Die kapitalistische Wirtschaft zwischen Schlucht und Abgrund

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April 2023

(aus Lutte de Classe vom April 2023)

 

„Die FED zwischen Schlucht und Abgrund“, titelte am 14. März ein Leitartikel der Zeitung Les Échos. Mit diesem Bild beschrieben sie die Unsicherheiten der Zentralbanker, die sich einerseits der aufflammenden Inflation und andererseits einer drohenden Serie von Bankenpleiten nach dem Konkurs der Silicon Valley Bank (SVB) gegenübersehen. Diejenigen, die behaupten, das internationale Finanzsystem zu regulieren, würden mit „Stirnlampen im Nebel“ herumlaufen und zögern, sich zwischen den beiden einzigen Heilmitteln zu entscheiden, die sie kennen: Milliarden in das System zu pumpen oder den Kredithahn zuzudrehen. In jedem Fall zahlt die Arbeiterklasse bereits einen hohen Preis dafür.

Die offizielle Rolle der Zentralbanken besteht darin, das Finanzsystem zu regulieren, indem sie die im Umlauf befindliche Geldmenge an die Bedürfnisse des kapitalistischen Marktes anpassen, d. h. an das Volumen der Produktion und der Warenzirkulation. Durch die Festlegung der Zinssätze, zu denen sich private Banken refinanzieren können, fördern oder bremsen die Zentralbanken die Kreditaufnahme von Unternehmen wie auch von Privatpersonen, was sich angeblich auf produktive Investitionen und das Wirtschaftswachstum auswirken soll. Aber letztlich entscheiden die Kapitalisten und vor allem die mächtigsten unter ihnen, wie sie das verfügbare Kapital verwenden, je nachdem, welche Profite sie erwarten und wie sie sich die Zukunft ihres eigenen Systems vorstellen.

 

Von sinkenden zu steigenden Zinsen

Seit der Krise des globalen Finanzsystems im Jahr 2008 waren die Zinssätze der Zentralbanken lange Zeit bis auf 0% gesunken, wenn sie nicht sogar negativ waren. Die Zentralbanken kauften, ohne zu zögern, den Privatbanken und sogar einigen großen Unternehmen ihre fragwürdigen Wertpapiere (Schulden, Staatsanleihen usw.) ab. 15 Jahre lang wurden über diese billigen Kredite Billionen an Dollar, Euro oder Yen in die Wirtschaft gepumpt. Dennoch führte dies kaum zu zusätzlichen produktiven Investitionen. Stattdessen haben die Billionen die Spekulation angeheizt: die Spekulation auf Immobilien, Rohstoffe und vieles mehr. Sie haben den Banken aller Art Futter gegeben, um neue Finanzkonstruktionen zu erfinden. Sie haben die Entwicklung der GAFAM und anderer Unternehmen der New Economy beschleunigt, die ihr Kapital vermehren konnten, ohne parallel dazu reale Produktionsmittel in ähnlicher Größenordnung aufzubauen und zu entwickeln. Sie erleichterten Fusionen und Übernahmen, Aktienrückkäufe und schließlich die Konzentration des Kapitals. In all diesen Jahren, in denen es keine Inflation gab, hat die Ausbeutung zugenommen und der Anteil des Reichtums, den die Kapitalisten abschöpfen, ist auf Kosten der Arbeitenden immer weiter gestiegen. Übrigens machte gerade die Verschärfung der Ausbeutung und die Tatsache, dass die Löhne in allen Ländern niedrig gehalten wurden, die niedrige Inflation bei den Preisen für Endprodukte möglich.

