Haiti - Die Situation der Arbeitenden

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Haiti - Die Situation der Arbeitenden
Oktober 2009

Nachstehend veröffentlichen wir zwei Artikel aus der Nummer 183 von La Voix des Travailleurs (Die Arbeiterstimme) - Monatszeitschrift, die von der Organisation der revolutionären ArbeiterInnen - Internationalistische Kommunistische Union herausgegen wird. Die Nummer wurde am 26. Juli 2009 veröffentlicht und ist hauptsächlich der Erhöhung des Mindesttageslohns auf 200 Gourdes (ungefähr 4 Euro und 5 US-Dollar) gewidmet. Der seit 2003 geltende Mindestlohn beträgt 70 Gourdes, was 1,75 Dollar und 1,40 Euro entspricht.

Der von einem Abgeordneten eingebrachte Gesetzesentwurf für die Erhöhung des Mindestlohns auf 200 Gourdes modert seit 2006 in den Schubladen des haitianischen Parlaments vor sich hin. Das Parlament, die Exekutive und die Bosse haben es ausschließlich als Diskussionsthema wahrgenommen, bis Studenten es dann im Rahmen ihrer Bewegung an der Staatsuniversität in ihren Forderungskatalog aufnahmen und im Juni und Juli bei ihren Demonstrationen in den Vordergrund rückten. Je mehr Aufsehen das Thema erregt, desto mehr geraten die Bosse in Zorn und protestieren gegen jegliche Lohnerhöhung. Wir erlebten einen wahrhaftigen Abwehrkampf gegen eine Abstimmung zugunsten der 200 Gourdes, in dem die Bosse, die Presse, den Präsidenten der Republik Préval, die Regierung und schließlich den Großteil der Parlamentarier hinter sich brachten.

Weniger als zwei Wochen nach der Veröffentlichung der nachstehenden Artikel haben die Arbeitenden der Industriezone die Bühne betreten. Am 4. August, nach einer Agitation der Studenten, gingen Tausende von Arbeitenden der Industriezone (zwischen 12 und 15.000) auf die Straßen von Port-au-Prince. Mit Ästen in den Händen konnte das erste Kontingent der Arbeiter, das die Bewegung bei Sonapi angefangen hatte (ein Industriepark, der Zulieferbetriebe zusammenfasst, die hauptsächlich für den amerikanischen Markt arbeiten) rasch Tausende von anderen mitziehen, die in jenen Fabriken arbeiten, die verstreut auf ihrer Route liegen. Wenn der Zug der ArbeiterInnen in eine Fabrik kam, um die ArbeiterInnen abzuholen, löste dies eine Explosion der Freude aus. Die Masse war wie eine Dampfwalze und wurde größer und größer.

Vor dem Parlament wurden die Demonstrationsteilnehmer unter dem Vorwand, dass Steine gegen die Polizisten geworfen worden waren, mit Knüppel, Tränengas usw. auseinander getrieben.

Am Tag darauf gingen die Demonstranten wieder auf die Straße; noch zahlreicher als am Vortag und mit noch mehr Entschlossenheit gingen sie diesmal vor den Nationalpalast, mit dem Vorhaben, die 200 Gourdes zu bekommen.

Am Montag, den 10. August, sehr früh am Morgen, verhaftete die Polizei - im Inneren des Sonapi-Parks - zwei Studenten, die gekommen waren, um ihre Solidarität zu bekunden. Geschockt gingen die Arbeiter-Demonstranten, deren Anzahl noch um Einiges angeschwollen war, vor die Polizeiwache, in das die zwei Studenten gebracht wurden, und schrien: "Befreit die Studenten und stimmt die 200 Gourdes ab". Eine wahrhaftige Flut von Menschen umgab die Wache. Der verantwortliche Beamte bekam Angst und rief Spezialeinheiten zu Hilfe, welche die Masse mit Tränengas auseinander trieben.

Durch das Verhalten der Polizisten aufgebracht, versammelten sich am nächsten Tag Tausende von Arbeitenden vor dem Sonapi-Park und begannen von Neuem ihren Marsch auf den Nationalpalast, um die unverzügliche Freilassung der Studenten und das Inkrafttreten der 200 Gourdes zu fordern. Die Mobilisierung dauerte ungefähr sieben Tage an, mit Demonstrationen, Versammlungen usw.

