Zwischen Ende der 1980er und Anfang der 2010er Jahre predigten die herrschenden Politiker der Großmächte die Deregulierung der Wirtschaft, den Abbau von Zoll-Schranken und die Verlagerung von Fabriken in Niedriglohnländer. In den 2000er Jahren verkündete Serge Tchuruk, CEO von Alcatel, dass die Zukunft in „Unternehmen ohne Fabriken“ läge. Staatschefs richteten Freihandelszonen unter der Schirmherrschaft der Welthandelsorganisation (WTO) ein. Letztere stellte man als obersten Schiedsrichter für Handelsstreitigkeiten dar. Heute preisen sie „Rück-Verlagerungen“, ergreifen immer mehr protektionistische Maßnahmen und die WTO ist de facto tot, zumindest hirntot.
Krisen als Vorwand und Beschleuniger
Die Corona-Pandemie im Jahr 2020 und der Ukraine-Krieg 2022 wurden dazu benutzt, diese Wende zu beschleunigen und zu rechtfertigen. So brachte der Stillstand des internationalen Handels während der Lockdowns ans Licht, wie groß der Anteil chinesischer und indischer Importe bei medizinischen Masken, Paracetamol und vielen anderen Produkten ist. Zwei Jahre später als der russische Gashahn zugedreht, das Wirtschaftsembargo gegen Russland verhängt und der ukrainische Weizenexport über das Schwarze Meer gestoppt wurde, offenbarte sich erneut die Abhängigkeit bestimmter Branchen von Importen.
Jede Krise, ob sie wirtschaftlichen, politischen oder klimatischen Ursprungs ist, mischt und verteilt die Karten unter den Kapitalisten neu. Sie verändert das Kräfteverhältnis zwischen Schwer- und Leichtindustrie, zwischen Rohstoffproduzenten und verarbeitenden Industrien, zwischen verschiedenen Staaten. Kapitalisten, die sich in einer starken Position befinden, erhöhen ihre Preise und zwingen ihren Kunden ihre Bedingungen auf. Zu der tatsächlichen Knappheit kommt die von Spekulanten künstlich erzeugte Knappheiten hinzu. Erinnern wir uns daran, wie auf einmal der Senf – obwohl er gar nicht in der Ukraine produziert wird – aus den Regalen verschwand ... um dann zu einem erhöhten Preis wieder zurückzukehren.
Als der internationale Handel nach dem Ende der Lockdowns wieder aufgenommen wurde, konnten einige große Schifffahrtskonzerne massiv davon profitieren, unter ihnen der französische Konzern CMA-CGM. Sie erhöhten den Preis für den Transport eines Containers um das Fünf- bis Zehnfache und konnten so historische Gewinne erzielen. In dieser Zeit wurde auch das von den Halbleiter-Herstellern erlangte Monopol deutlich. Diese Hersteller, die vor allem in Taiwan angesiedelt sind, aber über amerikanische Patente und Kapital verfügen, konnten entscheiden, welche Kunden Vorrang hatten. Über viele Monate hinweg mussten Autokonzerne auf der ganzen Welt ihre Produktion drosseln und Arbeiter in Kurzarbeit schicken. Sechs bis sieben Millionen Fahrzeuge konnten 2021 nicht produziert werden. Die Autokonzerne sorgten dafür, dass ihre Gewinne dadurch nicht beeinträchtigt wurden, indem sie die Produktion auf Fahrzeuge der Oberklasse konzentrierten und die Preise erhöhten.
Da Halbleiter für die Herstellung so unterschiedlicher Produkte wie Kampfflugzeuge, Raketen, Autos, Telefone und Computer lebenswichtig sind, hat die US-Regierung Programme aufgelegt, um die Produktion der leistungsstärksten Halbleiter ins eigene Land zu verlagern. Die europäischen Staaten sind diesem Beispiel gefolgt. So sieht Bidens Chips and Science Act 280 Milliarden US-Dollar für den Bau von Halbleiterfabriken auf US-amerikanischem Boden vor.