Seit einem Jahr ist die Inflation nun zurückgekehrt. Unter dem Vorwand, sie einzudämmen, haben die Zentralbanken nach langem Zögern die Refinanzierungszinsen immer weiter erhöht. Zwischen März 2022 und März 2023 erhöhte die US-amerikanische Federal Reserve Bank (FED) ihren wichtigsten Zinssatz von 0% auf 4,75%. Die Europäische Zentralbank (EZB) folgte ihr und erhöhte ihren Leitzins von 0% im Juli 2022 auf 3,5% Mitte März 2023. Das ausdrückliche Ziel der Zentralbanken ist es, „den Markt zu verlangsamen“. Sprich sie wollen die Nachfrage nach allen Gütern, Industrieprodukten wie Immobilien drosseln – in der Hoffnung, dass die Preise dadurch sinken. Die Idee ist: Privatpersonen können wegen der Zinsen keine Kredite mehr aufnehmen, um eine Wohnung oder ein Auto zu kaufen. Da es nicht genügend Käufer gibt, wird davon ausgegangen, dass die Preise sinken. Bei steigenden Zinsen wird es für kleine, mittlere und sogar für große Unternehmen, die als weniger rentabel gelten, schwieriger, Kredite für Investitionen zu bekommen. Sie werden sich verkleinern oder in Konkurs gehen. In jedem Fall werden sie Arbeitsplätze abbauen. Mehr Arbeitslosigkeit, vorzugsweise mit Arbeitslosen, die kaum oder gar kein Arbeitslosengeld bekommen, wird alle Arbeitende dazu zwingen, niedrigere Löhne zu akzeptieren. Dies wird die Unternehmer in eine stärkere Position bringen, um Lohnerhöhungen zu verweigern. Das ist das ausdrückliche Ziel der Zentralbanker. Im September formulierte es der Ökonom Patrick Artus ungeschönt (Les Échos): „Um die Inflation zu senken, muss man die Arbeitslosigkeit vergrößern.

In Wirklichkeit haben diese Leute keine Ahnung, ob ihr Plan aufgeht. Fünfzehn Jahre lang fragten sie sich, warum die zahllosen Milliarden, die in die Wirtschaft gepumpt wurden und durch die sich die im Umlauf befindliche Geldmenge zwischen 2008 und 2021 vervierfachte, keine Inflation auslöste. Heute haben die Zentralbanker nicht die geringste Garantie, dass die Beschränkung der Geldmengen die Inflation senken wird.

Umgekehrt jedoch löst sie bereits Katastrophen aus, so dass sich einige bürgerliche Ökonomen anfangen Sorgen zu machen. Joseph Stiglitz, der amerikanische Nobelpreisträger für Wirtschaft, prangerte am 15. Dezember in einem Gastbeitrag in Les Échos die „unerschütterliche Entschlossenheit der Zentralbanken, die Zinssätze zu erhöhen“ an. „Im Namen der Inflationskontrolle haben sie einen Kurs eingeschlagen, der eine Rezession auslösen wird - oder sie verschärft, sollte die Rezession auch unabhängig davon eintreten.“ Drei Monate später, nach dem Zusammenbruch der Silicon Valley Bank, kritisierte er: „Mit den von Powell gewollten starken und schnellen Zinserhöhungen war abzusehen, dass die brutale Preisentwicklung der Vermögenswerte irgendwo im Finanzsystem ein Trauma verursachen würde.“ Die Abrechnung zwischen Stiglitz, dem ehemaligen Berater von Obama, und Jerome Powell, der unter Trump eingesetzt wurde, lässt die Sorgen dieser regierungsnahen Ökonomen erahnen.

 

SVB, Crédit Suisse: das Gespenst von 2008

Am 9. März erlebte die kalifornische Bank SVB, bei der zahlreiche Unternehmen aus dem Silicon Valley ihr Konto hatten, die größte Bankenpanik der Geschichte. An einem einzigen Tag wollten ihre Kunden, mittels eines einfachen Mausklicks, 42 Milliarden US-Dollar von ihren Konten abheben. Die Bank, die nicht zu den dreißig internationalen Banken gehörte, die als „too big to fail“ eingestuft wurden, hatte keine fragwürdigen oder betrügerischen Geschäfte getätigt. Sie besaß keine faulen Wertpapiere wie die Subprime-Hypotheken, die 2008 zum Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers führten und die Krise des Bankensystems auslösten. Sie hatte das Geld ihrer Kunden in US-Staatsanleihen mit langer Laufzeiht angelegt, den sichersten Wertpapieren der Welt. Doch ausgerechnet der Wert dieser Staatsanleihen sank, weil die Fed die Zinsen anhob. Durch die höheren Zinsen bringen die neuen Staatsanleihen den Investoren mehr Geld ein, weshalb sie die alten verkauften. Diese verloren entsprechend an Wert. Ein weiterer Kollateralschaden der steigenden Zinsen und der Beschränkung des billigen Geldes ist, dass es für Start-up-Unternehmen schwieriger geworden ist, Geld für die Aufstockung ihres Kapitals zu beschaffen. Als einige dieser Start-ups frisches Geld benötigten und dafür anfangen mussten, ihre angelegten Gelder abzuheben, saß die SVB in der Falle und war nicht in der Lage, das Geld auszuzahlen.