Am Dienstag, den 18. August wurden die beiden verhafteten und ins Staatsgefängnis überstellten Studenten freigesprochen. Am selben Tag stimmte das Abgeordnetenhaus, von denen laut einem Bericht von Eddy Jean-Pierre (ein Abgeordnete von Cap-Haitien) die meisten von der Präsidentschaft und den Bossen Schmiergeld erhalten hatten, zugunsten der Einwände von René Préval, also 125 statt 200 Gourdes, ab. Ungefähr eine Woche später stimmte der Senat mit demselben Ergebnis ab. Das Gesetz muss nun im Amtsblatt Le Moniteur veröffentlicht werden, was nicht die letzte Etappe ist, denn die Bosse werden den neuen Lohn nicht anwenden, wenn sich die Arbeitenden nicht die Mittel geben, ihn in den Fabriken durchzusetzen.

Um die 200 Gourdes zu erhalten werden also noch weitere Mobilisierungen notwendig sein. Dennoch muss festgehalten werden, dass ohne die Mobilisierung der Arbeitenden nicht einmal die 125 Gourdes abgestimmt worden wären. Die Bosse und die Regierung wollten offensichtlich Zeit gewinnen und jegliche Abstimmung über die Löhne auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben, auch weil die Mandate der Parlamentarier, vor allem der Abgeordneten, bald zu Ende sind.

DIE 200 GOURDES: EIN MINIMUM, DURCHZUSETZEN GEGENÜBER DEN HEUCHLERISCHEN, VERLOGENEN UND VOR ALLEM RAFFGIERIGEN BOSSEN

"Egal ob die Gesellschaft zugrunde geht, Hauptsache meine Profite vergrößern sich": Die haitianische Kapitalistenklasse ist sicherlich nicht die einzige, die nach diesem Credo lebt, und sie ist auch nicht die schädlichste unter ihresgleichen. Ihrer Raffgier wird durch ihre Mittel Grenzen gesetzt; sie ist weit davon entfernt, Not, Hunger und Tod im selben Ausmaß säen zu können, wie die großen Haie der weltweiten Finanz oder die großen Aktionäre der multinationalen Firmen.

In Zynismus und Verachtung gegenüber denen, die sie durch ihre Arbeit bereichern, stehen die Backer, Apaid, Coles und Sassine diesen Bossen aber in nichts nach. Die Entwicklung rund um die Abstimmung über die 200 Gourdes kann jedem Arbeitenden eine Lehre sein.

Jeder weiß, dass die aktuellen haitianischen Löhne, die zu den niedrigsten der Welt zählen, kaum ausreichen, um zu überleben. Jeder weiß, dass die Löhne der Industriezone, was ihre Kaufkraft anbelangt, seit dem Ende der Duvalier unaufhörlich gesunken sind. Und diese hatten sich nicht gerade als Wohltäter der arbeitenden Klassen erwiesen. Jeder weiß, dass das Minimum der 200 Gourdes nur ein Aufholen darstellt, das es niemanden ermöglichen würde, der Misere zu entkommen. Darüber hinaus, auch wenn die vom Parlament beschlossene Maßnahme vollkommen zur Anwendung käme, so wäre ein großer Teil der Arbeiter dieses Landes von ihr ausgeschlossen, vor allem jene, die im Landwirtschaftssektor arbeiten.

Und dennoch: Selbst diese Maßnahme, so zaghaft sie auch immer ist, löst seit ihrer Abstimmung ein Sperrfeuer der haitianischen Bosse aus. In der ersten Linie befinden sich die Bosse der Industriezone, die zu den reichsten und mächtigsten dieses Landes gehören. Mit einer nicht zu überbietenden Unverschämtheit prophezeien sie den Ruin, den Untergang des gesamten Zuliefersektors, den Abbau von mindestens 25.000 Stellen, die Standortverlagerung. Aber wohin verlagern, wenn sie nicht imstande sind, ein einziges Land dieser Hemisphäre zu nennen, in dem die Löhne so niedrig sind. In der benachbarten Republik wurde der Mindestlohn gerade auf 9 Dollar angehoben.

