Russland: hinter dem vergänglichen Glanz der "Oligarchen" (aus Lutte de Classe - Klassenkampf - von April 2006)

Εκτύπωση
Russland: hinter dem vergänglichen Glanz der "Oligarchen"
April 2006

Die vom amerikanischen Magazin Forbes soeben veröffentlichte Rangliste 2006 der Dollar-Milliardäre erwähnt nicht mehr zwei russische Ölmagnaten unter den 25 größten Vermögen der Erde, sondern nur noch einen: Roman Abramowitsch. Der zweite, Michael Khodorkowski, der reichere von beiden, ist aus der Rangliste verschwunden. In den letzten Jahren war er der "Star" der Zeitschriften, die ihn als den Prototypen der neuen Kapitalisten vorstellten, die durch die Privatisierung der russischen Wirtschaft angeblich an die Spitze gebracht wurden. Aber inzwischen hatte er einige Probleme mit der Justiz seines Landes. Wenn Forbes ihn auch aus seinen Tabellen gestrichen hat, so steht er doch auf der Liste der Strafgefangenen eines sibirischen Gefängnisses. Er verbüßt eine achtjährige Haftstrafe für "Plünderung (des Staates) in großem Umfang, Steuerhinterziehung in großem Umfang, Missachtung eines Gerichtsbeschlusses, Verstoß gegen die Interessen der Aktionäre durch Täuschung, Unterschriftenfälschung, Verschwendung des Eigentums anderer", und vor allem, weil er sich dem Klan um Putin entgegengestellt hat, der das Land regiert. Die Justiz hat ihm außerdem die Ölgesellschaft Jukos weggenommen, aus der er sein Vermögen gezogen hat, das somit in einem Jahr von acht Milliarden Dollar auf eine halbe Milliarde wie Schnee in der Sonne schmolz.

1995 hatte er beim großen Ausverkauf von Prachtstücken der russischen Wirtschaft Jukos für 350 Millionen Dollar erwerben können, obwohl sein Wert auf neun Milliarden Dollar geschätzt wurde, indem er seine engen Beziehungen zum damaligen Chef des Kremls Jelzin ausnutzte.

Fliegende Sterne

Khodorkowski, gestern noch auf der Top-25-Rangliste der Reichsten der Welt, heute hinter Riegel... Abramowitsch hat es vorgezogen, das Weite zu suchen.

Dieser Geschäftsmann, der zum Reichsten seines Landes wurde, der aber - und das ist bezeichnend für solche Leute - nicht mehr viel in Russland besitzt und vorsichtshalber im Ausland wohnt, begann seine Karriere unter der Präsidentschaft von Jelzin. Er war damals "Bankier der Familie", also der Angehörigen des damaligen russischen Präsidenten, als 1991 die Sowjetunion aufgelöst wurde. Als er 1999 spürte, dass diese Ära zu Ende ging (denn Jelzin bereitete sich auf die Übergabe der Macht vor), ließ er sich wegen der Immunität zum Gouverneur der von Moskau am weitesten entfernten Provinz Tschukotka an der Behringstraße wählen. Er wollte damit dem Kreml zeigen, dass er keinen Anspruch auf die Macht hatte. Da doppelt genäht besser hält, fügte er seiner symbolischen Entfernung von der Macht noch eine konkrete hinzu, die der Übersiedelung nach London. Er begann, fast alle seine Besitztümer in Russland loszuwerden, indem er sie an Gruppen verkaufte, die vom russischen Staat abhängig sind. Dazu gehörte Sibneft, eine Erdölfirma, deren Kapital er zu 72 Prozent kontrolliert hatte. Das Geld verschwand teilweise für kostspielige Ausgaben wie den Kauf von Luxusjachten, Pferdeställen für Rennpferde und - als große Werbemaßnahme - zum Ankauf des britischen Star-Fußballklubs Chelsea.

Damit wollte er klar zeigen, dass er von nun an seinen Ehrgeiz auf Tätigkeiten und Länder konzentrieren wollte, die mit Russland nicht mehr viel zu tun hatten. Bei der juristischen Auflösung der Ölgesellschaft von Khodorkowski, mit dem er geschäftlich verbunden war, vermied Abramowitsch alles, was der Kreml als feindlich ansehen konnte. Im Gegenteil, er nahm sich bereitwillig an allen politisch-finanziellen Manövern teil, die darauf abzielten, das Flaggschiff des ehemaligen Besitzes von Khodorkowski in den Schoß des russischen Staates zurückzuführen. So riss er das Fusionsabkommen zwischen seiner Gesellschaft Sibneft und Khodorkowskis Gesellschaft Jukos ab, das zu einem neuen Giganten nach internationalem Recht geführt hätte, falls es zustande gekommen wäre, was die Wiederübernahme des Ölsektors durch die Machtkreise im Kreml sehr erschwert hätte. Dann stimmte er dem Wiederverkauf seines Anteils von Sibneft an den Giganten Gazprom, unter Kontrolle des russischen Staates, zu.

Als Dank, da Putin beschlossen hatte, dass die Gouverneure nicht mehr gewählt werden sollten und dass er sie selbst ernennen würde - so wurden sie, wie die russische liberale Zeitschrift Nezawisimaja Gazeta es ausrückte, "zu den Verwaltern der obersten Moskauer Macht" - verlieh der russische Präsident dem in London lebenden Abramowitsch eine zweite Amtszeit als Gouverneur der Tschukotka, eines fast menschenleeren Territoriums, aber reich an Rohstoffen.

Tatsächlich wurde unter dem Dutzend der reichsten Individuen, die am Ende der neunziger Jahre die schönsten Stücke des alten sowjetischen Staatsbesitzes unter den Nagel hergefallen waren und sich damit brüsteten, Regierungen einzusetzen und abzulösen zu können, der größte Teil wieder entfernt, ins Gefängnis oder ins Exil gedrängt, je nachdem wie gefügig sie sich der aktuellen Macht gegenüber verhielten.

Der Hauptmagnat dieser vergangenen Zeit, Boris Beresowski, hatte sich 1996 "Oligarch" genannt. Er wollte sich und seinesgleichen damit nach dem Geschmack dieser Zeit als "diejenigen Wenigen, die kommandieren" bezeichnen. Das war unbescheiden und vor allem überstürzt, denn nach wenigen Monaten musste er feststellen, dass er im Gefängnis saß. Kaum war er freigelassen, zog er es vor, aus Russland zu fliehen und ging nach Großbritannien. Dort wurde er zum politischen Flüchtling. Er vermied so, an Russland ausgeliefert zu werden, obwohl die russische Justiz regelmäßig den Antrag stellt. Er musste einen großen Teil seiner alten Unternehmen an Nahestehende der neuen russischen Macht abgeben. Das gleiche passierte seinem alten Rivalen Gussinski, der jetzt sein Leidensgenosse ist: Putin steckte ihn ins Gefängnis, zwang ihn zur Herausgabe seines Medienreiches und ließ ihn nach Westeuropa entkommen. Von seiner Figur wie von seiner Macht war Lew Tschernoi, im echten wie im übertragnen Sinn des Wortes, der "Pate" des Aluminiums unter Jelzin. Von Putin wurde er gezwungen, einen Teil seiner Geschäfte zu verlassen und dann in Israel Schutz zu suchen, um einer Auslieferung zu entkommen, die nicht nur von Russland, sondern auch von den USA verlangt wurde. Mit ihm und dem Ex-KGB eng verbunden war der Geschäftemacher Arkadi Gaydamak. Er leitet den Pressekonzern Moscow News, der vom Kreml geschützt wird. Er ließ wieder von sich reden, als er Mitte März aus Tel Aviv verkündete, er habe aus Tel Aviv den französischen Konzern France-Soir gekauft. Gaydamak wird mit einem internationalen Haftbefehl von Interpol wegen Waffenschmuggel mit Angola gesucht und reist zwischen den wenigen Ländern, aus denen er die Ausweisung nicht befürchten muss. Er kann nicht mal nach Frankreich kommen und ein Exemplar der Zeitung kaufen, deren Besitzer er gerade geworden ist! France-Soir befindet sich am Rand des Ruins. Der Kauf ist für Gaydamak und seine Auftraggeber ein Mittel, um einen Teil der Geldsummen zu "waschen", die er in Russland zusammen gerafft hat. Unter den weniger bekannten und weniger bedeutenden ist Smolenski. Er hat erklärt, dass er von den herrschenden Kreisen dringend aufgefordert worden ist, sein Geschäft abzugeben. Er entschloss sich also, seine Geschäfte in Russland aufzugeben und verbringt in Frankreich seinen unfreiwilligen wie vergoldeten Ruhestand.

