erlebt. Die Kirchen spielen im sozialen Leben der BRD eine große Rolle; sie verwalten Krankenhäuser, Altenheime, einige Schulen und einen großen Teil der sozialen Einrichtungen. Sie werden durch eine Pflichtsteuer finanziert, die zwischen 4 und 10 Prozent der Einkommenssteuer beträgt und vom Staat eingezogen wird. Jemand der "aus der Kirche austreten" will, muss dafür offizielle Schritte unternehmen und amtlich eine Austrittserklärung machen. Die Trennung zwischen Kirche und Staat hinkt also ein wenig, und in den westlichen Bundesländern gehören ungefähr 70 Prozent der Bevölkerung, zumindest formell, einer der evangelischen oder katholischen Kirchen an.

Im Osten sind die Verhältnisse genau umgekehrt: Mehr als 75% der Bevölkerung beschreibt sich als "religionslos" oder "atheistisch". Vor dem Fall der Mauer hat die Kirche dort eine oppositionelle Rolle gespielt, und man konnte denken, dass dies sie stärken würde. Das passierte jedoch nicht. Ihr Einfluss ist im Gegenteil stark zurückgegangen.

Die Ost-Länder mussten das Schulsystem der BRD annehmen, aber sie haben wenigstens versucht, den Kindern den obligatorischen Religionsunterricht zu ersparen, indem sie ihnen die Möglichkeit geben, alternativ an Sozialkundeunterricht teilzunehmen. Brandenburg wollte seinerseits gar keinen Religionsunterricht einführen. Die Kirchen schrien Zeter und Mordio, dass "der aggressive Laizismus des kommunistischen Regimes" wieder auferstehen würde. Deshalb haben seit 2002 die Schulen die Auflage, Religionsunterricht anzubieten. Natürlich lassen sich jene unter den Frömmlern, die über ihre Witze auf die Abschaffung des Studienfaches "Marxismus-Leninismus" im Osten seit 1990 so stolz sind, nicht dadurch irritieren, dass sie in die Schulen des Ostens eine Ideologie einführen, die mindestens... 1.800 Jahre älter ist.

Auch bei den Wahlergebnissen bietet Deutschland kein einheitliches Bild. Bei dieser Bevölkerung, die sich im Jahre 1989 für freie Wahlen erhob, ist die Wahlbeteiligung seit Jahren niedriger als im Westen.

Das Bemerkenswerte bei den Wahlergebnissen im Osten ist, dass die Partei des Demokratischen Sozialismus, die Nachfolgerin der herrschenden stalinistischen Partei nicht platt gewalzt worden ist. Jahrelang hatte sie gute Wahlergebnisse im Osten, aber weniger als 1% der Stimmen im Westen, wo sie als die Partei der Nostalgiker dargestellt wurde. Jedoch ist die PDS später der Ausgangspunkt für die Gründung der Linkspartei geworden, indem sie verschiedene westliche Strömungen (von der SPD enttäuschte Gewerkschafter, Arbeitslosenbewegungen und Globalisierungskritiker) zusammengeführt hat. Bei der Bundestagswahl von 2009 hat Die Linke mehr als 28% der Stimmen im Osten und durchschnittlich mehr als 8% im Westen erhalten, was genauso bedeutend ist. Es ist der Ausdruck einer reellen Unzufriedenheit.

Einige Politiker, die gegenüber der Linken wieder zu ihren antikommunistischen Ausfällen zurückkehren, ärgern sich, dass die Wiedervereinigung auch das bedeutet: antikapitalistische Slogans, Protestideen, die ein Echo im Westen finden. Durch ihre Beteiligung an der Regierung mehrerer Bundesländer hat die Linke eindeutig gezeigt, dass sie nur eine sozialdemokratische Alternative ist. Es ist jedoch trotzdem positiv für die politische Stimmung, dass zum ersten Mal seit 1949 in der Bundesrepublik eine Partei links der SPD einen ziemlich breiten Anklang findet.

Schlussfolgerung

Seit 20 Jahren ist die Geschichte der ehemaligen Volksdemokratien die Geschichte von wenig entwickelten Ländern, die wieder unter der Fuchtel der reichen westlichen Länder geraten sind, ganz wie in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Die Freiheit, die sie gefunden haben, besteht in erster Linie darin, die alten Herrschaftsbeziehungen mit den imperialistischen Ländern wieder zu ertragen.