Das Ende der russischen Gaslieferungen im Laufe des Jahres 2022 traf den deutschen Chemiekonzern BASF, dessen Wettbewerbsfähigkeit unter anderem auf den günstigen Gaslieferungen beruhte, besonders hart. BASF musste einen Umsatzrückgang von 25% innerhalb eines Jahres und einen Rückgang seiner Gewinne um 76% hinnehmen. BASF kündigte an, 3.300 der 39.000 Arbeitsplätze im Chemiepark Ludwigshafen zu streichen. In diesem Jahr war mehr als jedes vierte deutsche Chemie-Unternehmen gezwungen, seine Produktion zu drosseln.
Das Ende der „glücklichen Globalisierung“
Diese beiden Krisen waren jedoch nur ein Beschleuniger für einen Wandel, der lange vorher und aus tieferliegenden Gründen eingeleitet worden war. Als Trump 2016 an die Macht kam, begann er mit seinem Slogan „Make America Great Again“ einen Handelskrieg gegen China und die Europäische Union. Er führte Strafzölle auf europäischen Stahl ein, beklagte, dass es „zu viele Mercedes in New York und nicht genug Chevrolets in Berlin“ gebe und verbot mehreren chinesischen Unternehmen, ihre Waren in den USA zu verkaufen.
Vor Trump hatte Obama ab 2015 protektionistische Maßnahmen gegen chinesischen Stahl oder auch gegen den Telekommunikationsausrüster ZTE ergriffen. Mit Unterzeichnung der „Transpazifischen Partnerschaft“ hatte Obama die Beziehungen der USA zu Japan, Vietnam und Indien gestärkt, um auf diese Weise China einzukreisen, das von diesem Abkommen ausgeschlossen war. Gleichzeitig wurde der Druck auf China sowohl wirtschaftlich als auch militärisch erhöht.
Trumps Nachfolger Joe Biden verbot dann der US-Industrie den Export der leistungsfähigsten Halbleiter nach China. Er drängte die Niederlande und Japan – die einzigen Länder, die die Maschinen zur Herstellung dieser Chips liefern konnten – sich ebenfalls an diesem Exportverbot zu beteiligen. Biden verstärkte den Protektionismus der USA mit dem sogenannten Inflation Reduction Act (IRA): ein Programm, das – wie es die Zeitung Le Monde einmal formulierte – die Kapitalisten, die sich in den USA ansiedeln, mit einer „Flut von Subventionen“ überschwemmt. Im Grunde genommen ist die Politik des Demokraten Biden die Fortsetzung der Politik des Republikaners Trump, nur ohne dessen pöbelndes Auftreten.
Es gibt also eine Kontinuität bei den US-Regierungen, was die Umsetzung einer protektionistischen Politik angeht, allen voran gegen China. Die tieferen Gründe für diesen Protektionismus sind in der Verschärfung des Konkurrenzkampfes zwischen den Kapitalisten um Marktanteile nach der Krise von 2008 zu suchen.
Diese Krise, die schwerste der Nachkriegszeit, führte zu einem Rückgang der weltweiten Produktion. Um die Banken zu retten, pumpten die mächtigsten Staaten Hunderte von Milliarden in die Wirtschaft, was Fusionen und Reorganisationen förderte und die Machtverhältnisse zwischen den Kapitalisten veränderte. Jeder Staat führte protektionistische Maßnahmen ein, um seinen Industriellen günstigere Bedingungen zu verschaffen.
In China hat diese staatliche Intervention die Produktivkräfte in einem solchen Ausmaß entwickelt, dass der chinesische Binnenmarkt nicht mehr ausreichte. Die chinesischen Kapitalisten suchten nach Absatzmärkten im Ausland. Ab 2013 förderte Xi Jinping mit dem Programm der „neuen Seidenstraßen“ den Export von Kapital und Waren. Er forderte den Erwerb von Anteilen an westlichen Unternehmen. So kaufte der chinesische Automobilhersteller Geely die Anteile von Ford an Volvo Cars.
Jahr für Jahr stiegen die chinesischen Exporte in die USA schneller als die amerikanischen Exporte nach China. Den Zahlen der Weltbank zufolge war das Handelsdefizit der USA mit China von 80 Milliarden US-Dollar im Jahr 2000 auf 367 Milliarden US-Dollar im Jahr 2016 gestiegen. Natürlich sind, wie wir schon oft betont haben, diese Zahlen zu den chinesischen Exporten irreführend, da sie auch Produkte beinhalten, die in China für US-Firmen wie Apple hergestellt oder zusammengebaut werden. Letztendlich streichen also die US-Konzerne den Löwenanteil der Gewinne ein.