Das heißt aber nicht, dass die Geldmagnaten und die zugleich großen Diebe der Ära Jelzin unter Putin alle verschwunden sind; zumindest nicht ihre Finanzgruppen und diejenigen, die sich dahinten verbergen. Jelzin wurde durch diejenigen, die sich demonstrativ wie Sieger in einem eroberten Land benahmen, geschwächt; während Putin sie in Gleichschritt bringen konnte. Er konnte sogar versuchen, die Anteile des Kuchens der Privatisierung zwischen den Klanen auszugleichen, besonders zugunsten derjenigen, mit denen er verbunden ist und die in der Vergangenheit glaubten, betrogen worden zu sein. Aber Putin schaffte es nicht, alle großen Klane der Bürokratie, die Staaten im Staat bildeten, zu unterdrücken und die Teile der Wirtschaft zurückzugewinnen, die sie sich angeeignet hatten. Denn sie kontrollieren gemeinsam die wichtigsten Bereiche der Wirtschaft und haben sie in ihren Privatbesitz verwandelt. Auch wenn sich superreiche Individuen in den Vordergrund gestellt haben oder gestellt wurden, so sind dies nur Bevollmächtigte oder Vertreter dieser Klane.

Der Fall Piotr Aven ist charakteristisch: Als steinreicher Vizepräsident der Gruppe Alpha (Bank und Erdöl) scheint er eher in Gunst zu stehen. Als ehemaliger sowjetischer Außenhandelsminister - sein Stellvertreter war der jetzige Ministerpräsident Fradkow - organisierte er 1992 mit den wichtigsten Funktionären seines Ministeriums und unter dem Schutz der Chefs des KGB die Privatisierung von verschiedenen von seinem Ministerium abhängigen Firmen. Eine der rentabelsten dieser Firmen war Soyuzneftexport, spezialisiert in den Export von Erdölprodukten. Ihr Wert wurde mit einer Milliarde Dollar und Guthaben im Ausland geschätzt. Sie befand sich plötzlich für 2.000 Dollar im Besitz dieser hohen Funktionäre und ihrer Freunde im KGB. Was die Gruppe Alpha angeht, so beteiligt sie sich im Besonderen an Finanzgeschäften der Nummer Eins der Welt im Gasgeschäft Gazprom. Gazprom wiederum wurde von den Verantwortlichen des sowjetischen Ministeriums für Gas privatisiert. Man sagt, dass Alpha eines der wirtschaftlichen Aushängeschilder der Verantwortlichen des Nachrichtendienstes ist. Putin ist aus den gleichen trüben Gewässern hervorgegangen, er kann mit Aven oder dem anderen Vizepräsidenten von Alpha, Mikhail Fridman, abrechnen, den er eine Zeitlang im Visier hatte. Aber er kann mit der Gruppe Alpha selbst nicht abrechnen. Dafür hat er nicht die nötigen Mittel. Das gleiche gilt für die Gruppe Interros von Vladimir Potanin, der Vizepremierminister unter Jelzin war. Seine Gruppe wurde vor allem vom Generalstab des KGB beschützt. Ebenso geht es dem "Vater der Privatisierungen" aus der Zeit Jelzins, Anatoli Tschubais, der Präsident des Elektrizitäts-Konzerns RAO-EES geworden ist.

Was Oleg Deripaska angeht, den man unter Jelzin den König des Aluminiums nannte - er war dessen Schwiegersohn, was sehr nützlich war -, so kümmert der sich zur Zeit um Immobilien. In Moskau soll er ein Drittel des Bausektors kontrollieren. Er hat es verstanden, nach dem Klan des Ex-Präsidenten jetzt auch den des aktuellen Ministerpräsidenten für sich zu gewinnen. Vorsichtshalber wohnt er jedoch zeitweilig außerhalb von Moskau, entweder in seinem Londoner Palast oder in einer Villa, die Stalin in Gagra in Abchasien bauen ließ. Abchasien ist eine faktisch von Georgien unabhängige Republik, die als Umschlagplatz verschiedenster Geschäfte dient.

Es ist sicher nicht überraschend, "dass diese Leute über die Übernahme der Wirtschaft durch den Kreml beunruhigt sind.", wie die französische Tageszeitung Le Monde vom 21.Februar 2006 unter dem Titel "Russen und Milliardäre" es schreibt.

In der Zeit als sie ihre ersten Milliarden stahlen, also in den neunziger Jahren als sich die verschiedenen führenden Klane der Bürokratie um den Staatsbesitz schlugen, wurden diese Räuber gelegentlich als Finanziers und Industriekapitäne beschrieben. Sie seien der lebende Beweis des Auftauchens, ja des Sieges des "neuen Russlands". Dieses Russland der "neuen Reichen" habe seinen "Übergang" geschafft, versicherten gewisse Kommentatoren. Mit anderen Worten: Sie seien erfolgreich von der verstaatlichten und geplanten sowjetischen Wirtschaft zur Marktwirtschaft übergegangen, die vom Gesetz des Profits regiert werde.

Tatsächlich haben sich etwa fünfzehn Jahre nach dem Verschwinden der Sowjetunion viele Dinge geändert. Der Staat unter Putin scheint mit mehr Stärke und Willen als unter Jelzin bereit zu sein, das Kräfteverhältnis zu den großen Klanen der Bürokratie zu seinen Gunsten zu ändern. Aber es ist bemerkenswert festzustellen, dass im Verhältnis zwischen der ökonomischen und der politischen Ebene trotz vieler Ungewissheiten und plötzlichen Wendungen das letzte Wort immer von der politischen Macht gesprochen wird. In Russland dominiert der Staat, seine Entscheidungen sind bestimmend, während das Verhältnis in den bedeutenden Ländern der Weltwirtschaft sonst genau umgekehrt ist.

Die ersten Privatisierungen Russlands

Der Drang nach Bereicherung trieb die Bürokraten-Geschäftemacher-Gangster dazu, sich das sowjetische Staatseigentum anzueignen, das ist offensichtlich. Dieser Drang ist so alt wie die Bürokratie selbst. In der Vergangenheit wurde sie nur von der Angst vor dem Proletariat gebremst, dem die Bürokratie die Macht entriss und dessen Errungenschaften sie wie ein Parasit wegfraß. Dann entwickelte sich die Diktatur der politischen Spitze der Bürokratie auch über die soziale Basis der kleinen und großen Bürokraten. Mindestens seit dem Tod Breschnews 1982 schwächte der offene Machtkampf in den höheren Schichten der Bürokratie die Zentralmacht.

Der unsichere Ausgang des Kampfes zwischen dem 1985 zum Generalsekretär gewählten Gorbatschow und seinen Rivalen im Politischen Büro ließ keinen obersten Schiedsrichter auftauchen, der sich über die anderen Bürokraten erheben konnte. Das gestattete ihnen, sich ihre Unterstützung für die um die Macht kämpfenden Hierarchien des Systems bezahlen zu lassen. Das konnte den zentralen Machtapparat nur weiter schwächen. Schließlich war der zentrale Machtapparat nicht mehr in der Lage, sich den Aneignungen der Bürokraten entgegen zu stellen. Sie errangen, jeder auf seinem Niveau, ein Stück politischer Macht, die der Schlüssel zur Aneignung der Quellen der Einkünfte durch die herrschende Kaste war. Das erklärt auch die Eile, mit der die Mannschaft um Jelzin die Privatisierung von 240.000 staatlichen Firmen direkt nach dem Beschluss der Auflösung der UdSSR im Dezember 1991 beschloss.

Einige Institutionen der imperialistischen Welt, darunter die Weltbank und die BERD (die mit der Hilfe für die zentral- und osteuropäischen Länder betraute Bank, den Übergang zur Marktwirtschaft zu vollziehen und die die westlichen Konzerne unterstützen sollte, sich dort zu verankern), werfen den russischen Führern jetzt die Art vor, wie sie privatisiert haben. In einem im Jahr 2002 herausgegebenen Bericht stellt die BERD fest, dass die Produktivität der jetzt generell privatisierten russischen Firmen geringer sei als zur Zeit der UdSSR. Sie bedauert, dass "Korruption und Kriminalität, die Krankheiten aus der Zeit der UdSSR, sich mit der Privatisierung verschlimmert haben, während in der Vorstellung der Bevölkerung Reichtum dauerhaft mit Diebstahl gleichgestellt wird." Andere westliche Kritiker meinen, dieses Verschleudern der Wirtschaft sei die Ursache für die Unfähigkeit Russlands, "normal" auf der Basis des Privateigentums zu funktionieren.