Diese Leute sollen kurz vor der Pleite stehen? Die Bosse der Zulieferbetriebe, die Sassine, Apaid, Boulos, Coles, Mews, Accra, Backer, besitzen noch andere Fabriken, aber auch Supermärkte, Tankstellen, Lebensmittelketten, Import-Export-Firmen, ganz zu schweigen von denen, die wie Backer, ihrer Position als große Industriebosse noch jene der großen Plantagenbesitzer hinzufügen. Gemeinsam mit Brandt, der nicht im Zuliefersektor ist, beherrschen diese acht Bosse die ganze Wirtschaft, sie gestalten sie, deformieren sie, je nach ihren Interessen. Sie sind bei Weitem mächtiger als die vorüber ziehenden Minister. Die Regierung sowie der Staatschef sind nur ihre politischen Diener.

Im Kampf gegen jede Maßnahme, die den Verfall der Situation der ArbeiterInnen bremsen könnte, mobilisieren die Bosse ihr Aufgebot von Wortführern aus der Kaste der Politiker sowie aus der Presse. Angefangen bei Préval. Ihm obliegt es, von seiner hohen Funktion als Staatschef herab, die Raffgier der Bosse des Zuliefersektors in nationales Interesse zu verwandeln. Und den Pseudo-Ökonomen steht es zu, die Presse seitenweiße mit Erklärungen zu füllen, warum 200 Gourdes für einen Tag Ausbeutung unmöglich ist! Aber wie viele von ihnen geben für ein einziges Abendessen fünfmal, zehnmal mehr aus? Wie viele von ihnen verdienen mehr für einen einzigen Tag, an dem sie die Interessen der Reichen verteidigen, an dem sie also nichts Nützliches für die Gesellschaft machen, als die Arbeiter der Industriezone für einen Monat der Warenproduktion als Lohn beziehen?

Das Lobbying der Bosse beginnt seine Wirkung zu erzielen. Wie erschreckend vor ihrem eigenen und einmaligen Mut, beginnen einige Abgeordnete, einen Rückzieher zu machen und kündigen an, dass sie den Einwänden von Préval Rechnung tragen werden, der für die Zulieferbetriebe einen Mindestlohn von 125 Gourdes vorschlägt, anstatt den vom Unterhaus beschlossenen 200 Gourdes.

Es ist vergebliche Mühe, sich Spekulationen über die Anzahl der Abgeordneten hinzugeben, denen das Minimum an Würde erhalten geblieben ist, um nicht ihre Meinung über ihre Abstimmung zugunsten der 200 Gourdes zu ändern.

Die Bosse haben die Mittel, die Bestechlichsten zu kaufen. Bei Anderen genügt vielleicht eine Abmahnung, der Druck von Seiten ihres Milieus. Vertrauen wir ihnen: Sie werden Argumente finden, um zu erklären, warum die aktuelle Wirtschaft einen Lohn von 200 Gourdes pro Tag nicht aushalten würde. Wie die Tageszeitung Le Novelliste berichtet, gibt es schon welche die hochgelehrt behaupten: "Ich bin bereit für die Einwände des Präsidenten Préval zu stimmen, wenn der private Handelssektor es schafft, mir zu beweisen, dass die 200 Gourdes wirklich eine große Anzahl von Arbeiter arbeitslos machen werden." Und der genannte "private Handelssektor", der bei der bloßen Vorstellung, er könne gebeten werden, den Abgeordneten seine Kontobücher zu zeigen, einen Aufstand machte - "Wie, aber das wird in keinem Land der Welt gemacht!", rief Boulos aus - aber entgegenkommenderweise gefälschte Bilanzen liefert, um zu "beweisen", dass sich zahlreiche Firmen seit fünf Jahren in einer Situation der Pleite befinden! Und die Abgeordneten, selbst die mutigsten und die am wenigsten käuflichsten, lassen sich von den Bossen auf so offene Art auf der Nase herum tanzen! Diener der Reichen sind sie, wie Diener werden sie behandelt.