Angesichts der Panik, die durch den Bankrott der SVB ausgelöst wurde, griff die Fed unverzüglich ein. Biden selbst meldete sich zu Wort und versicherte den Bankern, dass der Staat für alle bei den Banken angelegten Gelder garantieren würde – koste es, was es wolle. Der Staat ist immer da, um den Kapitalisten mit öffentlichen Geldern den Arsch zu retten. Wie ein Beobachter bemerkte: „Die kalifornischen Unternehmer sind alle Libertäre, bis sie von einer Zinserhöhung getroffen werden.“ Das sofortige Eingreifen zeigt, dass die politischen Führer der kapitalistischen Welt wissen, wie instabil ihre Wirtschaft ist und dass sie ständig eine neue Systemkrise fürchten.

Genau wie Christine Lagarde, die als Wirtschaftsministerin 2008 erklärte: „Dies ist kein Börsenkrach“, sagte Bruno Le Maire nach dem Bankrott der SVB: „Ich sehe keine Ansteckungsgefahr in Europa.“ Weniger als vierundzwanzig Stunden nach diesem Ausspruch drohte der Crédit Suisse (der zweitgrößten Schweizer Bank) der Konkurs, und die Aktien der BNP und der Société Générale verloren 30% an der Pariser Börse. Da die Crédit Suisse eine der dreißig Banken war, deren Konkurs die Stabilität des gesamten Systems gefährden würde, zwangen die Schweizer Behörden die UBS innerhalb eines Wochenendes, die Crédit Suisse für 3 Milliarden Euro zu übernehmen. Die Arbeitsplätze der Bankangestellten wurden jedoch nicht gesichert. Sie drohen zu Tausenden verloren zu gehen, obwohl die Crédit Suisse in den letzten zwei Jahren bereits 9.000 ihrer 52.000 Mitarbeiter entlassen hat. Die Manager der UBS zögerten trotz des Schnäppchenpreises zunächst zuzuschlagen, weil sie wussten, dass die Tresore der Crédit Suisse zweifelhafte Wertpapiere enthalten konnten. Um sie zu überzeugen, eröffneten die Schweizer Behörden ihnen mit öffentlichen Geldern einen Garantiefonds in Höhe von 9 Milliarden Euro. Die Crédit Suisse war, wie die UBS und so viele andere Banken vor ihr, in jüngster Zeit in verschiedene Skandale um Korruption, Geldwäsche, Steuerhinterziehung und Zinsmanipulationen verwickelt gewesen. Sie hatte Beteiligungen an einem Hedgefonds namens Archeos, der 2021 in Konkurs ging. All den Dreck, den die Crédit Suisse am Stecken hatte, ließen schließlich andere Spekulanten an ihrer Solidität zweifeln. Der Zusammenbruch der SVB, der Zweifel an der Solidität jeder einzelnen Bank säte, beschleunigte ihren Niedergang.