Erinnern wir uns daran, dass vor etwa fünfzehn Jahren die Führer der imperialistischen Welt und hinter ihnen eine Kohorte von Politikern, Intellektuellen, "Spezialisten" wie die der BERD, des IWF und der Weltbank, sowie Journalisten den Privatisierungen und der "Schocktherapie" der russischen Herrschenden Beifall zollten! Erinnern wir uns an ihre dröhnenden Erklärungen über die blitzschnelle Wiedereinführung des Kapitalismus in Russland!

Jenseits der Lügen dieser Leute - die Lügen von gestern, als sie eine schnelle Entwicklung der privatisierten russischen Wirtschaft versprachen und die Lügen von heute, wenn sie die Verantwortung des sozialen und wirtschaftlichen Zusammenbruchs des Landes einzig und allein den "Irrtümern" der damaligen russischen Führer zuschreiben - bleibt eine unleugbare Feststellung: Russland hat nicht nur keine Entwicklungsphase auf der Basis des Privateigentums erlebt, aber seine Produktion ist deutlich rückläufig. Das gleiche gilt für die Lebensbedingungen der Mehrheit der Bevölkerung, während die Charakterzüge der Unterentwicklung des Landes deutlich hervortreten: Konzentration der Wirtschaft auf die Produktion und den Export der Rohstoffe, eine Kapitalflucht von 200 Milliarden Dollar in den zehn Jahren von 1994 - 2004; Verschärfung des Ungleichgewichts zwischen Stadt und Land und zwischen den einzelnen Regionen. (Einer von fünf Russen, vorwiegend auf dem Land, muss mit weniger als zwei Dollar pro Tag überleben, während in Moskau fast so viele Milliardäre wie in New York (33) leben).

Diese Situation hat tiefer gehende Gründe als diejenigen, die heute von den Finanzkreisen und den politischen Führern der Welt angegeben werden. Diese Gründe reichen bis in die Geschichte der UdSSR, dann Russlands und auf die Bürokratie zurück, welche die Gesellschaft beherrschte. Die Privatisierungen in der Art der Regierung Jelzin haben die Probleme verschärft, waren vor allem aber eine Konsequenz der Geschichte.

Anatoli Tschubais, der Organisator des russischen Programms der Privatisierungen, hat wiederholt erklärt, dass die sich nach 1991 an der Spitze des Staates befindenden Führer überhaupt keine Wahl gehabt hätten. Sie hatten nicht die Macht, um sich dem Prozess der Privatisierung zu widersetzen. Dieser Prozess untergrub den Staat und das Staatseigentum seit Jahren. Jelzin und seine Mannschaft nahmen diese Situation zur Kenntnis. Um diese Situation durch Gesetze unumkehrbar zu machen, suchten sie die Unterstützung derjenigen, die die Ursache dieser Situation waren und durch sie am meisten zu gewinnen hatten - die Mitglieder des Staatsapparates. Jelzin und die Seinen wussten, dass ihre Macht durch die leitende Kaste selbst in einem auf Russland verkleinerten Staat stark in Frage gestellt war.

Dafür lieferte die Regierung Jelzin den offiziellen Rahmen für den größten Raubüberfall des zwanzigsten Jahrhunderts: Die private Beschlagnahme des ex-sowjetischen Staatseigentums durch eine mehr oder weniger große Zahl von führenden Bürokraten. Sie gestattete den Wirtschaftsbürokraten sich ihren Teil der Macht anzueignen, nämlich die private Kontrolle über die Firmen, nachdem die politischen Führer der Republiken und Regionen der Sowjetunion sich schon die Territorien als ihren Teil der Macht angeeignet hatten. Dieser Prozess hatte die UdSSR in 15 Staaten gesprengt. Zum Teil war dieser Prozess wiederum gefährdet durch Spaltungstendenzen, die lokale Bürokraten schürten. Die Privatisierung der Wirtschaft sollte diese weit zurück werfen.

Ab 1992 verkündete die neue russische Führung eine "Massenprivatisierung". Sie betraf zuerst die kleinen und mittleren Betriebe. Diese Betriebe kamen meistens in die Hände ihrer früheren Direktoren, die hinter einem Teil des Personals oder hinter dem gesamten Personal versteckt waren, aber nicht immer, da jeder Bewohner Russlands einen "Privatisierungscoupon" bekommen hatte; sie kamen auch in die Hände von lokalen regionalen Politikern.

Die Privatisierung eines Ministeriums

In dieser Periode wurde der größte Betrieb des Landes privatisiert. Der Apparat des so genannten Gasministeriums der Sowjetunion, mit seinen Tausenden von mittleren und höheren Bürokraten in den Gegenden, wo die Gasfeldern oder die Gasleitungen waren, und natürlich im "Zentrum" in Moskau, beschloss mit dem Minister an der Spitze die Privatisierung der Geschäfte seines Ministeriums und schuf Gazprom. 15 Prozent der Aktien wurden für das Personal reserviert und 35 Prozent wurden bei "geschlossenen" Versteigerungen verkauft. Zu ihnen hatte nur Zugang, wer vom Führungspersonal des Ministeriums oder von seinen Vertretern in den Regionen zugelassen war. Sie konnten sich zum Schleuderpreis und ohne Risiko ein "Kontrollpaket" aneignen, wie man damals sagte. Der Staat behielt, was übrig blieb. Mit einem sehr geringen Einsatz blieb der sich weit ausdehnende Apparat des Gassektors der ex-sowjetischen Bürokratie Herr im Hause, aber jetzt in der privaten Firma. Das ging umso leichter als der ehemalige sowjetische Minister für Gas, Viktor Tschernomyrdin Premierminister wurde und es mehrere Jahre blieb.

Zu jener Zeit präsentierten Zeitschriften wie Time Tschernomyrdin als "reichsten Mann Russlands". Nach dem in der Welt gültigen Schema schrieben ihm Journalisten auf der Suche nach Sensationen das Eigentum an einem entscheidenden Teil des Kapitals des weltgrößten Produzenten, Verteilers und Lieferers von Gas zu. Er war vielleicht auf dem Papier entscheidend, aber nicht in der sozialen und politischen Realität Russlands. Ob Gazprom nun privat war oder nicht, Tschernomyrdin wurde von dem aufgehenden Stern Putin abgesetzt, der ihn aus der Direktion von Gazprom rauswarf. Er wurde durch einen Mann aus dem Petersburger Klan Putins ersetzt, wie dieser mit den "Organen" verbunden, anders gesagt mit dem Ex-KGB (der politischen Polizei und dem Geheimdienst), dessen Führer meinten, bei den Privatisierungen Jelzins einen zu kleinen Teil des Kuchens abbekommen zu haben.

Die Bürokraten-Milliardäre betreten die Bühne

Diese vermehrten sich mit dem Ausverkauf des Staatseigentums nach 1994, als der Kreml beschloss, die riesigen Industriebetriebe zu verkaufen, die noch keinen Abnehmer gefunden hatten. Kaum einer außer ihren Direktoren und den politisch Verantwortlichen der betreffenden Regionen war an der Mehrzahl dieser Betriebe interessiert. Sie waren entstanden, um auf dem Niveau eines riesigen Landes wie der Sowjetunion zu funktionieren, nach einem Plansystem, zentralisiert mit Vorgaben, Befehlen, Materiallieferungen und finanziellen Zuschüssen, um sie in Gang zu halten. Mit der UdSSR verschwand auch der Plan und jetzt waren es Giganten mit gebrochenen Flügeln. Der Zentralstaat hatte nicht mehr die Mittel, um sie in Gang zu halten, auch kein russischer oder ausländischer Investor. Auch wenn tatsächlich einer Interesse gezeigt hätte, diese gigantischen Kombinate zu übernehmen, hätte er sie zerstückeln müssen, um sie auf Profitbasis zu betreiben. Einen großen Teil des Personals hätte er auf die Straße werfen müssen. Aber das bemühten sich die lokalen Machthaber zu vermeiden. Natürlich nicht aus Sorge um die Interessen der Bevölkerung, sondern aus Angst, einen Wutausbruch zu provozieren, deren erste Opfer diese lokalen Machthaber geworden wären.

Schließlich waren es meist die ökonomischen und politischen regionalen Verantwortlichen, welche die Leitung dieser Betriebe übernahmen, wenn sie privatisiert wurden. Sie hatten die direkt oder indirekt Interessierten einer Fraktion des Staatsapparates hinter sich.

Anders lief es im äußerst rentablen Exportsektor: Öl, Aluminium, Nickel usw. Hier gab es einen richtigen Krieg zwischen den Kandidaten für die Übernahme. Manchmal bekämpften sich Gegner mit der Waffe in der Hand, Polizisten und Gangster aller Art unterstützten ein Lager gegen das andere. Entscheidend bei dem allgemeinen Durcheinander im Kampf um die fettesten Brocken der Wirtschaft aber war vor allem die Gunst des Prinzen, das heißt das grüne Licht für den einen oder anderen vom kranken Jelzin oder einem Mitglied der Familie.

