Die russische Gesellschaft und Putins Bruderkrieg

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Lutte de Classe - April 2022
April 2022

(aus Lutte de Classe Nr. 223, April 2022)

 

Der Einmarsch von Putins Armee in die Ukraine am 24. Februar löste Erstaunen und Entsetzen aus. Wie viele Russen, wie viele Ukrainer hätten sich vorstellen können, von den Massakern an Zivilisten ganz zu schweigen, dass ein Krieg zwischen ihnen überhaupt möglich gewesen wäre? Trotz der Grenze, die sie seit drei Jahrzehnten trennt, betrachteten sich die meisten noch vor kurzem als ein einziges Volk.

Doch die Art und Weise, wie sie es empfinden, könnte sich mit dem Krieg und vor allem mit der rasenden nationalistischen Wut, mit der jede Seite „ihre“ Bevölkerung zu berauschen versucht, radikal und dauerhaft ändern.

 

Alles andere als ein Blitz in einem heiteren Himmel

Seit Monaten warnte die US-Staatsführung vor einem unmittelbar bevorstehenden russischen Angriff. Eine Prognose? Auf jeden Fall ein Instrument der internationalen Propaganda, denn bevor es zu einer offenen Konfrontation kam, führte der Showdown zwischen den beiden Seiten zu einer Reihe großer Militärmanöver an der ukrainischen Grenze für die russische Armee, im Schwarzen Meer und in den baltischen Staaten für die NATO-Streitkräfte. Das Klirren der Waffen unterstützte die Argumente, die Diplomaten und führende Politiker beider Seiten bei wiederholten Treffen austauschten, bei denen es vor allem um den möglichen Beitritt der Ukraine in die NATO ging.

Für Russland kam dies nicht in Frage. Das hätte bedeutet, dass ein Land, mit dem es eine lange gemeinsame Vergangenheit, die gleiche Sprache und zahllose familiäre, kulturelle und sonstige Bande teilt, in das Lager gegenüber übergegangen wäre. Dieser Beitritt hätte die militärische Umkreisung Russlands durch die NATO vollendet, da deren Truppen und Raketen nun in direktem Kontakt mit den russischen Grenzen gestanden hätten. Denn die NATO, ein Militärblock, der 1949 von den USA und ihren Verbündeten gegen die Sowjetunion gegründet wurde, ist nicht mit dem Zusammenbruch der UdSSR verschwunden. Während Ende 1991 verschwand, was der NATO im Kalten Krieg als Rechtfertigung diente, nämlich die Existenz einer als Supermacht und Bedrohung dargestellten UdSSR, hat sich dieses Militärbündnis in den letzten drei Jahrzehnten immer weiter verbreitet und verstärkt, und das fast ausschließlich auf Kosten Russlands.

Nachdem monatelange internationale Diskussionen über die Ziele der NATO in der Ukraine erfolglos geblieben waren, beschloss Putin am 21. Februar, die Unabhängigkeit der Republiken Lugansk und Donezk, Sezessionsgebiete im ukrainischen Donbass, anzuerkennen. In der großrussisch-nationalistischen Art des Zarismus, die er liebt, stellte Putin, der einem ukrainischen Staat jegliche Legitimität verweigert, die „moderne Ukraine als Schöpfung des bolschewistischen Russlands“ dar. Er schlug sogar vor, sie in „Ukraine von Wladimir Lenin “ umzubenennen, da es Lenin war, der während der Revolution von 1917 das Recht auf Selbstbestimmung der ukrainischen Nation zuerkannt hatte. Ein Recht, dass die Bolschewiki allen nationalen Minderheiten gewährten, die der Zarismus unterdrückt hatte, weil sie wussten, dass sie sich dabei auf die Mobilisierung und das Klassenbewusstsein der russischen, ukrainischen und anderen Proletarier und Ausgebeuteten stützen konnten. Aber ein Recht, bemerkte Putin, und begrüßte es, dass Stalin zunichte gemacht hatte, indem er die UdSSR in eiserner Faust hielt. Erklärter Feind des Bolschewismus und der Völkerrechte, Verfechter der nationalen Unterdrückung in zaristischer und stalinistischer Variante: Das charakterisiert den Führer einer reaktionären, chauvinistischen und arbeiterfeindlichen russischen Bürokratie sehr gut.

 

Zu den jüngsten Ursprüngen des aktuellen Konflikts

Nicht erst jetzt steht die Ukraine im Mittelpunkt der Auseinandersetzung zwischen dem Lager des Imperialismus einerseits, den bürgerlichen Staaten, die die Welt beherrschen und sie der Ausbeutung durch ihre kapitalistischen Großkonzerne ausliefern, und dem Lager der russischen Bürokratie andererseits. Die „orangene Revolution“ von 2004 hatte bereits dazu geführt, dass pro-westliche ukrainische Politiker für eine kurze Zeit an die Macht kamen. Aber erst die „Maidan-Ereignisse“, die sich zehn Jahre später im Zentrum von Kiew ereigneten, sollten den Wendepunkt darstellen. Nach Demonstrationen, die die Repression nicht niederschlagen konnte, musste Präsident Janukowitsch, der von der Bevölkerung verhasst war, die ihn mit den Plünderern der Oligarchie und der Bürokratie verbanden, fliehen. Jahrelang hatte er zwischen West und Ost geschwankt. Doch 2014 wollte Washington ihn daran hindern, Moskau um Mittel zu bitten, um dem Druck der westlichen Finanzinstitutionen standzuhalten, und steuerte seinen Sturz durch die Straße, in der Tat durch die ultranationalistische extreme Rechte, mit Hintergrund einer starken Unzufriedenheit der Bevölkerung.