Dennoch sind chinesische Konzerne in Bereichen wie Telekommunikation, Elektroautos, Batterien oder Solarzellen zu ernsthaften internationalen Konkurrenten geworden. Diese Konkurrenz wollte die US-amerikanische Führung bekämpfen, indem sie sehr hohe Zölle auf bestimmte chinesische Produkte einführte, den Export von heiklen Produkten nach China verbot und einen Konzern wie Huawei vom Markt verbannte.
Der Handelskrieg zwischen den USA und China
Nach der Trump-Ära und trotz eines im Januar 2020 unterzeichneten Abkommen über einen Handelsfrieden führen die USA und China weiterhin protektionistische Maßnahmen gegen den jeweils anderen ein. Der IWF stellte fest: „Die jährlich von den USA neu eingeführten Handelshemmnisse haben sich seit 2019 verdreifacht und lagen im vergangenen Jahr bei fast 3.000“ (Les Échos vom 23. August 2023). Auf zwei Drittel der in die USA importierten chinesischen Waren werden Zölle erhoben. Da diese protektionistischen Maßnahmen nun zu den Folgen des Ukraine-Krieges und vor allem zu den von den Zentralbanken beschlossenen Zinserhöhungen für Kredite hinzukommen, macht sich der IWF Sorgen um das weltweite Wachstum, das sich immer weiter verlangsamt. Bis 2024 soll es auf unter 3% sinken.
Im Namen der nationalen Sicherheit erließ Biden im August ein Dekret, das US-Auslandsinvestitionen in Halbleiter, Quantenprozessoren und künstliche Intelligenz einschränkte. Die amerikanischen Mikrochip-Hersteller protestierten am Ende gegen diese Politik, die sie für zu restriktiv halten, weil sie ihren Interessen schadet.
Um den US-Zöllen auf chinesische Produkte zu entgehen, aber auch, weil die Löhne in China gestiegen sind, haben multinationale Elektro-Konzerne wie Apple, Samsung, Sony sowie Schuhhersteller wie Adidas und Nike die Verlagerung eines Teils ihrer Fabriken in südostasiatische Länder wie Vietnam, Indonesien oder Malaysia beschleunigt. Diese Konzerne haben China nicht aufgegeben, aber sie verteilen ihre Produktionsstandorte auf mehr Länder.
So sind an der Mündung des Cãm-Flusses im Norden Vietnams, nicht weit von China entfernt, große Industriegebiete entstanden. Innerhalb von drei Jahren hat sich die Zahl der Industriestandorte verdreifacht. „Das taiwanesische Unternehmen Pegatron, das elektronische Bauteile für Tesla und Apple herstellt, hat 500 Millionen US-Dollar in eine neue, hochmoderne Produktionsstätte investiert. USI Global, das sich auf Computerserver und das Internet der Dinge spezialisiert hat, eröffnete eine 200 Millionen Dollar teure Fabrik. (...) Sein zukünftiger Nachbar wird der Japaner Bridgestone sein, der angekündigt hat, seine Reifenproduktion in Vietnam zu verfünffachen“, schrieb die Zeitung Les Échos am 13. September 2023.
Diese Konzerne stellen zehntausende Arbeiter aus den umliegenden ländlichen Gebieten ein. Foxconn, ein Zulieferer von Apple, hat Plakate aufgehängt: „Wir stellen 10.000 Beschäftigte ein. Gutes Arbeitsumfeld, Aufstiegsmöglichkeiten“. Inventec und GoerTek, weitere Apple-Zulieferer, kündigten jeweils die Schaffung von 25.000 Arbeitsplätzen bis 2024 an. Die Löhne in Vietnam sind zwei- bis dreimal niedriger als in China, während „die vietnamesischen Arbeitnehmer genauso gut ausgebildet sind wie die chinesischen und ebenso bereit, viele Stunden zu arbeiten“ (Zitat einer Homepage für Unternehmer).
Die Widersprüche in den Beziehungen zwischen China und den USA
Die Verflechtung zwischen der US-amerikanischen und der chinesischen Wirtschaft ist jedoch so tief und so vorteilhaft für US-amerikanische Unternehmen, dass der Handel zwischen den beiden Ländern nicht zum Erliegen kommen kann. So hatte im Jahr 2022 laut der WTO der Warenaustausch zwischen den beiden Ländern trotz des Handelskriegs ein Rekordniveau von 690 Milliarden US-Dollar erreicht.