Andere Banken gerieten in den Verdacht, vom Fall der SVB und der Crédit Suisse mitgerissen zu werden. Die Deutsche Bank, die größte deutsche Bank, hätte gut der nächste Dominostein sein können, der fällt. Am 24. März begann ihr Börsenkurs gefährlich zu fallen. In einem Klima des allgemeinen Misstrauens löste ihre Ankündigung, einige ihrer Forderungen vorzeitig zurückzahlen zu wollen, Misstrauen an den Märkten aus, anstatt diese zu beruhigen. Das Gezeter der EZB-Präsidentin Christine Lagarde, die am 20. März auf dem Gipfeltreffen der EU-Staats- und Regierungschefs erklärte: „Der Bankensektor in der Eurozone ist widerstandsfähig“, wird nicht ausreichen, um die Gesellschaft vor dem Risiko einer neuen systemischen Finanzkrise zu schützen. Seit 2008 haben die Banken Wege gefunden, die sogenannten aufsichtsrechtlichen Maßnahmen zu umgehen, die ihnen eigentlich auferlegt worden waren, um eine Kettenreaktion an Konkursen zu verhindern. Sie haben neue Instrumente erfunden, um zu spekulieren und sich mit allen Mitteln zu bereichern, womit sie sich im Falle eines abrupten Umschwungs der Gefahr von Konkursen aussetzen. Wenn die Finanzmärkte, d. h. eine Handvoll Großbanker und große Investmentfonds wie BlackRock, aus guten oder schlechten Gründen das Vertrauen in die eine oder andere Bank verlieren, können sie diese innerhalb kürzester Zeit in den Bankrott treiben.

 

Auf dem Weg zu einer Staatsschuldenkrise?

Der Anstieg der Zinsen verteuert die Schulden der Staaten. Nachdem die Staaten lange Zeit die drastischen Einsparungen bei allen für die Bevölkerung nützlichen Öffentlichen Dienste mit der Notwendigkeit begründet hatten, die Staatsverschuldung zu begrenzen, öffneten sie die Schleusen, um den Kapitalisten zunächst während der Corona-Pandemie Hunderte Milliarden zu überweisen, dann um den Anstieg der Energiepreise abzufedern, die Energiewende zu fördern oder ihre Aufrüstung zu finanzieren. So stieg die französische Staatsverschuldung von knapp 100 Prozent des BIP im Jahr 2019 auf 114 Prozent im Jahr 2022. Vor der Krise 2008 hatte sie nur 67% des BIP betragen. Für 2023 plant die Agentur France Trésor, die die Schulden des französischen Staates verwaltet, die Aufnahme von 270 Milliarden Euro Schulden zum aktuellen Tageszins. Die Gesamtverschuldung des französischen Staates wird bis Ende des Jahres auf über 3 Billionen Euro ansteigen. Deutschland, das bei einer Gesamtstaatsverschuldung von 2,5 Billionen Euro mit 68 % seines BIP verschuldet ist, plant für 2023 eine Rekordanleihe in Höhe von 579 Milliarden Euro. Steigende Zinsen blähen alle Schulden auf. Während der französische Staat im Januar 2022 Kredite zu 0,2% Zinsen aufnahm, muss er ein Jahr später über 3% Zinsen zahlen. Innerhalb eines Jahres stieg der sogenannte Schuldendienst, d. h. die Zinsen, die für diese Schulden gezahlt werden müssen, von 38 auf 52 Milliarden Euro – eine Summe, die in etwa dem Bildungshaushalt entspricht. Diese gigantischen Schulden kommen der Bourgeoisie zugute, wurden und werden aber vollständig von der Arbeiterklasse bezahlt.

Steigende Zinsen kurbeln die Spekulation auf Staatsschulden an. Denn die Finanzmärkte leihen Staaten, die wie Deutschland als kreditwürdiger, weniger verschuldet und mit höherem Wirtschaftswachstum eingestuft werden, zu niedrigeren Zinsen Geld als Staaten mit höherer Verschuldung wie Italien. So gab es im Oktober letzten Jahres einen Angriff der Finanzmärkte auf die Schulden des Vereinigten Königreichs und das Pfund Sterling, nachdem Premierministerin Liz Truss starke Steuersenkungen angekündigt hatte. Dieser Vorfall erinnert daran, dass diese Märkte ständig auf der Lauer liegen und bereit sind, jede Gelegenheit zu nutzen, um zu spekulieren. Diese Finanzmärkte sind ebenso schizophren wie rücksichtslos gegenüber dem politischen Personal an der Macht. Sie fordern Steuersenkungen und verlangen, dass öffentliche Gelder in jedweder Form an sie zurückfließen. Gleichzeitig aber bestrafen sie die Regierungen, die dies zu brutal tun. Sie profitieren in vollen Zügen von der Staatsverschuldung, verleihen aber zu Wucherzinsen an diejenigen, die zu hoch verschuldet sind. Ein Macron wird von den Finanzmärkten aufgefordert, die Renten der Arbeitenden anzugreifen. Gleichzeitig wird er bestraft, wenn er dadurch eine politische und soziale Krise auslöst.