Der Kreml antwortete auf diesen Putsch mit einem weiteren. Er annektierte die Krim, ein Gebiet Sowjetrusslands, das Chruschtschow 1954 an die Ukraine abgetreten hatte, und löste die Sezession des Donbass im Osten des Landes aus. Da die Kiewer Behörden nicht die Kraft hatten, die Krim zurückzuerobern, schickten sie ihre Armee auf den Donbass, eine russischsprachige Bergbau- und Industrieregion, die für Kiew von größter Bedeutung war. Zu diesem Zweck erhielten sie mehr oder weniger diskrete Unterstützung von der NATO, die ihnen Militärberater und moderne Waffen schickte, sowie die offene Unterstützung von rechtsextremen paramilitärischen Gruppen - denjenigen, die 2014 am Ruder waren und heute Selenskis territoriale Verteidigung leiten. Und seit acht Jahren kämpft das imperialistische Lager im Donbass gegen Russland über zwischengeschaltete Verbündete: die Truppen der aufeinanderfolgenden ukrainischen Regierungen; die pro-russischen Kräfte in Lugansk und Donezk. Ein Konflikt, von dem wir nicht sagen dürfen, dass er begrenzt sei, da er so viel Zerstörung auf beiden Seiten der Frontlinie und so viel Verwüstung unter der Bevölkerung verursacht hat: 15.000 Tote und zwei Millionen Vertriebene.

 

Krieg auf der gesamten Ukraine

Seit seinem Angriff auf die Ukraine vor einem Monat hat die russische Armee die großen Städte verwüstet, Tausende ihrer Einwohner getötet und ein Viertel der Bevölkerung auf die Fluchtrouten getrieben. Wenn Putin die ukrainischen Zivilisten so brutal bombardieren lässt, wie die NATO 1999 die serbischen Zivilisten in Belgrad bombardiert hatte; wenn er bereit ist, ukrainische Städte niederzureißen, wie er 1999 Grosny, die Hauptstadt des „russischen“ Tschetscheniens, zerstört hatte, der von ihm erhoffte Blitzkrieg ist doch ins Stocken geraten.

Wir werden hier weder von der Durchführung der Militäroperationen noch von den vom Kreml behaupteten Schwächen des militärischen und politischen Geheimdienstes (FSB) diskutieren. Die Verhaftung von zwei Generälen, denen vorgeworfen wird, strategische Informationen geliefert zu haben, die den Erwartungen des Kremls besser entsprechen als der Realität, hat den Vorteil, das Scheitern von Putins „militärischer Sonderoperation“ zu „erklären“ und vor allem Putin davon zu entlasten. Der Nachteil für das Regime besteht aber darin, dass es den Preis einer extrem autoritären Macht unterstreicht: die Tatsache, dass es sich auf die „Organe“ stützt, den allmächtigen FSB, sowohl politische Polizei als auch Geheimdienst, und dass es, um die „Vertikale der Macht“ zu krönen, einen Chef hat, dem man nicht widersprechen darf.

Auch wenn niemand weiß, wann und wie der Krieg enden könnte, hat dieser bereits gezeigt, dass Putins Verachtung des Völkerschicksals dort angekommen ist, wo jahrelange Hetze ukrainischer Nationalisten gescheitert war: Er hat die Bevölkerung, ob ukrainisch- oder russischsprachig, hinter „ihrem“ Staat, „ihren“ machtgierigen Oligarchen und ihrer „Vaterlandsverteidigung“ zusammengeschweißt.

Als Beispiel unter vielen anderen streikten im Dezember 2020, Eisen- und Uranbergarbeiter aus den russisch- und ukrainischsprachigen Regionen gemeinsam für ihre Löhne, gegen die privaten Minenbesitzer und gegen die Regierung Selenskis. Fünfzehn Monate später hat der kriegerische Nationalismus des russischen Staates die Situation verändert. Als Ergebnis der Invasion stärkte er einen ukrainischen Staatsnationalismus, der in der Lage ist, ihm entgegenzutreten, aber vor allem „dessen“ Arbeitende in den Schlingen des „Burgfriedens“ zu fesseln. Es ist nicht verwunderlich, dass die ukrainischen Machthaber rechtsextremen nationalistischen Gruppen die Aufgabe anvertraut haben, Mitglieder der Territorialverteidigung - Freiwillige oder gegen ihren Willen rekrutierte Mitglieder - anzuwerben, auszubilden und in den Kampf zu schicken.

Von daher zu behaupten, dass die Verteidigung der Ukraine von der in der Territorialverteidigung mobilisierten Bevölkerung abhängen würde, zeigt uns, wie groß der ganze Unterschied zwischen Realität und Propaganda ist. Bevor sie überhaupt daran denkt, in den Kampf zu ziehen, versucht die Mehrheit der Bevölkerung zu überleben, sich vor Bombenangriffen zu schützen, Lebensmittel zu besorgen, wenn die Geschäfte leer oder zerstört sind, einen Bus oder einen Zug für eine Provinz, die weit von den Kampfzonen ist oder ins Ausland zu finden.

Es ist jedoch eine Tatsache, dass russische Soldaten überall als Invasoren gesehen wurden. Vielleicht sogar, weil der Kreml sie glauben ließ, dass sie als Befreier empfangen sein würden, erklärt dies, warum russische Einheiten, die unbewaffnete Zivilisten vor sich sahen und hörten, was sie ihnen in ihrer eigenen Sprache zuriefen, hier ihre Panzerkolonne stoppten und dort wenig Eifer zum Kampf zeigten. Die ukrainischen Soldaten im Gegenteil, die von der Kraft der nationalen Gefühle, die die Invasion ausgelöst hat, angefeuert werden, sind davon überzeugt, dass sie ihre Familie, ihre Stadt und ihr Land verteidigen.