Man muss allerdings dazu sagen, dass die USA im Jahr 2022 (das Jahr, indem sich der Handel nach der Corona-Zeit erholte) ihren Handel mit allen Ländern steigerten. 2023 hingegen trat ein deutlicher Rückgang ein – ein erstes Symptom für eine Verlangsamung der Weltwirtschaft. Insgesamt sind die US-Importe aus China zwar mengenmäßig gewachsen, prozentual jedoch gesunken. Der Anteil Chinas an den US-Importen fiel zwischen 2017 und 2022 von 22% auf 17%. Umgekehrt ist der Anteil Mexikos und Vietnams an den US-Importen gestiegen.
Im gleichen Zeitraum stieg der Handel zwischen China und Vietnam von 100 Milliarden US-Dollar im Jahr 2018 auf 175 Milliarden US-Dollar im Jahr 2022. Ein Teil der chinesischen Exporte betrifft Teile, die in Vietnam zusammengebaut werden, bevor sie in den USA und Europa verkauft werden. Auf diese Weise entgehen sie den Strafzöllen. Die erneute Verlagerung westlicher Fabriken bedeutet also nicht, dass die Globalisierung gestoppt wird, sondern dass sie neu organisiert wird.
Eine weitere Angabe ist aufschlussreich. Im Jahr 2022 gingen 42,3% der Exporte Taiwans nach China: ein historischer Rekord. Die ständige Aufregung über eine drohende Invasion hält also taiwanesische Unternehmen nicht davon ab, nach China zu exportieren. Aggressive Rivalitäten verhindern den Handel nicht.
Es gibt also keine „Entkopplung“ zwischen China und den USA, sondern eine Veränderung der Handelsstruktur. Auf der einen Seite bleibt China trotz seiner industriellen Entwicklung, trotz steigender Löhne und trotz des US-Handelskriegs die wichtigste Werkbank der Welt, die stark in die Wertschöpfungskette der kapitalistischen Weltwirtschaft integriert ist. Auf der anderen Seite bleibt China trotz des wirtschaftlichen Abschwungs und der schweren Krise in seinem Immobiliensektor ein riesiger Markt, sowohl für Konsumgüter als auch für Produktionsgüter. Es erwirtschaftet ein Fünftel des weltweiten BIP und verfügt über 900 Millionen Verbraucher, von denen ein kleiner Teil wohlhabend genug ist, um Konzerne LVMH (Moët Hennessy – Louis Vuitton), L’Oréal, Danone und viele andere anzulocken.
Ein weiterer Widerspruch im Wirtschaftskrieg zwischen den USA und China liegt ebenfalls in der Natur dieses Systems – konkret darin, dass die Staaten, wenn sie ihren Kapitalisten Milliarden zahlen, diesen die alleinige Kontrolle über das Geld überlassen. So soll Ford vom US-Staat Millionen Dollar an Subventionen erhalten, um eine Batteriefabrik in Michigan zu bauen. Diese Fabrik, die zwar amerikanisch ist, soll jedoch nun in Partnerschaft mit dem chinesischen Unternehmen CATL gebaut werden. Dieser hat sich zum internationalen Batteriespezialisten entwickelt, seine Fabriken stellen ein Drittel der weltweit verkauften Batterien her.
Die Journalisten, die über diese Episode berichten, kommen zu dem Schluss: „Die USA haben keine Industriepolitik. Ohne Sozialisten oder Kommunisten zu werden, müssen wir feststellen, dass China eine hat“. In der Tat ist CATL, wie so viele andere chinesische Unternehmen, mit Hilfe des chinesischen Staates gewachsen, der bewusst große Unternehmen aufgebaut hat, die sich auf strategische Bereiche spezialisiert haben.