Die Favoriten der Macht eigneten sich praktisch ohne Gegenleistung Fabriken wie Norilsk, die Nummer Eins in der Welt für Nickel sowie verschiedene Ölgesellschaften an. Sie nahmen alles, was am meisten, am schnellsten und ohne weitere Investitionen als Komplizen an der Führung des Staates einbrachte. Dank des 1994 begonnenen Regierungsprogramms "Darlehen für Aktien" genannt, bereicherten sich die Gussinski, Beresowski, Potatnin, Aven, Deripaska usw. an den profitabelsten Sektoren der Wirtschaft. In ihrem Schatten blieben die politischen Verwaltungsapparate, die sie antrieben und die sie repräsentierten.

Es waren nicht die Ergebnisse eines persönlichen Erfolges, wie einige Kommentatoren es glaubten oder zu glauben vorgaben. Beresowski hat sein Imperium nicht auf die gleiche Art aufgebaut wie hundert Jahre zuvor ein Rockefeller in Amerika, mit dem einige nicht zögerten ihn zu vergleichen. Rockefeller hat sich zum Industriekapitän und Finanzbaron in einem gnadenlosen Konkurrenzkampf mit den Kandidaten um die Vorherrschaft aufgeschwungen. Die Gegner waren selbst Kapitalisten, die sich auf dem fruchtbaren Grund hunderter von Firmen mit ihren Besitzern und Aktionären entwickelt hatten. Beresowski selbst ist nicht das Produkt eines solchen Prozesses der sozialen Entwicklung. In den USA gab es Hunderte von Großbürgern, Tausende von mittleren Kapitalisten und Hunderttausende von kleinen und kleinsten Kapitalisten, die schon existierten und die die Voraussetzung waren für das Auftauchen der Rockefellers, Morgans und Du Ponts. In der Sowjetunion kontrollieren die großen Firmen und Truste die verschiedenen Sektoren der Wirtschaft, und sie entstanden nicht aus einer organischen Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft. Sie entstanden im Gegenteil aus dem politischen Willen des sowjetischen Staates, dessen soziale Basis die radikale Enteignung der Kapitalistenklasse durch die proletarische Revolution war. Nach dem Verschwinden der UdSSR rafften Beresowski und Seinesgleichen nur die Betriebe und Sektoren der Wirtschaft an sich. Das war nur möglich, weil sie Komplizen in den höchsten Spitzen des Staates hatten und vor allem weil sie nur der sichtbare Teil des riesigen bürokratischen Eisberges waren, den sie repräsentierten.

Unterschriften, die alles verändern können

Mitte der neunziger Jahre hatte der russische Staat wenig Geld und lieh sich von den Bürokraten-Geschäftsleuten Geld, die zuvor die Kassen des Staates plündern durften. Der Staat verpflichtete sich zur Rückzahlung der Summen mit kräftigen Zinsen innerhalb von zwei Jahren und verpfändete ihnen die Staatsbetriebe. Der Fälligkeitstermin war 1996. Jelzin strebte eine zweite Kandidatur an, lag bei den Umfragen ganz schlecht und fürchtete, nicht mehr wieder gewählt zu werden.

Die reichen Geschäftsleute stellten also ihre Zeitungen, ihre Fernsehkanäle und viel Geld für die Wiederwahl Jeltsins zur Verfügung. Als Gegenleistung trat ihnen Jelzin nicht nur alle Fabriken die sie wollten ab, sondern nahm mit Potanin einen von ihnen in die Regierung auf, während Beresowski in den Sicherheitsrat aufgenommen wurde. Beresowski war zu Geld gekommen, in dem er in den russischen Fabriken zu billigen Preisen Autos gekauft hatte und sie im Ausland zu westlichen Preisen verkaufte. Das war nur in Zusammenarbeit mit den Behörden möglich. Er bot auch als erster in Russland den Verkauf von Autos auf der Basis von Sparverträgen an und steckte das Geld ein, ohne die Fahrzeuge zu liefern und ohne juristisch belästigt zu werden, denn er hatte ja seine Beziehungen. Er war mit dem Schwiegersohn von Jelzin liiert und raffte die Deviseneinnahmen der nationalen Fluggesellschaft Aeroflot an sich. Schließlich steckte er sich den wichtigsten öffentlichen Fernsehkanal ein und kaufte für hundert Millionen Dollar die drittgrößte Ölgesellschaft des Landes, die heute aber auf den 150 bis 200-fachen Wert geschätzt wird! In einer kürzlich ausgestrahlten Reportage über diese Zeit sagte er über die Zeit Jelzins, "dass ein Staatsmann einfach mit seiner Unterschrift bestimmen konnte, wer Besitzer von was wurde." Der Unterschreibende konnte wechseln, aber auch der Besitzer, wie Beresowski und Seinesgleichen am eigenen Leibe erfahren mussten.

Die Medien haben kaum die Möglichkeit, von den traurigen Heldentaten dieser Super-Parvenüs zu berichten. Sind sie "als Klasse liquidiert" worden, wie Putin sich ausdrückte und dabei Stalin zitierte, als der damals die reichen Bauern, die Kulaken, meinte? Im Gegensatz zu den amerikanischen "Raubbaronen" vor einem Jahrhundert - den Morgans, Rockefellers, Fords usw. - die ihre Industrie- und Finanzimperien aufbauten, entwickelten und untrennbar mit dem Kapitalismus in der imperialistischen Periode verbunden sind, sind die Superreichen der Epoche Jelzins entweder verschwunden oder machen sich zumindest vor der politischen Macht ganz klein.

Der Börsenkrach vom August 1998 in Russland sollte den Beginn des Umschwungs für diese traurigen Helden der Epoche Jelzins werden. Er brach in der Folge der internationalen Spekulationswelle aus, die den Zusammenbruch der asiatischen Finanzzentren 1997 ausgelöst hatte. Seine Ursache war vor allem auch die Plünderung der russischen Wirtschaft durch die Bürokratie während des vergangenen Jahrzehnts. Die Arbeiter, die Rentner, alle die kleinen Leute, die mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion in die Armut und Hoffnungslosigkeit abgesunken waren, sanken noch weiter ab. Das Kleinbürgertum wurde durch die Krise weggefegt, auch wenn es sich seitdem wieder etwas erholt hat. Einzig die Bürokratie und die großen Geschäftemacher profitierten weitgehend vom Wirtschaftszusammenbruch 1998.

Verschiedene Finanzmechanismen gestatteten ihnen, in altem Geld (der Rubel hatte zwei Drittel seines Wertes verloren) ihre Schulden zurück zu zahlen, die sie für die Spekulation mit den Staatsverschuldungen aufgenommen hatten. Ihre Arbeiter und Lieferanten bezahlten sie dagegen nicht mehr. Viele Spekulanten ließen ihre Firmen bankrott gehen, um sie schnell wieder unter einem anderen Namen in Gibraltar, auf den Jungferninseln oder in einer anderen Finanzoase neu zu gründen, Hauptsache sie waren außerhalb des Einflussbereiches der russischen Behörden. Für den Ausbruch der Krise waren sie zum großen Teil selbst verantwortlich. Nachdem sie in Russland alles zusammen gerafft hatten was sie konnten, versuchten die Nutznießer des Systems nicht nur ihre Beute, sondern auch alles mitgehen zu lassen, was ihnen die Fortsetzung der Plünderung garantierte, also das Eigentum an den erbeuteten Betrieben.

Die russische Wirtschaft war ruiniert, der Staat im wahrsten Sinne des Wortes pleite. Eine Plünderung dieses Ausmaßes konnte nicht weiter andauern. Es gab Versuche von oben, das zu begrenzen. 1997 hatte Tschubais die Privatisierung der Telefongesellschaft Sviazinvest unter anderen Bedingungen als zuvor organisiert. Sie wurde als die erste "transparente" Privatisierung vorgestellt. Ein internationales Konsortium und nicht die üblichen Günstlinge der "Familie" kaufte diese Gesellschaft. Der Staat nahm auf einmal viel mehr Geld als bei allen anderen Verkäufen zusammen ein. Wütend erreichten die "Oligarchen" die Entlassung von Tschubais.