Natürlich, und auch wenn die westlichen Medien es anfangs verschwiegen haben, verdankt der Widerstand, auf den die russische Armee stößt, viel der militärischen und menschlichen Unterstützung, die die NATO Kiew seit Jahren gewährt: Entsendung von Ausbildern, von konventionellen Waffen, Einrichtung von Trainingslagern, gemeinsame Manöver, Übertragung militärischer Informationen, Flughäfen, die für große Träger ausgerüstet sind, die hochmoderne Waffen liefern... Die Vereinigten Staaten und die Europäische Union haben das Budget für ihre jeweilige Militärhilfe für die ukrainische Regierung gerade noch verdoppelt. Oder, anders gesagt, die Summen, die die imperialistischen Staaten ihren Rüstungskonzernen im Rahmen von Hilfsaufträgen für die Ukraine zur Verfügung stellen. Für diese ist es gesegnetes Brot. Es könnte ihnen fast das Paradies für „gute Taten“ versprochen werden, da die westlichen Führer ihre Kriegsgewinne mit unaufhörlichen Reden über die moralische Notwendigkeit rechtfertigen, einem angegriffenen Volk zu helfen, sich zu verteidigen! Reden, die auch darauf abzielen, die öffentliche Meinung des Westens hinter ihren Regierenden auf dem Schlachtfeld zusammenzubringen.

In Zeiten, in denen sich die Spannungen überall verschärfen, vor dem Hintergrund einer sich verschärfenden weltweiten Krise und immer lauter werdender Stiefeltritte, könnte dieses Konditionieren einer Generalprobe gleichkommen.

 

Was die Konfrontation zwischen Russland und der Nato offenbart

Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Dass die herrschenden Klassen zu diesem extremen Mittel greifen, macht innere und äußere Spannungen deutlich, die sie mit den üblichen Regierungsmethoden nicht oder nicht mehr lösen können. Während diese Krisensituation als Indikator für diese Widersprüche wirkt, verstärkt und verschärft sie bestimmte Erscheinungsformen davon.

Die Anhäufung von sozialen, wirtschaftlichen, politischen und strategischen Problemen, die ungelöst wurden oder die seit der Auflösung der UdSSR aufgetreten sind, ist an der Wurzel dieses Krieges zwischen den beiden größten Nachfolgestaaten, die aus dem Zerfall der UdSSR hervorgegangen sind.

Kommentatoren halten Putin für einen gefährlichen Amokläufer. Als ob die Fokussierung auf die Persönlichkeit dieses oder jenes Führers die Frage erschöpfen würde! Für die Meinungsbildner hat dies jedoch einen großen Vorteil: sie verdrängen die wahren Ursachen des Krieges nicht nur auf russischer Seite, sondern auch auf Seiten der imperialistischen Staaten.

Niemand wird die Rolle der russischen und ukrainischen Führung leugnen. Die des Chefs der russischen Bürokratie, die Putin seit zwei Jahrzehnten verkörpert, äußert sich hier auf finstere Weise: nach außen kriegstreibend und nach innen immer repressiver. Dagegen bei Selenski ist Engelsglaube angebracht: Wir haben einen Schauspieler-Geschäftsmann, den dessen oligarchische Sponsoren an die Spitze eines ukrainischen Staates ohne Einheit, der von Korruption und Rechtsextremismus geplagt ist, gebracht haben und den dessen westliche Unterstützer nun zu einer Ikone der Demokratie machen. Doch abgesehen von der Inszenierung der jeweiligen Rollen Putins und Selenskis sind ihre Handlungen Teil eines Rahmens, in dem sich ein Bündel von Kräften verstrickt, die über sie hinausgehen. Und wir können das Spiel und das Wesen dieser seit Jahren wirkenden Kräfte nicht verstehen, wenn wir sie nicht mit ihrer Quelle in Verbindung bringen: mit den Entwicklungen, die Ende 1991 zum Zusammenbruch der Sowjetunion führten.

 

Der Ansturm der Bürokraten nach Westen

Die Teilung der UdSSR in 15 Staaten, die oftmals selbst vom Zusammenbruch bedroht waren, war das Ergebnis des Willens von Millionen von Bürokraten und ihrer ungezügelten räuberischen Tätigkeit.

Die Sowjetbürokratie war eine soziale Schicht von Verwaltern, Managern, kleinen und großen Chefs, die nur wenige Jahre nach der siegreichen Arbeiterrevolution vom Oktober 1917 an die Macht gelangte. Der Grund, wofür sie sich der Kontrolle entziehen konnte, die die Arbeiterklasse und ihre Partei, die Bolschewistische Partei, bis dahin über ihren eigenen Führungs- und Verwaltungsapparat ausgeübt hatten, war die physische, moralische und politische Erschöpfung der russischen Arbeiterklasse, die eine siegreiche Revolution durchgeführt, den Bürgerkrieg gewonnen und dann mit dem Aufbau ihres Staates begonnen hatte, während im Hintergrund die revolutionäre Welle zurückging, welche überall in Europa der Durst der Unterdrückten, das System zu zerstören, das die Menschheit in das erste Weltgemetzel geführt hatte, entfacht hatte.

Nachdem Stalin, der die Interessen der Bürokratie an der Spitze des Staates und der Partei vertrat, die starke Opposition der Anhänger Lenins und Trotzkis vernichtet hatte, konnte die Bürokratie auf der zunehmenden Ausplünderung der verstaatlichten und geplanten Wirtschaft ihre Privilegien stützen. Die gesellschaftliche Macht und die damit verbundenen Privilegien eines jeden Bürokraten hingen von seinem Platz im Regierungsapparat ab und davon, dass die Machthaber sein Recht nicht in Frage stellten, von der kollektiven Ausplünderung der Gesellschaft durch die Bürokraten zu profitieren.

Was die UdSSR in den Abgrund trieb, war gerade der Wille einer mittlerweile übergroßen privilegierten Gesellschaftsschicht, nicht länger eine staatliche Kontrolle über ihre Parasitenwirtschaft ertragen zu müssen. Diese Kontrolle war von Stalin bereits in den 1920er Jahren eingeführt worden, um zu verhindern, dass die Habgier und Verantwortungslosigkeit der Bürokraten ihr eigenes System gefährden. Damit die Bürokraten auf dem richtigen Weg bleiben, hatte er zu drastischen Mitteln greifen müssen, und die Mitglieder der privilegierten Kaste konnten dem blutigen Terror ihres eigenen Regimes nicht entgehen.