Drohende neue Bankenkrachs, Gefahr einer Schuldenkrise...: Die Krise der kapitalistischen Wirtschaft verschärft sich weiter. Heute nimmt sie zusätzlich die Form einer anhaltenden Inflation an, die in Verbindung mit steigenden Zinssätzen zu einer wirtschaftlichen Rezession führen könnte, d. h. zu einem Rückgang der materiellen Produktion und zur Schließung von Unternehmen. Die Direktorin des IWF prognostizierte Anfang Januar: „Ein Drittel der Weltwirtschaft wird sich 2023 in einer Rezession befinden“.

 

Die Inflation und diejenigen, die sie auslösen

Inflation und Rezessionen werden immer als natürliche Phänomene dargestellt, als mehr oder weniger mechanische Folgen der Unwägbarkeiten, denen die Wirtschaft ausgesetzt ist. Die Wirtschaftszeitschriften sind voll von Analysen über die konjunkturellen oder strukturellen Ursachen der Inflation. Diejenigen, die 15 Jahre lang nicht verstehen konnten, warum das billige Geld keine Inflation verursachte, behaupten heute, sie könnten die Inflation erklären und stellen regelmäßig Prognosen über ihre Dauer auf, die dann von den Tatsachen widerlegt werden. In Wahrheit nämlich haben sie keine Ahnung.

Inflation und Rezessionen sind keine natürlichen Phänomene. Sie werden hervorgerufen und verstärkt durch die Entscheidungen der mächtigsten Kapitalisten, die in Schlüsselbereichen der Wirtschaft eine Monopolstellung innehaben. Der Krieg in der Ukraine, die Energiekrise, die Energiewende, die durch die lange pandemiebedingte Abschottung Chinas verursachte Knappheit, die sich beschleunigende wirtschaftliche Rivalität zwischen Europa und den USA und viele andere Faktoren tragen zwar zur Inflation bei. Aber die Energiepreise waren schon lange vor dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine und der Schließung der Gaspipelines aus Russland gestiegen. Der Mangel an Containern und die Störung des Seeverkehrs durch die Corona-Pandemie dienten den Reedern als Vorwand, um den Preis für eine Fahrt von Shanghai nach Le Havre um das Sieben- oder Zehnfache zu erhöhen. Zwei Jahre später allerdings sind die Preise noch immer nicht wieder auf das Niveau vor der Pandemie gesunken. Hinter diesen Preiserhöhungen stehen in erster Linie die Entscheidungen von Wirtschaftsbossen, die sich in einer starken Position befinden. Für die Steigerung der Ölpreise sind nicht zuletzt die Entscheidungen der fünf größten Ölgesellschaften der Welt verantwortlich, die im Jahr 2022 einen Gewinn von 200 Milliarden US-Dollar erzielt haben. Für die Steigerung der Transportkosten sind zu nicht unwesentlichem Teil die Schifffahrtskonzerne verantwortlich, darunter die französische CMA-CGM (25 Milliarden Euro Gewinn in 2022) und die dänische Maersk (27 Milliarden Euro).