Es liegt bei den Arbeitenden, aus diesem Gesinnungswandel die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen.

Zuallererst, dass die Zeit einer Wirtschaft, die nicht einmal fähig ist, jenen ein Lebensminimum zu garantieren, die produzieren, jenen, die zusammen mit den produzierenden Bauern die ganze Gesellschaft leben lassen, abgelaufen ist und dass sie den Platz räumen muss. Zweitens, dass man, sogar um ein Minimum an sozialer Gerechtigkeit zu erreichen - und die 200 Gourdes sind nicht mehr als das -, gegen die besitzenden Klassen radikale Maßnahmen durchsetzen muss. Das was die Boulos und Apaid nicht freiwillig den Abgeordneten geben wollen, auch wenn diese ihre Welt vertreten und dieser oft entstammen, das muss man ihnen entreißen.

Die haitianische Gesellschaft wird erst beginnen, eine soziale Veränderung zu erkennen, wenn die organisierten Arbeitenden die Kraft und den Willen haben, alle Kapitalisten, die Barone der Industriezone, jene, die Banken und den Import-Export beherrschen, zu zwingen, alle ihre Kontobücher zu öffnen und sie der Kontrolle der gesamten Bevölkerung zu unterwerfen. Nicht ihre fiktive Buchführung, die bei der Steuer angegeben und von einem Staatsapparat akzeptiert wird, der im Dienst der Reichsten ist, sondern die wirklichen Bücher, die alles beinhalten, das die Bosse, die reichen Bourgeois auf dem Rücken der Ausgebeuteten verdienen, alles, das sie dem Staat stehlen, alles, das dem Handel aller Art entstammt. Und man wird sich dann überzeugen können, dass die haitianische Wirtschaft, so arm sie auch ist, genug hat, um all jenen, die in den Betrieben der Städte und auf dem Land arbeiten, ein Minimum zu garantieren, das es ihnen ermöglicht korrekt zu leben, ihren Hunger zu stillen, angemessen zu wohnen, die Erziehung der Kinder zu garantieren.

Ja, all das ist möglich, all das könnte schnell verwirklicht werden. Unter der Bedingung, dass der Kapitalistenklasse die Möglichkeit genommen wird, hier in Haiti oder im Ausland den Großteil der Bevölkerung Not leiden zu lassen, um die eigenen Bankkonten zu füllen. Unter der Bedingung, dass den Bossen der Industrie-, Handels- und Bankunternehmen ihre absolute Macht über die Wirtschaft genommen wird, dass sie der Kontrolle der Bevölkerung unterworfen werden.

AUSBEUTER, LÜGNER, BLUFFER, DIE BOSSE ZEIGEN DER ÖFFENTLICHKEIT IHR WAHRES GESICHT

Nur sehr wenige kennen die Wirklichkeit der Arbeitsbedingungen der FabrikarbeiterInnen, besonders in den Fabriken der Zulieferbetriebe in der Industriezone von Port-au-Prince. Aus verschiedenen Gründen galt dieser Kategorie von Arbeitenden niemals die Aufmerksamkeit einer Gesellschaftsschicht, auch nicht jener der so genannten linken Organisationen, die sie unter dem Vorwand ignorierten, dass die Arbeiterklasse nicht existiert oder, dass sie zahlenmäßig weniger Gewicht hat als die Bauernschaft. Andere behaupten, dass sie nicht fähig sei, der Bourgeoisie und ihren Helfern an der Macht die Stirn zu bieten, und so weiter und so fort. Tatsächlich sind diese Arbeitenden ein gefügiges Kanonenfutter für die Bosse, die ihr Blut saugen so gut es geht, um ihr Kapital zu vergrößern. Großteils aus der Bauernschaft stammend, ohne jegliche Tradition der Organisation, sterben diese Arbeitenden wie Hunde und in allgemeiner Gleichgültigkeit, nachdem sie den größten Teil ihrer Zeit damit verbracht haben in den Fabriken zu schuften.