In einem Gastbeitrag in der Zeitung Les Échos formulierte es ein US-amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler anders: „China hat eine Strategie, die amerikanischen Unternehmen nur Taktik“ (Les Échos vom 5. Oktober 2023). Er nahm das Beispiel von Huawei, das 2019 in den USA verboten und von amerikanischen, japanischen oder taiwanesischen Halbleitern abgeschnitten wurde. Huawei hat jedoch gerade ein neues Smartphone, das Mate 60 Pro, auf den Markt gebracht, das chinesische Mikrochips enthält. Sie sind zwar nicht so winzig klein wie die von Apple, aber dennoch leistungsfähig. Um Huawei zu verteidigen, hat der chinesische Staat nicht nur mit Sanktionen reagiert, sondern auch einen umfassenderen Plan entwickelt, um chinesische Mikrochips herzustellen.
Es ist nicht das erste Mal, dass die USA mit der fehlenden Planung und den Übeln des Privateigentums konfrontiert sind. In den 1950er und 1960er Jahren hatten die gleichen Probleme dazu geführt, dass das amerikanische Raumfahrtprogramm gegenüber der Sowjetunion stark ins Hintertreffen geraten war. Die US-Regierung musste die NASA gründen, um das Ruder herumzureißen. Das Raumfahrtprogramm hat Hunderte private Unternehmen reich gemacht, allerdings unter der Schirmherrschaft der NASA, die damals eine gewisse Planung organisierte.
Die heutige Zeit ist eine andere. Der Kapitalismus befindet sich nicht in einer Phase intensiver Entwicklung. Der parasitäre, vor allem finanzielle Charakter der Investitionen der Kapitalisten überwiegt gegenüber den produktiven Investitionsprojekten. Und die Staaten, die den Kapitalisten dienen, passen sich an. Das bedeutet nicht, dass sie die Produktion nicht mehr weiterentwickeln würden. Sie sind in der Lage, neue Fabriken für Batterien oder Elektroautos zu bauen, die sie nun Gigafactory nennen, aber sie tun dies mit Vorsicht und knausern bei jeder Ausgabe. Und sie beschließen, die Produktion einzuschränken, um die Preise zu erhöhen. Sie stellen Produktionen ein, obwohl sie unverzichtbar sind...
Ein weiterer Widerspruch einer protektionistischen Politik, die in einer globalisierten Wirtschaft betrieben wird, besteht darin, dass das Kapital selbst globalisiert ist. Die Verteilung des Kapitals in den multinationalen Konzernen ist komplex. Die großen Konzerne sind in vielen Ländern ansässig. Welche Nationalität hat beispielsweise Stellantis, die Fusion des amerikanischen Autoherstellers Chrysler, des italienischen Herstellers Fiat und des französischen Konzerns PSA (Peugeot-Citroën), mit Hauptsitz in den Niederlanden? Wenn der amerikanische Staat die Chrysler-Werke subventioniert, macht er die Familien Agnelli und Peugeot ebenso glücklich wie die chinesischen Aktionäre von Dongfeng, die 3% des Kapitals von Stellantis besitzen. Die Milliarden, die von diesem oder jenem Staat gezahlt werden, kommen nicht nur der nationalen Bourgeoisie zugute, sondern allen Kapitalisten, die in diesem Land Unternehmen besitzen.
Die Rivalität zwischen den USA und Europa
Während der chinesisch-amerikanische Handelskrieg im Rampenlicht steht, gibt es einen ebenso heftigen Konkurrenzkampf zwischen den europäischen Ländern und den USA. Entgegen dem Märchen, das Schulkindern beigebracht wird, sind die USA nicht in erster Linie Europas unverbrüchliche Verbündete, sondern eine imperialistische Macht, die mit den Mächten des alten Kontinents konkurriert. Ein militärischer Krieg scheint heute zwar nicht auf der Tagesordnung zu stehen, doch der Wirtschaftskrieg tobt bereits. Dieser Krieg tötet zwar nicht direkt, aber er vernichtet Arbeitsplätze zu Zehntausenden. Er verschlingt Hunderte Milliarden Euro, die in Krankenhäusern oder Schulen fehlen.
Der Krieg in der Ukraine, der selbst ein Produkt der Rivalität zwischen dem US-Imperialismus und dem Russland der Oligarchen und Bürokraten ist, war eine äußerst günstige Gelegenheit für die USA, um „Europa auf Ration zu setzen“, wie Trotzki es 1924 formulierte.
Das erste Opfer war Deutschland, das dreifach getroffen wurde: durch den Stopp der russischen Gaslieferungen, durch die Verringerung der Menge an Arbeitskräften, die bis dahin in der Ukraine und in Mitteleuropa zur Verfügung gestanden hatten, und durch die Komplikationen im Handel mit China.