Die Wirtschaft und ihre Kontrolle durch die Bürokratie

Seit er Anfang 2000 Präsident ist, sagt Putin ständig zu den Magnaten: Zahlt eure Steuern, mischt euch nicht in die Politik ein und alles wird gut gehen. Damit alle Welt verstehe, dass die Bürokraten-Geschäftemacher nicht weiter von der Schwäche des Staates profitieren könnten, ließ Putin die Treffen mit ihnen vom Fernsehen direkt übertragen. Millionen von Zuschauern konnten beobachten, wie der neue Präsident sie abkanzelte. Sie erinnerten sich an diesen Auftritt, als man ihnen in den folgenden Tagen mitten in Moskau den Besuch von Spezialkräften am Sitz dieses oder jenen großen Geschäftemachers zeigte, der dann der Veruntreuung oder Steuerhinterziehung beschuldigt wurde. Die Verfahren gegen Beresowski und Gussinski und vor allem der mit großem Spektakel angestrengte Prozess gegen Khodorkowksi waren von der Seite der zentralen Staatsmacht Etappen auf dem Weg der Disziplinierung der Superreichen. Aber man konnte das Gleiche nicht mit den Spitzen der Bürokratie machen, mit denen diese Leute eng verbunden sind.

Putin hat also unter den wichtigsten alten Favoriten seines Vorgängers aufgeräumt. Er hat die Leute neutralisiert, die ihm nichts schuldeten und von denen einige, z.B. Khodorkowksi ihn daran erinnern wollten, dass Putin ihnen seine Wahl verdankt. Die wichtigsten von diesen Privilegierten der Ära Jelzin wurden von der Bevölkerung als Diebe angesehen. Putin konnte also hoffen, dass seine Herrschaft an Popularität gewänne, wenn er einige von ihnen beseitigte. Außerdem glaubten viele Anhänger der alten Nomenklatur, die sich nicht so schnell wie diese Milliardäre bereichern konnten, dass diese Emporkömmlinge unverschämterweise die besten Plätze besetzten. Es hat Putin also kaum etwas gekostet, sich an die Bürokraten zu binden, die meinten, von einigen Neureichen geschädigt worden zu sein. Seit 2000 hat Putin die wichtigsten Posten in Politik und Wirtschaft mit den Personen seines Klans besetzt.

Unter den Männern des Präsidenten sind vor allen jene, die man, auf Russisch, "siloviki" nennt. Es sind die Mitglieder des Apparates der "Streitkräfte", also Armee, Polizei und Geheimdienste, auf die sich Putin, der aus ihrem Kreis stammt, seit Jahren stützt. Eine im Jahr 2004 veröffentlichte Studie stellte fest, dass 60 Prozent in der Umgebung Putins und ein Drittel der hohen Funktionäre aus diesem Milieu kommt. Alle sieben Super-Präfekten der Föderationen, welche die Gouverneure der Regionen beaufsichtigen sollen, sind aus dieser Gruppe. Man findet diese Leute an der Spitze der Regierung, auf den Posten des Vize-Premierministers und des Verteidigungsministers, an den entscheidenden Posten aller Firmen des riesigen militär-industriellen Sektors. Sie halten den Posten des Präsidenten von Zarubejneft, der mit der Vermarktung im Ausland beschäftigten Ölfirma, von Aeroflot, einer der bedeutendsten Fluggesellschaften der Welt, von Rosoboronexport, die sich mit dem Export von militärischem Material beschäftigt, von Almaz-Antei (Produktion von Anti-Luftabwehrmaterial), oder des Bundesdienstes für öffentliche Aufträge für Verteidigung. Dabei handelt es sich nur um einen dem Präsidenten nahe stehenden Zirkel.

Zu den "siloviki" gehören weiterhin die Leute, die man den Klan aus Sankt Petersburg nennt. Hier ist Putin geboren und hat studiert, hier wurde der für den KGB rekrutiert, hier begann er sich kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion um Politik und Wirtschaft zu kümmern. Er war damals stellvertretender Bürgermeister, der mit den internationalen wirtschaftlichen Beziehungen beauftragt war. Es ist eine alte Angewohnheit der Bürokratie, sich auf lokale Klane zu stützen. Auch Stalin rekrutierte seine ersten Anhänger gegen Lenin und Trotski aus der "Gruppe von Zarizin", die er in der gleichnamigen Stadt während des Bürgerkrieges um sich gebildet hatte. Breschnew stützte sich auf den "Klan von Dnjepropetrowsk", einer großen Industriestadt in der Ukraine, wo er sich als lokaler Verantwortlicher der Bürokratie die ersten Sporen verdient hatte.

In einem Artikel der Zeitschrift Nowaja Gazeta vom Dezember 2005 mit dem Titel "Wie Putin sich der nationalen Wirtschaft bemächtigt hat" werden die Grenzen dieses Machtzirkels unter Putin beschrieben: "Die persönlichen Freundschaften, die Ergebenheit und der Klangeist des KGB haben die größte Holdinggesellschaft Russlands entstehen lassen; ... homogen gleichzeitig durch die Auswahlkriterien ihrer Führer (alle stehen dem Präsidenten nahe) wie durch die Form des Eigentums (kollektiv)." Nachdem der Redakteur ausgeführt hat, dass der Öl- und Gassektor, der militär-industrielle Komplex und die Kernenergie, der Transportsektor und die mechanische Industrie, "die Zukunfts-Sektoren der Wirtschaft, vor allem die Gasleitungen, die Erdölleitungen und die Metallindustrie, die Mehrzahl aller dieser rentabelsten und einträglichsten Branchen der russischen Wirtschaft" von den Leuten des Präsidenten "behütet" werden, fügen die Redakteure hinzu: "Im Gegensatz zu den Oligarchen der ersten Periode besitzen die ,Freunde' des Präsidenten nichts. Sie kontrollieren."

Eine schwächliche Bourgeoisie gegen eine viel mächtigere Bürokratie

Das Bedauern dieser der liberalen Opposition zugehörigen Zeitung ändert nichts an dem gezeichneten Bild. Die Wirtschaft oder zumindest die Mehrheit der Betriebe wurde privatisiert, aber die wichtigsten von ihnen - auch wenn sie als private Firmen geführt werden - bleiben unter der Kontrolle der Männer und Klane, die den Staatsapparat kontrollieren. Als angesichts des G8-Gipfels über Energiefragen, der zum ersten Mal unter russischer Führung stattfand, beschrieb die französische Tageszeitung Libération vom 11.Februar 2006 Gazprom als "politisches Instrument in den Händen des Kremls". Sie erinnerte an den "Gaskrieg" zwischen Russland und der Ukraine und berichtete über die Tatsache, dass Gazprom wirtschaftspolitisch mächtig ist, viel mächtiger als ihr Status als private Firma von Russland es erlaubt.

In der bereits erwähnten Fernsehreportage meinte der Vorsitzende der liberalen Partei Jabloko, Grigori Javlinski, die Demokratie sei untrennbar mit der Wiedereinsetzung des Kapitalismus verbunden. Er kommentierte die Rolle der Staatsmacht bei den Privatisierungen in Russland mit den Worten: "Wenn man hundert Leute aussucht und ihnen anbietet, gemeinsam die gesamte Wirtschaft zu kontrollieren, so schafft das noch keine Klasse von Unternehmern. Das erzeugt keine Klasse, nur einen Klan."

Die von der Bürokratie gehaltene klanartige Funktionsweise der Macht angesichts einer kaum entwickelten schwächlichen russischen Bourgeoisie ist ein permanenter Rückschritt in der Funktionsweise Russlands. Es ist einer der charakteristischen Züge dafür, was aus dem Land geworden ist. Er erklärt übrigens auch, mit welcher Leichtigkeit die profitabelsten Bereiche der russischen Wirtschaft in die Hände der führenden Apparate der Staatsbürokratie zurückfielen, die am stärksten mit der politischen Zentralmacht verbunden sind, obwohl sie privatisiert wurden und es fast alle noch sind.

Bei dieser Frage ist es bezeichnend, dass es ein großes Durcheinander über die Frage gibt, wem diese Firmen gehören. Wie wir bereits festgestellt haben, haben besonders die westlichen Medien die Tendenz diese Konfusion zu verstärken. Sie verwechseln das Individuum, das an der Spitze dieser oder jener Gruppe steht. Ihm kann man, zumindest auf dem Papier, ein bedeutendes Vermögen zuschreiben, wenn man ihn als Besitzer darstellt. Sie verwechseln ihn mit dem Klan, der ihn in den Vordergrund stellt und ohne den er nichts wäre. Wenn diese Verwechslung nicht absichtlich ist um Spuren zu verwischen, so ist sie das Ergebnis der Funktionsweise der führenden und regierenden Schichten Russlands, die es nirgendwo sonst gibt. Diese "Kurzsichtigkeit" - wer besitzt was, wer kontrolliert eine Industriegruppe und wer ist formal ihr Besitzer - ist regelmäßig auch Grund für die Vorwürfe westlicher Partner der großen russischen Firmen, denn sie sind angesichts dieser nebeligen Bürokratien mit ihrem Latein oder eher Russisch am Ende. Sie freuen sich, wenn sie nicht noch mehr verlieren, wie der Direktor der russischen Ausgabe der Zeitschrift Forbes, der im Juli 2004 ermordet wurde, kurz nachdem er eine Untersuchung über die hundert größten Vermögen des Landes veröffentlicht hatte...