Der Debatte über den Gesetzesentwurf von Steeven Benoit bezüglich der Anhebung des Mindestlohns um 200 Gourdes im Parlament und vor allem der Unterstützung dieses Gesetzes durch die Studenten der Staatsuniversität von Haiti ist es zu verdanken, dass die Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeitenden in den Fabriken und in den Vierteln in den Vordergrund der Aktualität gerückt wurden. Aber jene, die man den ganzen Tag in der Presse wahrnimmt, das sind leider nicht die Arbeitenden, sondern vielmehr die Bosse, die zum Nationalpalast, zum Parlament kommen, um über diesen Gesetzesentwurf herzuziehen indem sie drohen, ihre Fabriken zu schließen und dabei die Arbeiter zu entlassen. Auch der Präsident der Republik, der bei der Verteidigung der Sichtweise der Bosse noch nie so redegewandt war, auch die Journalisten, die Ökonomen, die sich gegen den Radikalismus einiger Abgeordneten wenden, die die Wirtschaft des Landes vernichten wollen indem sie an diesem Gesetzesentwurf festhalten, wie sie nicht müde werden wiederzukäuen.

Diejenigen, die, wie die Studenten und einige Abgeordneten, aus Menschlichkeit den Gesetzesentwurf von Steeven unterstützen, wissen nicht, dass nur die Mobilisierung, die Organisation und das Erlangen von Bewusstsein der Arbeiter selbst die Bosse dazu bringen können, nachzugeben. Während die Studenten ihre Unterstützung auf der Straße bekunden, verbreiten die Bosse, die sich über eine völlige Ruhe in den Fabriken freuen können, weiterhin tonnenweise Lügen in der Presse; sie beschwören weiterhin das Schreckgespenst eines vollkommenen Debakels der Wirtschaft, für den Fall, dass sich die Parlamentarier nicht zusammennehmen, falls sie ihre Entscheidung, den Mindestlohn auf 200 Gourdes pro Tag anzuheben, nicht zurücknehmen.

Bateys im Herzen von Port-au-Prince

(«Bateys» sind Ghettos, die eingerichtet wurden, um ursprünglich die haitianischen ArbeiterInnen auf den Rohrzuckerplantagen der Dominikanischen Republik zu beherbergen.)

Wenn die Menschenrechtsorganisationen, die Organisationen der Zivilgesellschaft, die Politiker von Haiti keine Gelegenheit auslassen und zur Stelle sind, wenn ein Haitianer außerhalb des Landes Opfer von Ungerechtigkeit oder Missbrauch ist, wenn sie sich regelmäßig, eingehüllt in ihre Nationalfarben blau und rot, zum Kampf formieren, um in der Presse zu toben und manchmal auf der Straße marschieren, so geben dieselben Organisatoren bei ihnen in Haiti vor, die Ungerechtigkeiten, die Ausbeutung und die Not, denen die große Mehrheit der Arbeitenden und die Massen der Armen in Haiti unterworfen sind, nicht zu sehen oder nichts davon zu wissen.

Die Situation der Arbeitenden in der Industriezone erinnert in vielen Aspekten an jene, die die Haitianer in den Bateys der Dominikanischen Republik leben; der einzige Unterschied besteht darin, dass dies hier bei ihnen, in ihrem eigenen Land geschieht. Es ist nicht unerheblich, zu unterstreichen, dass die Arbeitenden der Bateys seit 2008 108 Gourdes täglich verdienen, während es in Haiti 70 Gourdes sind.

In der Industriezone dauert ein Arbeitstag im Durchschnitt 11 Stunden. Unter dem Vorwand, dass Arbeitsquoten erfüllt werden, deren Preis kaum über dem Mindestlohn liegt, verlassen die Arbeiter die Fabriken erst um sechs Uhr abends obwohl der Tag um sechs Uhr morgens begonnen hat. Manchmal, wenn die Bosse einen dringenden Auftrag zu erledigen haben, werden die Arbeiter mit Waffengewalt dazu gezwungen, bis zehn Uhr abends zu bleiben, wobei der Boss sich nicht einmal die Mühe macht, ein Transportmittel zu finden, um sie nach Hause zu bringen. Im Dezember 2008, wurden die ArbeiterInnen von InterAmerican Taylor, im Besitz der Familie Apaid, um zwei Uhr morgens entlassen. Einer von diesen ArbeiterInnen wurde, während er zu Fuß nach Hause ging, von Anwohnern eines Viertels gelyncht, die ihn für einen Einbrecher hielten, auch nachdem er seinen Arbeitsausweis gezeigt hatte. Mehrere Arbeiterinnen wurden in dieser Nacht vergewaltigt.