Abgesehen von den bereits erwähnten Folgen des Krieges für die chemische Industrie war die gesamte deutsche Industrieproduktion rückläufig, aufgrund der Vervierfachung der Energiekosten und des raschen Anstiegs der Zinssätze, der die Kredite verteuerte und die Nachfrage nach allen Gütern dämpfte. Da Deutschland das am stärksten industrialisierte Land in Europa ist, zahlt es den höchsten Preis und dürfte voraussichtlich im letzten Quartal dieses Jahres in eine Rezession geraten. Der Stopp der russischen Gaslieferungen war ein Glücksfall für die in den USA ansässigen Ölkonzerne, seien es US-amerikanische ... oder auch französische Konzerne wie Total, die in Texas Schiefergas fördern und dabei die Gesundheit von Zehntausenden Anwohnern zerstören. Die Lieferungen von verflüssigtem Erdgas (LNG) nach Europa haben sich seit Februar 2022 vervierfacht und US-Gas macht mittlerweile ein Viertel des in Frankreich verbrauchten Gases aus. Neue LNG-Terminals, wie der in Le Havre, wurden in aller Eile gebaut.
Die EU angesichts des US-amerikanischen Inflation Reduction Act (IRA)
Zum Krieg in der Ukraine kam noch Bidens IRA-Plan hinzu, eine wahre Saugpumpe, um Kapitalisten in die USA zu locken. Der IRA-Plan hat bereits sichtbare Auswirkungen: Mehrere europäische Konzerne aus den Bereichen Chemie, Automobilindustrie und Batterieherstellung haben geplant, einen Teil ihrer Produktion in die USA zu verlagern.
Der Chemie-Konzern Solvay kündigte für Ende 2022 Investitionen in Höhe von mehreren hundert Millionen US-Dollar in Werken in den USA an. Ford kündigte den Abbau von 3 800 Arbeitsplätzen in Europa an, die in die USA zurückverlagert werden sollen. Im März dieses Jahres verschob der Volkswagen-Konzern ein Projekt für eine Batteriefabrik in Osteuropa und zog stattdessen eine Ansiedlung in den USA vor, wo er Subventionen in Höhe von 9 bis 10 Milliarden Euro zu erhalten hofft. Die deutsche Regierung hatte dem US-amerikanischen Unternehmen Intel 6,8 Milliarden Euro für den Bau einer Mikroprozessorfabrik in Ostdeutschland zugesagt. Intel fordert nun eine Aufstockung um 5 Milliarden mit der Begründung, dass die Energiekosten gestiegen sind. Die steigenden Energiekosten, die durch den Krieg in der Ukraine beschleunigt wurden, beschleunigen wiederum die Abwanderung in die USA.
Als Reaktion darauf hat die EU ihr Scheckbuch gezückt. Im März dieses Jahres kündigte sie den „Net Zero Industry Act“ an: Es handelt sich um Subventionen an Kapitalisten, die in Europa die Produktion einer ganzen Reihe von Technologien im Zusammenhang mit so genannter sauberer Energie fördern sollen. Dieses Gesetz soll in kleinerem Maße eine Antwort auf die chinesische Konkurrenz bei der Herstellung von Solarzellen oder Elektroautos sein, vor allem jedoch eine Antwort auf die US-amerikanische Konkurrenz in allen Bereichen.
Da die EU allerdings ein Box-Ring ist, in dem jedes Mitgliedsland die Interessen seiner eigenen Kapitalisten verteidigt, wird die Erstellung der Liste der als grün eingestuften Technologien Monate dauern und die konkrete Umsetzung der Hilfen entsprechend verzögern. Angesichts der Dringlichkeit und des immensen Drucks, der vom IRA ausgeht, hat die EU den Mitgliedstaaten erlaubt, ihre jeweilige Industrie eigenständig zu subventionieren. Das Ende des „freien und unverfälschten Wettbewerbs“, der seit Jahrzehnten das unumstößliche Dogma der europäischen Politiker war – und es lebe das Gesetz des Stärkeren!