Nach Stalins Tod im März 1953 haben die Machthaber ihre Kontrolle über die Bürokratie gelockert. Dies reichte, damit die Abzüge, die die Bürokratie aus der Wirtschaft zog, ihre Diebstähle und dessen Sozialschmarotzertum sich vergrößern und die sowjetische Wirtschaft in eine zunehmende Stagnation stürzen. Aber da das Parasitentum der Bürokraten nicht gesetzlich anerkannt war, war es nicht genug, damit die legalen und illegalen Vorteile und Einkünfte, die sie daraus zogen, garantiert wurden und dass sie nicht mehr durch das System selbst in Frage gestellt oder bedroht werden konnten, jenes System, das die kollektiven Interessen der Bürokraten gegen die Bevölkerung schützte. Eine solche Garantie für ihren Status und ihr individuelles Einkommen hätte ihnen nur aus sozialen Verhältnissen von ganz anderer Art erwachsen können. Gesellschaftliche Verhältnisse, die nur auf dem Privateigentum an Produktions- und Handelsmitteln, auf dem Wettlauf um den individuellen Profit als Motor der Wirtschaft hätten aufgebaut werden können. Im Bild also dessen, was den Gesellschaften Westeuropas und Nordamerikas zugrunde liegt, der der Bourgeoisie eigenen Art von Klassenherrschaft: Kapitalistische Eigentumsverhältnisse, die von der Gesellschaft anerkannt, legitimiert und durch das Gesetz, den Staat und seine Repressionskräfte geschützt werden.

Um die Wende der 1980er Jahre wurde das Führungsteam, das die UdSSR seit Chruschtschow, wenn nicht sogar Stalin, geführt hatte, innerhalb weniger Monate von Alter und Tod eingeholt. Nachfolgekämpfe brachen an der Spitze der Staatspartei und des Staates aus, die die Mittel der Zentralmacht, um der herrschenden Kaste eine kollektive Disziplin aufzuerlegen, schwächten und schließlich neutralisierten. Eine Situation, die dieser Kaste die Möglichkeit eröffnete, ihre letztlich immer noch unsichere Rentenstellung gegen eine Rechtsbesitzposition einzutauschen, die wie die Begründung der Klassenherrschaft in den entwickelten kapitalistischen Ländern wäre.

 

Zur Zeit des Prinzips: „Alles muss weg“

Unter Gorbatschow, der 1985 unter den bereits beschriebenen Umständen an die Macht kam, würde der Appetit von Millionen von Bürokraten, einmal entfesselt, innerhalb weniger Jahre die Existenz eines einheitlichen Sowjetstaates zunichtemachen. Dies ging mit dem Willen einher an der Spitze wie auch auf allen Ebenen des Staatsapparats, dem Staatseigentum ein Ende zu setzen: Die Zeit war gekommen, die Wirtschaft, sowie alles, was Wert haben konnte, zu zerstückeln, wobei jeder Bürokrat „seinen“ Anteil haben wollte, ebenso wie ein Schwarm von Mafiosi und intriganten Emporkömmlingen aller Couleurs, die ebenfalls auf der Jagd waren. Was die Wirtschaftsplanung betrifft, die, selbst wenn sie bürokratisiert war – und damit eines großen Teils ihrer Wirksamkeit beraubt war –, noch immer ihnen wie ein Hindernis im Wege stand, sie würde bald in dem Chaos zugrunde gehen.

Im August 1990 schlugen einige Führer der Bürokratie unter dem Vorwand, die UdSSR aus der Krise zu retten, in die ihr System sie gestürzt hatte, einen Plan zur „Rückkehr zum Markt“ vor. Sie versprachen, dass das Land an den Ufern des kapitalistischen Eldorados landen könne, sobald das Staatseigentum liquidiert, der Großteil der Wirtschaft privatisiert und die Wirtschaft an den Weltmarkt gekoppelt sei. All das „in 500 Tagen“ - so lautete der Titel des Plans, den Gorbatschow und Jelzin in ihrem demagogischen Wettkampf übernommen hatten. Es dauerte ähnlich lange, bis sich die UdSSR nicht in ein Paradies für Bürokraten verwandelte, die davon träumten, Bourgeois zu werden, sondern bis sie, in Stücke gerissen, aufhörte zu existieren. Sie wurde den Meuten von Räubern ausgeliefert, während ihre Bewohner, ihre Wirtschaft, eigentlich die gesamte Gesellschaft in ein entsetzliches Chaos stürzten.

Amerika, nicht das von den Bürokraten phantasierte Amerika, sondern dass Amerika der mächtigsten Bourgeoisie der Welt, versuchte, einen totalen Zusammenbruch des sowjetischen Staates zu verhindern. Nicht aus irgendwelcher Seelengröße, sondern weil es die Gefahr einer nicht zu bewältigenden Destabilisierung eines Großteils der Welt sah. Am 1. August 1991 kam der ehemalige CIA-Chef, der US-Präsident geworden war, George H. W. Bush sogar nach Kiew, um die Abgeordneten der Rada und durch sie die sowjetische Führung vor einem „selbstmörderischen Nationalismus“ zu warnen und ihnen zu raten, in dem von Gorbatschow versprochenen erneuerten Sowjetstaat zu bleiben. Daran ist nichts Paradoxes, auch wenn sich ein Biden heute als Verfechter des Bruchs zwischen Kiew und Moskau inszeniert. Tatsächlich hatten die amerikanischen Führer in den letzten Tagen der UdSSR reichlich Zeit, sich davon zu überzeugen, dass die UdSSR von Stalin bis Gorbatschow nicht nur die Vorherrschaft des Imperialismus nicht bedroht hatte, sondern dass sie eine Grundsäule der Weltordnung war.

Aber selbst wenn Bush und vor allem über 60 Prozent der Teilnehmer am Referendum, das Gorbatschow zu dieser Frage organisiert hatte, zustimmten, wog die Idee, einen einheitlichen Sowjetstaat aufrechtzuerhalten, nicht schwer, angesichts einer riesigen Masse von Bürokraten, Profitgierigen aller Art und Kleinbürgern, die es kaum erwarten konnten, diesen Rahmen zu sprengen, um echte Bourgeois zu werden.