Diese führenden Schichten kontrollieren die rentabelsten Sektoren der russischen Wirtschaft eher als dass sie sie besitzen. Diese Exportsektoren für Rohstoffe sind für die Sanierung der öffentlichen Finanzen wichtig und generell für die Funktionsweise des Staates. 90 Prozent der russischen Exporte waren 2005 Rohstoffe und brachten mehr als die Hälfte der Steuern des Staatsbudgets ein. Die der Zentralmacht am nächsten stehenden Klane der Bürokratie haben nicht nur den Willen, sich um die Quellen der Einnahmen zu sammeln, die bisher von anderen Klanen monopolisiert wurden. Sondern das erklärt auch, dass der Zentralstaat, sobald er die Möglichkeit dazu hat, den Magnaten der vorangegangenen Periode diese Sektoren wieder wegnehmen will. In der Studie der Zeitschrift Forbes von 2004 wurde bestätigt, dass zwei Drittel des Reichtums der dreißig russischen Dollar-Milliardäre aus dem Exportsektor der Rohstoffe kommt. Die gleichen Individuen - oder zumindest die Gruppen hinter ihnen - kontrollierten 24 Prozent des russischen Inlandsprodukts.

Diese Exportsektoren von Gas, Erdöl, Diamanten, seltenen Metallen haben eine immer größere Bedeutung in der russischen Wirtschaft. Sie werden zu den Haupteinnahmen und mit ihnen können sich einige Gruppen und Individuen stark bereichern. Aber diese Sektoren tragen charakteristische Züge der Unterentwicklung. Diese Züge haben sich seit dem Verschwinden der Sowjetunion herausgebildet, die zwar nicht in allen Bereichen an der Spitze der technologischen Entwicklung stand, aber viel mehr Fertigprodukte exportierte als das heutige Russland, auch wenn sie in der Mehrzahl an die Länder ihres Machtbereichs gingen. Der Export von Werkzeugmaschinen und Ausrüstungsgegenstände beispielsweise sank 2005 um zehn Prozent. Es ist der einzige Posten der verarbeitenden Industrie, der im Export eine gewisse Rolle spielt.

Die Wirtschaft Russlands ist also wie die alle halbentwickelter Exporteure von Rohstoffen noch anfälliger geworden, denn sie ist abhängig von den Weltmärkten und ihren wechselnden Tendenzen. Indem der Staat den exportierbaren Rohstoffen den Vorrang gibt - und die werden von den der Macht nahen Männern kontrolliert - werden die finanziellen Möglichkeiten der Entwicklung anderer Sektoren vernachlässigt. So könnte eine bisher kaum gefestigte Klasse von Kapitalisten entstehen. Sie entwickeln sich wenig, denn potentielle private Investoren wissen, dass diese Sektoren auf kurze und mittlere Sicht viel weniger profitabel sind als der Bereich der Rohstoffe. Diese Rohstoffe aber sind eine echte Rente für die Reichen des Regimes.

Mit dem Anstieg der Ölpreise auf dem Weltmarkt hat sich Russland schnell von den Folgen des Zusammenbruchs 1998 erholt. Aber das Land hat immer noch nicht das Produktionsniveau aus der Zeit vor dem Verschwinden der UdSSR erreicht. Und trotz der sprudelnden Einnahmen aus dem Gas- und Ölgeschäft - unter Staatskontrolle, beziehungsweise wieder unter die Kontrolle des Staates - befindet sich Russlands Kaufkraft pro Einwohner auf dem 82. Platz der Rangliste der Weltbank. Vor ihr stehen Mexiko und Malaysia, aber auch auf dem 75. Platz die ehemalige baltische Sowjetrepublik Lettland. Sie hat zwar kein Öl, hat sich aber völlig in die Funktionsweise der kapitalistischen Weltwirtschaft eingegliedert, natürlich auf einem untergeordneten Platz gegenüber den großen europäischen Mächten.

Dem Russland Putins geht es nicht so schlecht wie zur Zeit Jelzins. Seine großen Städte ähneln manchmal den Metropolen der reichen Länder. Die Zeitschrift Forbes zählt 793 Dollar-Milliardäre in der Welt, 36 davon sind Russen, sieben mehr als ein Jahr zuvor. Diese fantastische Bereicherung Einzelner - Abramowitsch stieg innerhalb eines Jahres vom 21. auf den 11. Platz auf - wird mit der allgemeinen Verarmung der Bevölkerung bezahlt, selbst wenn die Löhne mit dem Anstieg der Rohstoffpreise regelmäßiger gezahlt werden. Sie sind sogar real um 13,2 Prozent 2004 und 8,7 Prozent 2005 gestiegen. Teilweise waren das "Nachschläge" wie am 1. Januar dieses Jahres, als die Lehrer und das Krankenhauspersonal 130 bis 150 Prozent bekamen. Das sind Bereiche, in denen die Löhne noch miserabler als in anderen Branchen waren. Gleichzeitig gibt es ein gewisses Ansteigen der Kampfkraft der Arbeiterklasse mit Streiks und Demonstrationen. Die arbeitende Bevölkerung drückte im Winter 2004/2005 ihre Unzufriedenheit mit den Folgen einer Reihe von "Reformen" aus. Die trafen durch die Streichungen im Gesundheitsbereich und bei den Verkehrsmitteln für die Rentner, Invaliden und Schüler die Schwächsten; einige Sozialleistungen, besonders im Bereich der Wohnungsversorgung wurden privatisiert. In 70 der 89 Regionen der russischen Föderation gab es Demonstrationen und Blockaden des Straßen- und Schienenverkehrs.

Das Gesetz und das wirkliche Recht

Aber fünfzehn Jahre nach dem Verschwinden der Sowjetunion funktioniert die russische Wirtschaft immer noch nicht auf der gleichen Basis wie die Wirtschaft der kapitalistischen Länder, zumindest nicht in den entscheidenden Bereichen. In den kapitalistischen Ländern bestimmt letztlich der private Charakter des Privatbesitzes an Produktionsmitteln den Gang der Gesellschaft.

Das ist nicht mal der Fehler der Bürokraten in Russland, denn sie haben zumindest versucht, den Lauf der Ereignisse vorher zu sehen. Mit dem Verschwinden der Sowjetunion haben sie Gesetze über das Privateigentum an Produktionsmitteln, am Transport und im Handel und später sogar über die Privatisierung des Bodens gemacht. In mehreren Wellen der Privatisierung haben sie das Staatseigentum versteigert. Aber auch so viele Jahre nach der Umwälzung haben sich die sichtbar werdenden neuen sozialen Verhältnisse immer noch nicht stabilisiert.

Sie haben sich nicht stabilisiert, denn es nicht ausreichend, das Recht auf Eigentum zu legitimieren und unantastbar zu machen und im Gesetz zu verankern. Das Eigentum spiegelt die sozialen Verhältnisse wider. Aber genau diesen sozialen Verhältnisse sind in Russland - noch - nicht stabil geworden. Das Gesetz hat mit der Wiederherstellung des Privateigentums an Betrieben eine Entwicklung vorausgesehen, die noch nicht eingetreten ist. Denn wenn das "Privateigentum" von einem Klan anerkannt wird, kann es von einem anderen wieder weggenommen werden.

Denn wenn in den kapitalistischen Ländern das Privateigentum seit sehr langer Zeit durch die Gesetze und die Institutionen sowie durch den sozialen Alltag verankert ist, so geht in Russland, wo der private Sektor offiziell 70 Prozent der Wirtschaft umfasst, so läuft die soziale Gewohnheit hier in die entgegengesetzte Richtung.