Die ArbeiterInnen haben nicht das Recht, sich zu organisieren. Für die Bosse sind sie Arbeitstiere, was zählt ist einzig und allein ihre Arbeitskraft. All jene Arbeitenden, die sich aufgeweckt zeigen, die den Eindruck erwecken, dass sie einen Einfluss auf ihre Kollegen haben können, werden systematisch entlassen. Den ArbeiterInnen ist es ausdrücklich verboten, die Betriebszeitungen zu lesen, die sich in den Fabriken an sie richten. Das ist ein mehr als ausreichender Grund, um entschädigungslos entlassen zu werden. Die Bosse schaffen ein Klima der Denunziation, der permanenten Verdächtigung, der Spaltung, um jede Idee einer Organisierung im Keim zu ersticken.

Es gibt keine Kantine, die Arbeiter essen ihr "Chen Janbe" vor ihren jeweiligen Fabriken, in einer makaberen Umgebung aus Staub, Dreck, stehende Wasser, Krempel usw. Es ist nicht selten, dass manche von ihnen von den Autos der Bosse umgefahren werden, die sich wenig um die Anwesenheit von Arbeiternden am Straßenrand kümmern.

Die Toiletten in den Fabriken sind, falls vorhanden, in einem jämmerlichen Zustand. Es gibt oft kein Wasser, um die Kloschüsseln zu reinigen, auch kein Papier. Die Arbeitenden verwenden oft Stoffabfälle in Ermangelung von Papier; die Arbeiterinnen verwenden sie auch ständig wenn sie ihre Menstruation während des Tages haben. Es ist noch nicht sehr lange her, dass eine so große Firma wie Brasserie Nationale Toiletten für die Arbeitenden anfertigen ließ, die bis dahin ihre Notdurft am Boden, in der Nähe einer Schlucht verrichtet hatten.

Es gibt keinen Jahresurlaub, die Bosse der Zulieferbetriebe gewähren den Arbeitenden jedes Jahr Ende Dezember einige Ferientage, ansonsten werden diese gezwungen, an allen Feiertagen zu arbeiten, auch sonntags, wenn es von der Betriebsleitung verlangt wird.

In den Fabriken gibt es keine Sanitätsstation. Im Sonapi-Park, besonders in den Fabriken von Richard Coles, wenn ein Arbeiter ein Problem hat, bringt man ihn ruhig nach draußen auf die Straße, um zu sterben.

Es gibt keine Sicherheit des Arbeitsplatzes. Die Bosse machen, was sie wollen. Sie stellen ein, entlassen, wie es ihnen gerade passt, je nach ihren Interessen in den Fabriken.

Diesem finsteren Bild müssen noch die täglichen Schikanen hinzugefügt werden, die Arroganz der Vorarbeiter, die schäbigen Mittel, um dem mageren Lohn der Arbeiter noch ein paar Gulden abzunötigen, die Belästigung der Arbeiterinnen durch die Vorarbeiter, usw.

Diese unverschämte Ausbeutung geschieht in Port-au-Prince, in den Fabriken, die von den ArbeiterInnen zu Recht Todeslager genannt werden.

Wo ist der Präsident der Republik, René Préval, wo sind sie hin, die Ökonomen, die zetern, dass die 200 Gourdes das Land vernichten werden, die namhaften Personen der Zivilgesellschaft, für die ein Lohn von 200 Gourdes zu hoch ist? Bestenfalls geben sie vor nichts zu sehen und nichts zu hören, sogar wenn die Ausbeutung vor ihren Augen geschieht, aber schließlich wählen sie alle die Seite der Bosse, der Reichen, denn auch sie leben von der Ausbeutung der Arbeiter.

Die Werktätigen und generell die Masse der Armen müssen lernen, im Kampf, den sie gegen die besitzenden Klassen führen, ausschließlich auf ihre Organisationsstärke zu zählen.