 

Versprechungen und Realitäten

Alles schien sie anzulächeln: Immer mehr ihrer Führer lobten diese Aussicht. Der Westen applaudierte, während seine Ideologen das Ende des „Kommunismus“ feierten und den endgültigen Sieg des Kapitalismus und - kein Witz! - das Ende der Geschichte verkündeten. Nach einem seit dem Fall der Berliner Mauer 1989 in Osteuropa erprobten Szenario strömten amerikanische Akademiker und Banker, die sich als Experten für den Übergang zum Markt ausgaben, nach Moskau, St. Petersburg und Kiew, um die Behörden zu beraten. In der gesamten UdSSR wurden „Schocktherapien“ durchgeführt: Privatisierungen ganzer Wirtschaftsbereiche, des Wohnungsbaus, des Gesundheit-, Bildungswesens, Freigabe der Preise, Abbau der sozialen Garantien, Insolvenz von Tausenden von Unternehmen, Massenentlassungen, unbezahlte Löhne, brutales Absinken der Renten, Inflation, die auf 2.000 Prozent hochschnellte! Dies stürzte die Gesellschaft ins Chaos und zig Millionen Menschen in bodenloses Elend.

Beim Ende der UdSSR und kurz danach hatten die Führer des Imperialismus Gorbatschow und dann Jelzin versprochen, eine „neue Weltordnung“ (Bush) und eine „Partnerschaft für den Frieden“ (Clinton) aufzubauen. Damit Gorbatschow die Wiedervereinigung Deutschlands zulasse, hatten Bush, Bundeskanzler Kohl und die britische Premierministerin Thatcher ihm gesagt, dass die NATO „nicht davon profitieren“ werde. Im folgenden Jahr ließ Gorbatschow die Unabhängigkeit der baltischen Sowjetrepubliken zu: Um ihn zu beruhigen, versprach ihm US-Außenminister James Baker, dass die NATO „keinen Zentimeter“ weiter nach Osten vorrücken würde.

Erst 1999 wurden Polen, die Tschechische Republik und Ungarn in die NATO aufgenommen. Aber es sollten noch weitere folgen: die baltischen Staaten 2002; die Slowakei, Rumänien, Slowenien und Bulgarien 2004; Kroatien und Albanien 2009; Montenegro 2017; Nordmazedonien 2020...

Bereits 1992, als die UdSSR gerade untergegangen war, entwarf das Weiße Haus Pläne in diese Richtung, wie aus verschiedenen offiziellen Texten und Berichten aus dieser Zeit hervorgeht. So erklärte Verteidigungsminister Paul Wolfowitz in seinem „Handbuch für eine Verteidigungsorganisation“: „Unsere Politik muss sich jetzt darauf konzentrieren, wie wir verhindern können, dass irgendein neuer potentieller Weltrivale auftaucht, und er betonte, dass „Russland die stärkste Militärmacht in Eurasien bleiben wird“. In die gleiche Richtung drängten auch die außen- und sicherheitspolitischen Berater mehrerer US-Präsidenten, Henry Kissinger und Zbigniew Brzezinski. Im Jahr 1997 betonte Brzezinski in seinem Buch „Das große Schachbrett“, dass in dem vom Verschwinden der UdSSR hinterlassenen „schwarzen Loch“, die Situation der Ukraine der „geopolitische Dreh- und Angelpunkt“ sei: sie von Russland abzuschneiden, würde Russland dauerhaft schwächen, sagte er, und eine NATO-integrierte Ukraine wäre ein „Dolch“, der auf Moskau „gerichtet“ wäre.

Im Klartext, während der imperialistische Westen im Jahrzehnt nach dem Ende der UdSSR einem nur marktwirtschaftlich orientierten und vor allem sehr geschwächten Russland aufgeschlossen zu sein schien, und selbst als Putin, der gerade Jelzin abgelöst hatte, erklärte, er erwäge, ja! dass Russland der NATO beitrete, schärften die imperialistischen Staaten weiterhin ihre Waffen. An der Plünderung von den Überresten der sowjetischen Wirtschaft teilzunehmen, Unternehmen zu übernehmen und Verträge abzuschließen, ohne dass ihre Kapitalisten zu hohe Risiken eingehen, sie waren nicht dagegen! Es kam aber für sie nicht in Frage, Russland und noch weniger der Ukraine (oder anderen ehemaligen Sowjetrepubliken) einen Platz in ihrem Konzert der Nationen einzuräumen. Oder dann als Staaten, die wirtschaftlich und politisch völlig beherrscht wären und weder die Mittel noch den Wunsch haben, die Vorherrschaft des Imperialismus über den Globus in Frage zu stellen.

 

Welche Integration in den Schoß des Kapitalismus?

Trotzki hatte kurz vor seiner Ermordung durch einen Agenten Stalins den Gedanken geäußert, dass die Bourgeoisie der späten 1930er-Jahre, wenn sie noch die Dynamik ihrer Jugend gehabt hätte, es geschafft hätte, die UdSSR der Bürokraten wieder zu integrieren und aus ihnen Kapitalisten wie alle anderen zu machen. Das hatte sie zum Beispiel Ende des 19ten Jahrhunderts getan, als sie in ihr Weltsystem neu industrialisierte Länder integrierte, in denen ein ganzer Teil der Gesellschaft, der Funktionsweise und der Institutionen immer noch vom Feudalismus geprägt waren, wie Japan und Deutschland.

Ein Jahrhundert später, als die UdSSR verschwand, war der Kapitalismus schon längst ins Alter geraten. Außerdem befand sich die kapitalistische Welt erneut in einer Systemkrise, die sich seitdem immer weiter verschärft hat. Wie wir damals sagten und es heute bestätigen, konnte das kapitalistische System der Sowjetunion und ihren Völkern keine andere Zukunft als eine vielschichtige Regression bieten.