Denn die Höhe der Schecks wird proportional zur Macht der Staaten sein. So hat die deutsche Regierung bereits einen Plan in Höhe von 200 Milliarden Euro aufgelegt, um die Energiekosten ihrer Industrieunternehmen zu senken, was die anderen EU-Länder verärgert. In Frankreich betont Macron immer wieder, dass man „Frankreich reindustrialisieren“ müsse, und Bruno Le Maire hat einen Plan „für die grüne Industrie“ angekündigt. Batterien, Medikamente, künstliche Intelligenz, Mikrochips, Luft- und Raumfahrt: alle Branchen sind dabei. In derselben Woche versprach Macron dem taiwanesischen Batteriehersteller Prologium 1,5 Milliarden Euro, damit er sich in Nordfrankreich ansiedelt, und dem französisch-italienischen Konzern STMicroelectronics 2,9 Milliarden Euro für eine seiner beiden Fabriken im Großraum Grenoble, in der Halbleiter hergestellt werden.
Rück-Verlagerungen sind der neue Vorwand, um den Konzernen einen Großteil der Investitionen abzunehmen, ihnen qualifizierte Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen, die Flexibilität der Arbeitszeiten zu erhöhen, betriebsbedingte Entlassungen zu erleichtern und Steuern für Unternehmen abzuschaffen.
Wirtschaftliche Neuordnung und politische Bündnissysteme
In einem Bericht der WTO vom 12. September wurde die Sorge über eine Fragmentierung der Weltwirtschaft geäußert. Der Bericht stellte „erste Anzeichen einer Neuordnung des Handels auf der Grundlage geopolitischer Affinitäten fest, mit Rück-Verlagerungen, die zunehmend in befreundete Länder erfolgen“. Mit anderen Worten: Für die WTO wird die Globalisierung immer stärker in voneinander abgeschottete Blöcke unterteilt.
Im Grunde verkündet die WTO damit nur etwas Offensichtliches. Die Kapitalisten reagieren auf die Einführung von Zöllen, Einfuhrquoten, nationalen Verteidigungsklauseln, Embargos oder direkten Subventionen für Kapitalisten. Um diese protektionistischen Maßnahmen zu umgehen und ihre Kosten zu minimieren, reorganisieren sie ihren Produktionsprozess. Wenn sie beschließen, eine neue Fabrik zu eröffnen, so schätzen sie bevorstehende Hindernisse ab. Wenn zum Beispiel alle anderen Faktoren gleich sind, wird sich Apple dafür entscheiden, eine neue Fabrik in Vietnam zu errichten – einem Land mit billigeren Arbeitskräften, das Mitglied mehrerer Freihandelsverbände ist, zu denen die USA vielfältige Beziehungen unterhalten – und nicht in China, das US-Zöllen unterliegt und wo die Löhne gestiegen sind.
Politische Spannungen und der Kriegszustand in weiten Teilen der Welt stören den internationalen Handel. Sie stellen für einige Länder eine Katastrophe und für andere eine Chance dar. So hat der Krieg in der Ukraine die „Seidenstraßen“ unterbrochen, d. h. die Eisenbahnlinien, die China durch Russland mit Westeuropa verbanden. Doch der von den USA geächtete Iran verkauft Öl an China, das sich mit ebendiesen USA im Handelskrieg befindet, und fungiert als Zwischenhändler für Kapitalisten, die trotz des Embargos den Handel mit Russland fortsetzen.
Der Fall Indiens zeigt, dass der Welthandel keineswegs in zwei feindliche Blöcke gespalten ist. Die gegen Russland verhängten Sanktionen haben es Indien, dessen größter Handelspartner nach wie vor die USA sind, ermöglicht, sich aus der Affäre zu ziehen. Indien kauft zu niedrigen Preisen russisches Öl (der Anteil russischen Öls an den Importen Indiens ist innerhalb von 18 Monaten von 1% auf 40% gestiegen), um es dann weiter nach Europa zu exportieren. Gleichzeitig hat sich der amerikanische Halbleiterhersteller Micron verpflichtet, eine Fabrik in Indien zu bauen. Dieses Beispiel zeigt, dass die Entwicklung der Handelsbeziehungen komplex ist und dass die von der WTO festgestellten Trends weder endgültig noch stabil sind.