Hier konnte man sehen, wie der Staat, der sich theoretisch ja um die Einhaltung der Gesetze kümmern sollte, durch seinen höchsten Vertreter sich über das Recht auf Eigentum hinweg setzte, als er im Auftrag der Bürokratie und seiner Leute handelte. Das hat man auf höchster Ebene bei dem internationalen juristischen Tauziehen feststellen können. Die Holding nach dem Recht der britischen Kolonie Gibraltar, juristisch Besitzer der Ölgesellschaft Jukos und seinen Filialen, klagte gegen den Kreml. Als er im Würgegriff der russischen Polizei zu ersticken drohte, hatte Khodorkowski geglaubt, durch die Beteiligung dem Weißen Haus nahe stehender amerikanischer Staatsbürger an der Spitze einiger seiner Firmen nach ausländischem Recht dem Druck begegnen zu können. Sie haben natürlich eine Kampagne für den "armen" Khodorkowski in den westlichen Medien organisiert. Auch wenn er ein Verbrecher und ein Dieb sei, so meinten sie, so sei er nicht der Einzige und vor allem sei das Recht auf Eigentum heilig, auch wenn das Eigentum fragwürdig erworben worden sei. Wir haben gesehen, wie die Spitzen der politischen Macht der Vereinigten Staaten, der Europäischen Union, Kanadas usw. an Putin appellierten, doch bitte Khodorkowski frei zu lassen. Sie verlangten die Einhaltung der Entscheidung eines amerikanischen Gerichts, das dem russischen Gericht das Recht absprach, dem Magnaten seine Firma weg zu nehmen. Interventionen auf höchster Ebene, die Pressekampagne, die Gerichtsurteile in den USA: Nichts half, Khodorkowski verlor seine Freiheit und Jukos.

Man weiß auch, wie die Männer im russischen Staatsapparat auf allen Ebenen systematisch ihre Eingriffe und Entscheidungen gegen Schmiergeld fällen, einschließlich ihrer Festlegung des Rechts auf Eigentum. Unter diesem Gesichtspunkt liefern sie den lebendigen Beweis der erfolgreichen Privatisierung des Staates und seiner Amtsgeschäfte. Denn in Russland ist alles oder fast alles käuflich. Das ist für die Bevölkerung dramatisch, denn sie muss einen hohen Preis für die Habgier der Bürokratie bezahlen. Aber es ist auch ein großes Problem für die Anhänger einer Rückkehr - also eines Rückschritts - zur Marktwirtschaft. Denn "eine Marktwirtschaft benötigt auch einen Staat und nicht käufliche Aktivitäten um zu funktionieren: Richter und Polizeiinspekteure, die nicht vom Geld beherrscht werden", schreibt François Benaroya in seinem Anfang 2006 erschienenen Werk "L'économie de la Russie" (Die Wirtschaft Russlands). Die konkrete Erfahrung dieses Wirtschaftswissenschaftlers, der in den letzten Jahren mehrmals in Russland tätig war, hat ihm dabei geholfen, einen Wirtschaftskrimi ("Verbrechen ohne Strafe") zu schreiben, in dem hohe Bürokraten, Geschäftsleute und Gangster sich vermengen und gegenseitig ausweiden...

Russland ist sicher nicht das einzige Land in diesem Fall, aber bei der Korruption wird es von wenigen Ländern übertroffen. Aber hier ist die allgemeine Korruption nicht wie in anderen Ländern Auswuchs einer bereits bestehenden Marktwirtschaft, die mehr oder weniger funktioniert. Hier ist die Korruption ein Aspekt des räuberischen Charakters der gesamten Bürokratie. Sie ist der Ausdruck des völlig parasitären Charakters dieser sozialen Schicht. Sie hat sich vor langer Zeit wie ein Tumor in den Körper des Sowjetstaates entwickelt, der damals noch ein Arbeiterstaat war. Der Sowjetstaat ging aus der siegreichen Arbeiterrevolution im Oktober 1917 hervor, aber er degenerierte, weil die sozialistische Revolution außerhalb Russlands nicht siegen konnte, obwohl sie in zahlreichen Ländern auf der Tagesordnung stand.

Die Wiedereinführung einer Marktwirtschaft ist nicht nur eine Frage der Gesetze. Fünfzehn Jahre nach dem Verschwinden der UdSSR beklagen sich die ausländischen Investoren ständig über "die fehlende Klarheit beim Eigentumsrecht" oder "die große Unklarheit über die Eigentumsrechte und die Zukunft der Oligarchen", um nur einige Sätze aus einer Studie eines Experten für Risikoländer der Coface zu zitieren. Die Coface ist die halböffentliche Organisation die, in Frankreich, internationale Handelsabkommen versichert. Diese Situation ist in den Augen des internationalen Kapitals zu einem großen Hindernis geworden. Das führt zu einer andauernden Schwäche der ausländischen Investitionen in Russland und genau umgekehrt auch zu einer ständigen Kapitalflucht aus Russland: Die formellen Besitzer der Fabriken und die Reichen können natürlich kein Vertrauen in ihr eigenes System haben, um das hier Gestohlene auch wieder zu investieren.

Ein weiterer nicht zu unterschätzender Aspekt der Dinge befindet sich nicht in den Gesetzbüchern und Eigentumskatastern, die in Russland immer noch nicht zu Ende eingerichtet sind, sondern in den Köpfen von Millionen und Abermillionen Bürgern des Landes: Nach einer kürzlich gemachten Umfrage glauben 78 Prozent der Bevölkerung aller Schichten und Altersgruppen, dass man zumindest die Privatisierungen der großen Gruppen wieder rückgängig machen müsse. Wie Proudhon haben sie auf die Frage "Was ist Eigentum?"geantwortet: "Eigentum ist Diebstahl!" .

Wie man weiß war in den wichtigsten kapitalistischen Ländern des Westens die Entwicklung der Marktwirtschaft eine Sache von mehreren Jahrhunderten. Die hier dominierenden großen Truste wie der französische Konzern Suez sind nicht aus dem Nichts entstanden. Sie sind das Ergebnis eines sich ständig mehr verfilzenden Gewebes von kleinen, mittleren und großen Unternehmen. Unzählige kleine Firmen in Russland fehlen im Juli 2005 noch, so dass Global, das Informationsmagazin von Renault über die Produktion einiger Tausend Autos der Marke Logan in Russland berichtet. Die Fabrik Aftoframos in Moskau, die im April 2005 eingeweiht wurde und Renault und der Stadtverwaltung von Moskau gehört, "benutzt Einzelteile aus dem rumänischen CKD-Zentrum von Renault in Pitesti, das 2.000 Kilometer weit entfernt ist, ... was nicht ohne Schwierigkeiten funktioniert!". Der "Integrationsgrad der kleinen und mittleren Zulieferfirmen ist gering, so um die 25 bis 30 Prozent, denn die Kette der Zulieferer muss sich noch aufbauen." So ist es nicht verwunderlich, dass "über die Ausdehnung der Fabrik noch keine Entscheidung getroffen wurde." Wie seine Konkurrenten importiert Renault also mehr nach Russland als es dort produziert.

Die zahlreichen kleinen und mittleren Firmen gibt es in Russland nicht oder zumindest noch nicht. In den entwickelten kapitalistischen Ländern sind sie nicht nur gleichzeitig das Gerippe, die Muskeln und die Nerven der Wirtschaft. Sie haben auch das politische und soziale Leben geformt, indem sie ihre Werte wie die Rechtfertigung des Privatbesitzes und die Verherrlichung des Profits gebildet haben. Das sind die Werte der Bourgeoisie, die von einem bis zum anderen Ende des Planeten in normalen Zeiten als mehr oder weniger "natürliche" Werte der Gesellschaft anerkannt werden.

Wenn die fünfzehn Jahre, die seit dem Ende der UdSSR vergangen sind, etwas gezeigt haben, so ist es ein Fakt: Trotz der Tatsache, dass die Wirtschaft und die Gesellschaft auf kapitalistischer Basis funktionieren und trotz der Annahme von Gesetzen, die das Privateigentum garantieren, ist es nicht nur eine Frage des Rechts und des Eingreifens der Justiz. Die strengt sich auch nicht besonders an, bedauern die westlichen Investoren immer wieder. Was die Basis des Kapitalismus ausmacht, ist vor allem die allgemeine Zustimmung durch die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung zum Recht auf Eigentum. Und das ist in Russland nun wirklich nicht, oder noch nicht, der Fall.

Russland ist auch nicht ein Teil der Regionen des Planeten, die sich am Rande der allgemeinen Bewegungen des Kapitalismus befanden und die es bis heute geblieben sind. In diesen Regionen hat sich die Einführung der Marktwirtschaft unter dem Druck der Kolonialmächte und dann des Imperialismus mit seinen Konzernen vollzogen. Zu diesen Ländern gehört Russland nicht. Es ist kein unterentwickeltes Land. Im Gegenteil ist es ein Land, in der die Arbeiterrevolution es gestattete, - und nur sie konnte das - der Rückständigkeit zu entkommen, in der das Land durch das Joch des Zarismus und die Abhängigkeit von den Großmächten des europäischen Erdteiles gehalten wurde.