Der Fall der DDR ist bezeichnend, weil sie ein Teil Deutschlands war und damit diese Unterwerfung nicht gekannt hatte, die die osteuropäischen Länder erlitten. Durch ihre Vergangenheit als Industriemacht war sie die am weitesten entwickelte Volksdemokratie mit der wichtigsten Wirtschaft. Doch obwohl sie seit 20 Jahren wieder ein integraler Bestandteil Deutschlands ist, erfährt sie dasselbe Schicksal wie die anderen Volksdemokratien: eine wirtschaftliche Plünderung und eine brutale Desindustrialisierung.

Sogar unter diesen scheinbar idealen Bedingungen einer vollständigen Wiedervereinigung eines Landes hat der Kapitalismus nicht zu einer Integration geführt, sondern hat im Gegenteil die Unterschiede verschärft. Wenn die Ostdeutschen darüber klagen, dass sie als Bürger zweiter Klasse behandelt werden, zeigen sie uns damit, dass innerhalb Deutschlands derselbe Gegensatz existiert wie in Europa: der Gegensatz zwischen seinem entwickelten westlichen Teil und seinem östlichen. Diese Ungleichheit ist hier besonders augenfällig, eben weil es sich innerhalb eines Landes abspielt, ohne dass man eine Grenze überqueren müsste. Die mächtigste Wirtschaft des Alten Kontinents war unfähig, dieses kleine Stück Land und seine paar Millionen Einwohner wieder zu integrieren.

1989-1990 war jeder über das Verschwinden der Mauer und der Grenze zwischen beiden Deutschlands begeistert. Aus gutem Grund; aber dieses Gefühl sagt seinerseits auch eine Menge über die Zeit aus, in der wir leben. Die Zeit der Nationalstaaten ist seit langem überholt, und sogar eine wirkliche Vereinigung von ganz Europa wäre letztlich nur die Vereinigung eines kleinen Teiles der weiten Welt. Jedoch erschien - was das Mindeste war - die Zusammenführung dieser zwei Stücke eines einzigen Landes als ein Fortschritt. Und man weiß, wie es weiter ging: Sogar in diesem Maßstab wurde die Einheit nicht wirklich vollbracht. Und für eine gefallene Mauer und eine abgeschaffte Grenze, wie viele andere Mauern, wie viele zusätzliche Grenzen sind seitdem entstanden, die weitere Völker durchschneiden?

In den seltenen Fällen, wo der Kapitalismus den Eindruck erweckt, etwas Fortschrittliches zu tun, wird er so sehr von seinem Durst nach sofortigem Profit verblendet, dass ihn dies unfähig macht, eine auch nur etwas weitere Perspektive zu verkörpern. Im Grunde ist es ohnehin kein System, das die sozialen Ungleichheiten verringert. Der Kapitalismus, der die Konkurrenz zwischen den Ausgebeuteten schüren will und sich an der Ungerechtigkeit bereichert, versucht nie, die Ungleichheiten zu überwinden. Doch die Geschichte Deutschlands zeigt uns auch, dass, seit der Kapitalismus altersschwach geworden ist, er der Menschheit wirklich nichts mehr bringen kann.

Der "Traum vom Westen" der mittel- und osteuropäischen Völker im Jahre 1990 war nichts anderes als der Wunsch, endlich ein bequemeres Leben, einen gewissen Überfluss zu erlangen. Dieser Traum wurde schnell zerstört. Der Kapitalismus ist nicht fähig, ihn zu verwirklichen, nicht einmal in den reichsten Ländern. Grenzverschiebungen werden daran nichts ändern, so sehr ist es wahr, dass der Kapitalismus Mauern aus Beton sehr gut durch Mauern aus Geld zu ersetzen weiß. Wir Revolutionäre sind davon überzeugt, dass der einzige Weg, um alle diese Mauern zu zerstören, die Umwälzung des Kapitalismus ist. Dann und erst dann wird die Menschheit fähig sein, ihre Wirtschaft zu beherrschen und zum höchsten wissenschaftlichen, medizinischen und technischen Entwicklungsniveau zu gelangen. Dann und erst dann, in einer von der Ausbeutung befreiten Welt, werden alle Völker, und insbesondere die ärmsten, Zugang zu einem Höchstmaß an materiellem und kulturellem Wohlstand haben.