Die letzten jährlichen Verhandlungen zwischen den Supermarktkonzernen und den Lebensmittelkonzernen haben einen weiteren Teil des Schleiers gelüftet. Die Bosse der großen Supermarktkonzerne spielten sich als Verbraucherschützer auf und verkündeten: „Die Industriellen verlangen wahnwitzige Preiserhöhungen.“ (Alexandre Bompard von Carrefour), „Die Industriellen nutzen die Situation aus und verlangen ungerechtfertigte Preiserhöhungen.“ (Michel Biero von Lidl). Ein Kolumnist des Figaro berichtete am 20. März über die Besorgnis des sehr unternehmerfreundlichen deutschen IFO-Instituts: „Einige Unternehmen haben die Inflation zum Vorwand genommen, um ihre Gewinne stark zu steigern, ganz besonders im Handel, im Baugewerbe und in der Landwirtschaft.“ Die EZB runzelte zaghaft die Stirn: „Die Gewinne steigen weiterhin stark an. Dies bedeutet, dass die höheren Kosten konsequent auf die Verkaufspreise aufgeschlagen werden.“ Der Kolumnist des Figaro schloss mit der sehr anschaulichen Formel: „Inflation ist das Gesetz des Dschungels, und die Stärksten gewinnen.

Um es anders auszudrücken: Unabhängig von der Geldpolitik der Zentralbanken – ob billiges Geld oder Kreditrestriktion – schaffen es die mächtigsten Kapitalisten immer, den Löwenanteil des von den Arbeitenden geschaffenen Reichtums abzugreifen – zum Nachteil der mittleren Kapitalisten und am Ende der Kette zum Nachteil der Verbraucher in der arbeitenden Bevölkerung. Die Verbraucher haben von der Zeit der niedrigen Zinssätze nicht profitiert, werden aber für den Anstieg der Zinssätze einen hohen Preis zahlen, und zwar an allen Ecken und Enden. Für die Arbeitenden bedeutet Inflation Verarmung, da die Löhne immer hinter dem Anstieg der Preise zurückbleiben, und Rezessionen bedeuten Entlassungen und steigende Arbeitslosigkeit. Zum Gespenst einer Bankenkrise wie 2008, die die Rezession beschleunigen würde, kommt das Gespenst einer Staatsschuldenkrise wie die Griechenlands 2010: Unter dem Vorwand, die Verschuldung des Landes zu verringern und die Finanzmärkte zu beruhigen, wurden Rentner, Beamte und die einfache Bevölkerung des Landes zur Ader gelassen. Das tragische Zugunglück auf der Strecke Thessaloniki-Athen symbolisiert das Schicksal der griechische Bevölkerung. Sie leidet unter kaputtgesparten Öffentlichen Diensten im Transport-, Gesundheits- und Bildungswesen, unter überhöhten Preisen und miserablen Löhnen und Renten. Dieses Schicksal droht den Arbeitenden in ganz Europa, wenn sie die Macht der Bourgeoisie nicht in Frage stellen.

 

Die Agonie des Kapitalismus und die Aufgaben der Revolutionäre

Angesichts der vielfältigen Gefahren für die Gesellschaft, die die kapitalistische Wirtschaft mit sich bringt, gibt es keinen reformistischen Weg. Es gibt keine gute Politik der Zentralbanken, keine gute Regierung, die „eine andere Verteilung des Reichtums“ organisieren würde, wie es die Reformisten unserer Zeit fordern. „Die Bourgeoisie selbst sieht keinen Ausweg“, sagte Trotzki 1938 im Übergangsprogramm am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Als Antonio Guterres, Generalsekretär der Vereinten Nationen, kürzlich erklärte: „Die Welt steuert mit offenen Augen auf einen größeren Krieg zu“, formulierte er denselben Gedanken: Außer einem neuen Weltkrieg, dessen Vorbereitung seit einem Jahr von allen Generalstabschefs beschleunigt wird, gibt es keinen Ausweg aus der allgemeinen Krise des Kapitalismus.