1936 schrieb Trotzki in seinem Werk Die verratene Revolution in einer Diskussion über das Wesen der stalinistischen UdSSR folgendes: „Der Sturz der gegenwärtigen bürokratischen Diktatur ohne ihre Ersetzung durch eine neue sozialistische Macht würde somit die Rückkehr zum kapitalistischen System mit einem katastrophalen Niedergang von Wirtschaft und Kultur bedeuten.

Die Katastrophe in allen Bereichen kam sofort, und niemand weiß, ob und wann sich die ehemalige UdSSR davon erholen könnte. Was die Rückkehr zum Kapitalismus betrifft - deren Tempo und Bedingungen Trotzki keineswegs vorhersagen wollte, da sein Problem darin bestand, alles zu tun, damit sie nicht eintritt, so ist sie ein halbes Jahrhundert später immer noch ... angekündigt. Denn obwohl das Staatseigentum und der Plan abgeschafft wurden, wie die meisten Errungenschaften des Oktobers, und das Privateigentum an Produktionsmitteln abgestimmt und gesetzlich verankert wurde, ist der Kapitalismus in Russland noch nicht wirklich wiederhergestellt.

Zumindest nicht so, wie er in den ehemaligen Volksdemokratien Osteuropas es gewesen ist. Und auch nicht in den Formen, die in den Szenarien zur Wiedereinführung des Marktes vorgesehen waren, die von russischen und westlichen „Doktoren“ entworfen wurden, die behaupteten, die ehemalige UdSSR vom kollektivistischen Übel zu heilen.

 

Die Eigentumsverhältnisse „im russischen Stil“ bringen schlechte Überraschungen

Mit dreißig Jahren Rückblick ist die Bilanz ziemlich leicht zu ziehen. Damals kamen, auch bei den radikalen Linken, einige, die Worte mit Taten verwechselten und glaubten, dass erklärte Absichten schon Wirklichkeit bedeuteten, zu dem Schluss, dass die ehemalige UdSSR in den Schoß des Kapitalismus zurückgekehrt sei. Bis zu einem gewissen Maße stimmt das. Aber das bedeutet keineswegs, dass sich die Bürokratie verwandelt hätte, noch dass sie sich bald in eine Bourgeoisie im kapitalistischen Sinne verwandeln würde.

Die Bürokratie selbst hat einige Zeit gebraucht, um dies zu erkennen. Für Millionen von ehemaligen sowjetischen Bürokraten war der Verlust ihrer Illusionen ein schmerzhafter Prozess von massivem Ausmaß.

Die Plünderung der sowjetischen Wirtschaft in den Jahren 1991-1992-1993 schlug die Stunde für den rasanten Reichtum von Individuen, die aufgrund ihrer persönlichen Situation, ihrer Beziehungen zu Mitgliedern des Machtapparats, ihrer Verbindungen zu Mafia-Clans und viel Glück in die Lage versetzt wurden, diese „neuen Russen“ zu werden, wie sie damals genannt wurden, und Oligarchen für diejenigen, die sich am meisten bereicherten. Der Begriff „Oligarch“, der von dem altgriechischen Wort stammt, das die Regierung durch eine kleine Minderheit bezeichnet, passte gut zu der Tatsache, dass nur bestimmte Geschäftsleute sich über Wasser gehalten hatten, die Kugeln ihrer Rivalen überlebt hatten und so erfolgreich waren, dass sie ganze Wirtschaftszweige wie die Ölindustrie, die Medien und das Bankwesen unter ihre Kontrolle bringen konnten. So sehr, dass sie in Rekordzeit so viel Geld und Macht gesammelt hatten, dass sie sich damit brüsteten, die Macht zu besitzen, wenn nicht sogar die Macht zu sein. Beresowski zum Beispiel prahlte damit, die Wiederwahl von Präsident Jelzin inszeniert zu haben, der ihm und seinen Komplizen nun nichts verweigern konnte. So gelang es ihm und sechs derartigen Geiern, darunter Gussinski, Potanin und Chodorkowski, den Großteil der Industrieunternehmen an sich zu reißen, die Jelzin, der an der Spitze eines mittellosen Russlands war, privatisierte. Die Operation „Darlehen gegen Aktien“ bestand darin, dass sie, indem sie das Geld, das sie von einem russischen Staat gestohlen hatten, der zu schwach war, um sie daran zu hindern, dem Kreml „liehen“, die Aktien von Großkonzernen erwarben, die bis dahin in Staatsbesitz geblieben waren!

Damals wurden diese Oligarchen manchmal mit den „Räuberbaronen“ des sich in den 1870er Jahren industrialisierenden Amerikas verglichen. Zweifellos aufgrund ihrer Methoden und ihrer Raffgier. Aber da endet der Vergleich. In Amerika gab es nicht, wie 120 Jahre später in Russland, Millionen von Kandidaten, die sich um eine schnelle Bereicherung bewerben konnten, die aber Gefahr liefen, dabei alles zu verlieren: ihren sozialen Status, ihre Privilegien, manchmal sogar ihr Leben. In der UdSSR hatte es jahrzehntelang keine Bourgeoisie mehr gegeben: Revolution und Bürgerkrieg hatten ihre Wurzeln selbst ausgerottet. Infolgedessen war die einzige privilegierte Gesellschaftsschicht die der Bürokraten gewesen. Diese zogen ihre Privilegien aus der Position, die sie im Einparteienapparat oder in den sowjetischen Institutionen innehatten, nicht aus dem Besitz eines Unternehmens oder von Aktien, nicht einmal aus einem Anteil am Kapital der gesamten Gesellschaft. Ihren Status und ihr Einkommen schuldeten sie dem Staat, der der kollektive Inhaber des Reichtums, der den Arbeitenden gestohlenen Mehrarbeit, war und diesen unter den Bürokraten verteilte.