Was die führende Schicht angeht, die sich seit Jahrzehnten mit der sozial privilegierten Schicht der Bürokratie identifiziert, so ist sie in keiner Weise bereit, alle oder einen Teil ihrer sozialen Privilegien auf dem Altar der imperialistischen Eindringlinge zu opfern. Einige ihrer Mitglieder zögen und ziehen daraus schon Vorteile, aber der größte Teil der Bürokraten hätte dabei mehr zu verlieren als zu gewinnen. Schließlich haben Khodorkowskis Schwierigkeiten etwas mit seinen Projekten zu tun, die in Konflikt mit der Ölpolitik des Kremls und offensichtlich auch der anderen großen Erdölfirmen Russlands kommen. Das ist zum Beispiel der Bau von Erdölleitungen nach Ostasien oder die Zusammenarbeit mit den amerikanischen Trusten.

Selbst wenn die Bürokratie gewisse Vorteile vom Eintritt Russlands in die Welthandelsorganisation (WHO) hätte, wäre der zu zahlende Preis für sie dafür ungeheuer hoch. Es bedeutete die Aufgabe der Staatssubventionen für Energie usw. Es würde vor allem die Auflösung der Monopole über Rohstoffe wie Gas, Elektrizität und einige Metalle bedeuten. Aber genau die sind sehr profitabel und befinden sich in den Händen von führenden Bürokraten. Obwohl Russland mit der WHO bereits 1992 Aufnahmegespräche begonnen hat, ist sie immer noch nicht Mitglied, im Gegensatz zu anderen Staaten wie China, die viel später kandidierten und längst aufgenommen worden sind. Im letzten Dezember hat Putin dem Verlangen der WHO nach Niederlassungsfreiheit der westlichen Banken eine Absage erteilt. Die Direktionen der Tausenden von russischen Banken, die zur Organisation der Kapitalflucht gegründet wurden, hatten darüber ein heftiges Geschrei begonnen.

Die trotzkistische Analyse der Sowjetunion und Russlands bleibt aktuell

In Russland hat die Wirtschaft mehr als ein Dreiviertel-Jahrhundert nicht nach den Gesetzen des Marktes und des Profits funktioniert. Sie hat sich auf einer anderen materiellen Grundlage mit anderen Beziehungen zwischen den sozialen Gruppen entwickelt. Die proletarische Revolution hat in der sozialen und wirtschaftlichen Organisation des Landes tiefen Spuren hinterlassen. Die Menschheit hat noch keine Erfahrung mit der Art, wie nach einem solchen Einschnitt in einem Land von der Größe Russlands - es hat die größte Fläche der Welt und ist trotz des Bevölkerungsrückgangs eines der an meisten bewohnten Länder - die komplette Auflösung von all dem durchgeführt werden kann. Alles was man sagen kann ist, dass alle Versuche in dieser Richtung zu einem massenhaften sozialen und wirtschaftlichen Rückgang geführt haben und führen mussten. Das haben wir als einige der Wenigen schon nach dem Verschwinden der UdSSR betont. Man kann feststellen, dass unter den konkreten Bedingungen dieses Rückschritts die russische Gesellschaft von der Bürokratie des Staatsapparates beherrscht wird; so ist sie aus den Ruinen der UdSSR hervorgegangen. Das ist die wichtigste und bei weitem privilegierteste Schicht Russlands.

Für viele Kommentatoren bleibt Russland "nicht einschätzbar", wie in einer Studie des Französischen Instituts für Internationale Beziehungen. "Nicht klassifizierbar" jedenfalls unter den Staaten, die nach den Gesetzen der Marktwirtschaft funktionieren.

Seit ihrer Gründung hat sich unsere Tendenz auf den Kampf Trotzkis gegen den Verrat der Ideen des Kommunismus und der Errungenschaften der Oktoberrevolution durch die stalinistische Bürokratie berufen. Er hat sich an der Seite Arbeitern, die dem Bolschewismus treu blieben, am Kampf beteiligt und als revolutionärer Kämpfer die sich stalinisierende Sowjetunion analysiert. Er hat dieses neue, komplizierte und beispiellose Phänomen der UdSSR mit der charakteristischen Formulierung des degenerierten Arbeiterstaates bezeichnet.

Seit der Mitte der zwanziger Jahre hatten sich sehr viele Sachen in dem aus der siegreichen Oktoberrevolution 1917 hervorgegangenen Arbeiterstaat geändert. Es begann damit, dass dem Proletariat von der Bürokratie die Staatsmacht aus den Händen genommen wurde. Die führende stalinistische Fraktion begann systematisch alle von der Macht zu entfernen, die den Idealen des Bolschewismus treu geblieben waren. Besonders die Mitglieder in der Kommunistischen Partei, die ein Hindernis für die bürokratische Reaktion waren. Die Verhältnisse hatten sich so radikal und endgültig verändert, dass Trotzki die Degenerierung der Sowjetunion in den dreißiger Jahren als vollendet ansah.

In diesem fast Dreiviertel-Jahrhundert hat die Bürokratie das ganze Ausmaß ihrer grundlegenden konterrevolutionären und antiproletarischen Natur in der UdSSR und im internationalen Maßstab offenbart. Sicher ist sie in der vergangenen Periode noch einen zusätzlichen Schritt auf dem Weg des Rückschritts gegangen, als sie die Sowjetunion selbst aufgelöst hat. Sie befand sich in Russland und in den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken an der Spitze derjenigen, die nicht nur den Kapitalismus priesen, sondern eine Politik betrieben, die als Ziel die Wiederherstellung der Marktwirtschaft hatte.

Aber fünfzehn Jahre nach dieser neuen Wendung der Bürokratie muss man feststellen, dass viele Aspekte des wirtschaftlichen, politischen und sozialen Lebens dieses Landes unverständlich bleiben, wenn man seine Vergangenheit und insbesondere die Veränderung dieser Gesellschaft nicht versteht. Man kann überhaupt nichts verstehen, was aus ihm geworden ist, wenn man sich nicht erinnert, dass dieser degenerierte Arbeiterstaat, der sich heute wieder mit dem Kapitalismus verbündet, trotz aller neuen Veränderungen aus seiner Vergangenheit stammende charakteristische Züge behalten hat. Sie wurden bei weitem nicht alle beseitigt. Sie zeigen sich vor allen in den Schwierigkeiten, die das inzwischen für den Kapitalismus offene Russland hat, auf der Basis dieses Kapitalismus zu funktionieren.

Um die Triebkräfte und Hemmnisse dieses Prozesses richtig einschätzen zu können, muss man feststellen, dass Trotzki uns eine Analyse vererbt hat, die in ihrer Methode und Zielrichtung viel reicher als die aller anderen bekannten und vorstellbaren Theorien.

Zu seiner Zeit machte Trotzki seine Analyse für die Revolutionäre, die besonders in der Sowjetunion Erfahrung mit dem Kampf an der Spitze des Proletariats hatten. Diese Analyse Trotzkis sollte ihnen als Leitfaden für die Arbeiterklasse dienen, wenn sie trotz der Diktatur das Haupt erhebe. Sie sollte ihnen die Richtung zeigen, wie die Arbeiter zu ihren Gunsten die Widersprüche des degenerierten Arbeiterstaates wenden können, besonders bei der mangelnden Verankerung der Bürokratie in der Wirtschaft.

Das passierte aber nicht. In den letzten zwei Jahrzehnten hat es die Arbeiterklasse der Ex-Sowjetunion nicht vermocht, die Schwäche der Bürokratie zu ihren Gunsten zu nutzen.

Selbstverständlich verblasst im Laufe der Zeit das, was die Besonderheit der Sowjetunion ausgemacht hat, in der sozialen Realität und im Bewusstsein der Menschen. Mit dem schnellen Rückwärtsgang seit dem Zusammenbruch der UdSSR verblassen auch die Aufgaben und Ziele, die Trotzki im "Übergangsprogramm" für das revolutionäre Proletariat in einer von der Bürokratie dominierten UdSSR vorgeschlagen hat. Vor und nach dem Zusammenbruch der Sowjetgesellschaft gab es bedeutende Aufgaben und Ziele zu verteidigen.

Es gibt die Möglichkeit, dass es dem Proletariat nicht wieder gelingt, eine politische Kraft zu werden, die der Menschheit eine andere Alternative aufzeigen kann als den Kapitalismus mit seiner katastrophalen, irrationalen und anachronistischen Behandlung der Welt. Dann wird die Frage des Charakters der Gesellschaft und des Sowjetstaates und seines Ursprunges schließlich ihre Richtigkeit verlieren.

Aber für die Revolutionäre dient die marxistische Analyse zum Verständnis der gesellschaftlichen Realität als Anleitung zum Handeln. Sie dient nicht als Versuch, die Form der Barbarei zu erraten, die eintreten könnte, falls das Proletariat sein Haupt für eine ganze historische Epoche nicht erhebt und seine Rolle bei der notwendigen Umformung der Gesellschaft nicht spielen kann. Aber diese Frage übersteigt den Rahmen der eigentlichen Zukunft Russlands.

30. März 2006