Der einzige andere Ausweg ist die soziale Revolution. Der einzige positive Ausweg besteht darin, die Banken und das Bankensystem, alle Produktions-, Transport- und Vertriebsmittel den Händen des Großkapitals zu entreißen und sie unter die Kontrolle derjenigen zu stellen, die alles produzieren: die Arbeiter. Sie können und müssen diese Mittel völlig neu organisieren, sie rational, koordiniert und planmäßig einsetzen, mit dem Ziel, alle Bedürfnisse der Menschheit zu befriedigen, ohne Hunderte Millionen an Frauen und Männer auszubeuten, ohne alle Ressourcen, die Arten und die Umwelt zu zerstören. Alle wirtschaftlichen Grundlagen für eine solche kommunistische Organisation der Gesellschaft sind vorhanden. Die internationale Arbeiterklasse war noch nie so zahlreich und wurde von der kapitalistischen Organisation selber konzentriert und vereint.

Die Arbeiterklasse ist heute allerdings weit davon entfernt, sich ihrer Aufgaben und potenziellen Kraft bewusst zu sein. Sie haben sogar das Bewusstsein dafür verloren, dass sie gegenüber der Bourgeoisie eine einheitliche Klasse bilden. Das gesamte politische Erbe der revolutionären Arbeiterbewegung, das nacheinander von Marx, Engels, Lenin und Trotzki verkörpert wurde sowie alle Lehren aus den vergangenen Arbeiterrevolutionen, die insbesondere im Übergangsprogramm zusammengefasst wurden, müssen völlig neu erlernt werden. Die Beschleunigung der Krise wird jedoch Millionen von Arbeitenden auch in den reichen Länder und auch berufliche Gruppen wie Techniker oder leitende Angestellte, die lange Zeit von der Krise verschont blieben, dazu bringen sich zu wehren, um ihre Existenzbedingungen zu verteidigen. Diese Kämpfe und Mobilisierungen – für Lohnerhöhungen, gegen die hohen Lebenshaltungskosten, gegen Arbeitslosigkeit und Entlassungen, gegen die mit der Brechstange durchgesetzten Sparmaßnahmen, gegen die aufeinanderfolgenden arbeiterfeindlichen Reformen, gegen die Schließung von Krankenhäusern oder Schulen, gegen die Wiedereinführung des Wehrdienstes – müssen allesamt Gelegenheiten für die Arbeiter werden, ihr Klassenbewusstsein wieder zu erlangen. Das setzt voraus, dass es in der Arbeiterklasse kommunistische Aktivisten gibt, die versuchen, sich auf jedes Ereignis, jeden Teilkampf und erst recht auf Massenbewegungen, in denen Zehntausende politisch aufgerüttelt werden, zu stützen, um das Klassenbewusstsein voranzubringen. Das beginnt damit, zu verstehen, dass die Macrons, Le Pens oder Mélenchons, die die Angriffe ausführen oder sich als Alternativen aufspielen, nur austauschbares kleines Personal im Dienst des Kapitals sind. Dass die Polizei, die Justiz, das Parlament und letztlich alle Institutionen Teil eines Staatsapparates sind, der vollständig auf die Verteidigung des Privateigentums an den Produktionsmitteln ausgelegt ist. Dass es keine anderen Verhandlungen, keinen anderen sozialen Dialog als das Kräfteverhältnis gibt und dass die Unternehmer kein Zugeständnis machen und kein Recht gewähren werden, ohne dass ihre Profite gefährdet sind. Dass die Bourgeoisie jedes Mal mit der linken Hand doppelt so viel zurücknimmt, wie sie mit der rechten Hand gegeben hat. Dass die Arbeiter ihre lebenswichtigen Forderungen ohne Zensur vorbringen müssen. Und dass sie sich durch die Einrichtung von Organen unter ihrer Kontrolle die Mittel verschaffen müssen, ihre Kämpfe und ihre Angelegenheiten selbst zu leiten, ohne sich auf die Gewerkschaftsführer zu verlassen.

Alle kleinen und großen Kämpfe müssen genutzt werden, damit weitere Teile der Arbeiterklasse verstehen, dass ihre Klasse die Diktatur der Bourgeoisie stürzen und die Führung der Gesellschaft übernehmen muss. Denn dies ist der einzige Weg, um den Abgrund zu verhindern.

 

27. März 2023