Natürlich gab es in Bezug auf Privilegien keine Gemeinsamkeiten beispielsweise zwischen einem Direktor der riesigen Maschinenbaufabrik Uralmasch in Swerdlowsk (dem heutigen Jekaterinburg), der Hauptstadt des sowjetischen militärisch-industriellen Komplexes, und einem kleinen Vorgesetzten, der für die Vergabe von Gutscheinen an die Arbeiter für Aufenthalte in den von der Fabrik abhängigen Ferienzentren zuständig war. Beide waren jedoch auf ihre Weise Teil der Bürokratie und hatten eine Position, die es ihnen ermöglichte, „Dienste zu leisten“, wenn auch auf sehr unterschiedlichem Niveau, aber immer gegen verschiedene Vergünstigungen. Mit seinen 30.000 Beschäftigten im Jahr 1990 sorgte Uralmasch so direkt für den Lebensunterhalt von Hunderten von Bürokraten, Jung und Alt, in der Fabrik selbst (Leitung, offizielle Gewerkschaften, Sozialwerke, Wohnwesen, Poliklinik, Parteiinstanzen usw.) und noch viel mehr in der Stadt und der Region. Wenn jedoch Direktorensöhne schon 1990 die IT-Abteilung von Uralmasch für eigene Rechnung privatisierten, wenn mafiöse Gruppen, die mit den regionalen Behörden verbunden waren, später um den Besitz der Fabrik, ihrer Maschinen, ihrer Bestände, ihrer Lagerhäuser und unzähliger Gebäude – ob industriell oder nicht – sowie um die Produktion kämpften, diejenigen, die davon profitierten, weil sie ein Eigentumsrecht vorweisen konnten - und sich auf starken Schutz an hohen Stellen verlassen konnten – überstiegen nicht mehr als ein paar Dutzend Personen. Ihnen gegenüber standen schätzungsweise tausend andere Bürokraten aller Ränge, die im vorherigen System eine Position und garantierte Vorteile gehabt hatten und mit dem Verschwinden des Staatseigentums an dieser riesigen Fabrik alles verloren hatten.

Und man kann die Wut einer Menge von Offizieren ahnen - Mitglieder eines des großen bürokratischen Apparats, einst Lieblingskinder des Regimes, mit beneidenswertem Status, die Zugang zu gut ausgestatteten Spezialgeschäften hatten -, die aber Anfang der 1990er Jahre in baufälligen Baracken mit von der Inflation aufgezehrten Gehältern leben mussten. Oder was jene Marineoffiziere dachten, die sich mit ihren Familien auf „beschlagnahmten“ Kriegsschiffen im Hafen von Wladiwostok drängten, weil sie nirgends unterkommen konnten. Und währenddessen machte „ihr“ Minister, der äußerst korrupte Pawel Gratschow, der dem nicht minder korrupten Präsidenten Jelzin nahestand, Geschäfte mit den Oligarchen, veruntreute das Geld für Löhne und Ausrüstungen und kaufte sich damit unter anderem Luxusautos - daher sein Spitzname Pascha[1] Mercedes!

Man könnte endlos die Beispiele vervielfachen, an denen eine Menge von Bürokraten schließlich zu der Überzeugung gelangte, dass, wenn der Kapitalismus dies ist, sie nichts zu gewinnen, sondern alles zu verlieren hätten.

 

Die Oligarchen auf Linie und unter Kontrolle bringen

In den späten 1990er Jahren wurde dieses Bewusstsein, das sich schließlich Millionen der von der Bürokratie Ausgestoßenen angeeignet hatten, zur Stärke desjenigen, der es an der Spitze des FSB unter Jelzin zum Ausdruck brachte und ihm später als Präsident nachfolgen sollte: Putin. Ex- KGB-Leute wie er waren in einer guten Position, um genau zu wissen, dass die Oligarchen, Produkte des Marktes, ihren eigenen Markt machten, indem sie Russland buchstäblich seines Reichtums beraubten. Das musste aufhören, sonst würde Russland in die Knie gehen und mit ihm Millionen von Privilegierten. Um dies zu verhindern, mussten Putin, die FSB-Leute und diejenigen des „Petersburger Clans“, die an der Plünderung in den 1990er Jahren nicht zuletzt reichgeworden waren, die Oligarchen unterwerfen.

Die Machthaber zwangen sie, sich nicht mehr in die Politik einzumischen, Steuern zu zahlen und „ihre“ wichtigsten Unternehmen an den Staat zurückzugeben. Dies sollte dem russischen Staat ermöglichen, riesige halbstaatliche Konzerne in den Bereichen Energie, Rüstung, Raumfahrt und Außenhandel zu gründen oder zu konsolidieren, oft mit einem einzigen landesweiten Unternehmen. Solche Unternehmen, deren bestes Beispiel der globale Ölgigant Gazprom ist, die auf ihre Weise die sowjetische Tradition der Konzentration der wirtschaftlichen Mittel in den Händen des Staates und innerhalb derselben Struktur fortsetzen, waren und sind zweifellos noch ein mächtiges Instrument für die Behörden. Dadurch können sie nämlich schnell reagieren und mit den Entwicklungen und Auswirkungen der Weltkrise umgehen, und zwar effizienter als beispielsweise in den USA, wo der Öl- und Gassektor auf ein halbes Dutzend großer Unternehmen verteilt ist, die jeweils ihre eigenen Aktionäre und damit ihre eigene Strategie je nach ihren Interessen haben.

Angesichts der Übernahme der Wirtschaft durch den Staat ab den 2000er Jahren, rebellierten einige Oligarchen. Die Unzufriedenen landeten im Gefängnis, verloren einen Teil der von ihnen kontrollierten Unternehmen und bekamen dann das Recht, ins Ausland zu gehen, um das zu genießen, was ihnen noch blieb. Nachdem sie die „Argumente“ des FSB zu spüren bekommen haben, hielten sich einige von ihnen zurück. Andere verloren dabei manchmal ihr Leben. Wieder andere, die zu Gouverneuren einer benachteiligten Region ernannt wurden, wurden aufgefordert, von dem, was sie gestohlen hatten, Geld für große Ausgaben für deren Infrastrukturen zu bezahlen. Abramowitsch, der sich in dieser Situation befand, bevorzugte dem Titel des erzwungenen Wohltäters einer Region denjenigen des britischen Residenten und des Besitzers des Chelsea-Fußballclubs. Sein Partner Alischer Usmanow, ein enger Vertrauter Putins, hatte Interesse für den FC Arsenal.