Die dringende Notwendigkeit einer geplanten Wirtschaft – und die Unmöglichkeit, dies im Kapitalismus umzusetzen
Weltweit findet eine Neuorganisation statt, wo welche Industrien angesiedelt sind. Diese Neuordnung hat nichts mit Entglobalisierung zu tun. Sie ist eine Anpassung an das veränderte Kräfteverhältnis zwischen Kapitalisten und zwischen Großmächten, die um die Aufteilung von Märkten und Rohstoffquellen konkurrieren. Sie begleitet das militärische Säbelrasseln und die schrittweise Formierung von Militärbündnissen, die Blöcke bilden.
Diese Neuordnung erfolgt mittels massiver Interventionen der konkurrierenden Staaten, die jeder die Interessen ihrer entscheidenden nationalen Konzerne und nie das gemeinschaftliche Interesse der Gesellschaft verteidigen. Diese staatlichen Eingriffe erfolgen ohne jegliche allgemeine Planung, ohne jegliche Erfassung der Kapazitäten, Ressourcen und Bedürfnisse. Sie erfolgen nach den Berechnungen und Entscheidungen jedes einzelnen multinationalen Konzerns, der von steigenden Energiepreisen hier und neuen Zöllen dort angetrieben wird, von den Maßnahmen des einen oder anderen Staates angelockt wird und auch bereit ist, bestimmte für die Gesellschaft unverzichtbare, aber von den Aktionären als zu wenig rentabel eingestufte Produktionszweige ganz aufzugeben.
Selbst die technologische Revolution, die als Herzstück der Energiewende dienen soll – die Verbreitung von Elektroautos – ist absolut nicht geplant. Die Kapitalisten haben nichts unter Kontrolle: weder die Herstellung und Haltbarkeit der Batterien, noch die Gewinnung seltener Metalle, noch die Stromerzeugung, die Errichtung von Ladestationen usw.... und noch weniger, wie viele Verbraucher über genug Geld für die doppelt so teuren Fahrzeuge verfügen. Doch kein Konzern will den Aufsprung auf den Elektro-Zug verpassen. Die Bourgeoisie stürzt sich kopfüber in das, was Geld einbringt oder von dem sie glaubt, dass es Geld einbringen wird.
Es bedarf des grenzenlosen Zynismus der bürgerlichen Politiker, um diese Verschiebungen von einem Kontinent zum anderen als Deglobalisierung oder Energiewende zu bezeichnen. In einer Zeit, in der die globale Erwärmung verheerende Folgen hat, führen diese Transfers zu noch mehr Transporten und Umweltverschmutzung. Sie bedeuten, dass auf der einen Seite verschmutzte Standorte aufgegeben werden und auf der anderen Seite neue Industriegebiete entstehen, für die Ackerland oder Mangrovenwälder zerstört werden.
Jede dieser Verlagerungen geht mit dem Abbau von Arbeitsplätzen und der Schließung von Fabriken einher. Die Hunderte Milliarden, die an die Industrie gezahlt werden, kommen zu den 2,2 Billionen Dollar hinzu, die im letzten Jahr weltweit an Rüstungskonzerne gezahlt wurden. Diese irrsinnigen Summen sind nicht dazu bestimmt, Unterernährung auszumerzen, alle Häuser der Welt mit fließendem Wasser und Strom zu versorgen, Gesundheitszentren zu errichten oder moderne Krankenhäuser zu betreiben, Mittel zur Bekämpfung von Dürren und der globalen Erwärmung zu entwickeln. Sie dienen dazu, die nächsten Kriege zu planen, Massenvernichtungen zu organisieren und die Profite einer Handvoll reicher Kapitalisten zu steigern.
Mehr denn je verfügt die Menschheit über die Mittel, um all ihre Bedürfnisse rational und verantwortungsvoll zu befriedigen, ohne Menschen oder die Natur zu zerstören. Mehr denn je zeigt die kapitalistische Klasse, die die Gesellschaft beherrscht, ihre kriminelle Verantwortungslosigkeit. Um ihr die Macht zu entreißen, ist die Arbeiterklasse – die Klasse, die alles produziert und alles am Laufen hält – so zahlreich wie nie zuvor und so international vereint wie nie durch die Struktur der Wertschöpfungsketten selber.
Das ist der Grund für unseren Optimismus. Aber dafür müssen wir daran arbeiten, dass sich die Arbeiterklasse ihrer immensen kollektiven Kraft und ihrer revolutionären Rolle bewusst wird.
22. Oktober 2023