Der bekannteste gestürzte Oligarch ist Chodorkowski. Erstes Vermögen des Landes und Generaldirektor des Ölkonzerns Jukos. 2003 wurde er wegen massiver Betrugs- und Steuerhinterziehung verhaftet. Eigentlich, weil er Jukos an die US-Unternehmen Chevron und Exxon-Mobil verkaufen wollte, ohne das grüne Licht des Kremls zu haben. Seine Firma und andere Besitztümer wurden beschlagnahmt und er kam erst zehn Jahre später aus dem Gefängnis frei. Er lebt jetzt in London, in der Nähe der City, die mit ihren Steueroasen-Spezialisten viele Magnaten anzieht, ob sie mit dem Regime auf gespanntem Fuß stehen oder nicht, die es aber für sicherer halten, im Westen des Großkapitals zu operieren als in ihrem heimatlichen Wilden Osten.

 

Die Generation von „Putins Oligarchen“

Durch die Wiederübernahme der Staatsgeschäfte für die Bürokratie, was er die Wiederherstellung der Machtvertikale nannte, zwang Putin die Oligarchen zur Unterwerfung oder Auszuwanderung. Doch nicht alle sind verschwunden. Sie sind immer noch da, sogar zahlreicher (einige Hundert) und reicher als unter Jelzin. Da sind solche aus dem halbstaatlichen Bereich wie Alexei Miller aus Putins engerem Clan, der Gazprom und ein Medienimperium besitzt, oder Igor Setschin, der den großen Ölkonzern Rosneft leitet. Dann gibt es die von privaten Konzernen, die manchmal Überlebende der ersten Periode sind: Aven (5,3 Milliarden Dollar in Öl, Banken und Telekommunikation), Potanin (27 Milliarden in Bergbau und Metallurgie), Fridman (15,5 Milliarden in Energie und Bank) oder Oleg Deripaska, der König des Aluminiums (3,8 Milliarden) ...

Über ihre Unterschiede hinaus in Größe, Reichtum, Tätigkeitssektor und Kapitalbeziehungen zu ausländischen Unternehmen – Beziehungen, die verstärkt wurden und die bedeuten, dass westliche Sanktionen selektiv wirken können - haben diese „großen Bosse“ nach russischem Vorbild erlebt, wie sich ihre Situation und ihr Status weiterentwickelt haben. Abgesehen von einigen Ausnahmen sind die Zeiten vorbei, in denen Streitigkeiten zwischen ihnen mit Kalaschnikows geregelt wurden. Auch wenn die Gerichtsurteile nach wie vor stark von den politischen Anordnungen und von dem Appetit des einen oder anderen Clans hoher Bürokraten abhängen, die a priori nichts mit der Geschäftswelt zu tun haben, wird heute davon ausgegangen, dass sich das Eigentumsrecht in der Welt der Oligarchie etwas stabilisiert hat. Aber bei kleinen und mittleren Unternehmen sind Erpressungen durch bürokratische Behörden (Steuerbehörde, Polizei, Zivilschutz, Stadt- und Regionalbehörden usw.) nach wie vor weit verbreitet. Und das schürt die Unterstützung des Kleinbürgertums für einen Politiker wie Nawalny, der der Bürokratie und ihrem Regime vorwirft, jede Möglichkeit zur Entwicklung eines, wie er sagt, ehrlichen Kapitalismus zu ersticken.

In den zwanzig Jahren, in denen Putin nun schon am Ruder ist, schien die Lektion Beresowski-Chodorkowski gewirkt zu haben. Er konnte sie in seiner Nummer als guter Zar, der dem Volk gegen die bösen Bojaren zu Hilfe eilt, öffentlich anprangern, doch die Oligarchen achteten darauf, sich ihm gegenüber loyal zu zeigen: eine All-Risk-Versicherung für die Gesundheit ihrer Geschäfte.

 

Ein Keil zwischen dem Kreml und „seinen“ Oligarchen?

Nun, kaum war der aktuelle Krieg ausgebrochen und Putin forderte, dass nur ein einziger Kopf in den Reihen zu sehen sei, wurden in der russischen Geschäftswelt widersprüchliche Stimmen laut. Am 28. Februar twitterte der prominente Deripaska über „die Notwendigkeit, den Staatskapitalismus zu beenden“ und über „die Krise, die echte Manager erfordert. Als der Westen seine Sanktionen gegen Hunderte von Oligarchen und Kreml-Angehörige ausweitete - Einfrieren ihrer Auslandskonten, Beschlagnahmung ihres Vermögens, Verbot, in den Westen zu reisen -, reagierten einige Magnaten. Einer erklärte, dass er sich nicht für einen Oligarchen halte, ein anderer behauptete, nie einen Fuß in den Kreml gesetzt zu haben ... Auch wenn sie diskret sein sollten, waren sie doch trotzige Gesten gegenüber dem Herrn des Kremls. Umso mehr, als dieser darauf bestanden hatte, die wichtigsten Geschäftemacher zu empfangen, um sie zu beruhigen, denn die Sanktionen, die unter anderem darauf abzielen, die Magnaten, von der Macht zu distanzieren, wurden seit 2014 immer weiter verschärft, was ihren Jetset-Lebensstil sowie ihre Geschäfte behindert.

Indem sie die Weltwirtschaft verlangsamte, hat die Pandemie zwar die russische Wirtschaft, die auf den Export von Rohstoffen angewiesen ist, beeinträchtigt. Dies allein reicht jedoch nicht aus, um zu erklären, warum im Jahr 2021 das Vermögen der Milliardäre in den Industrieländern trotz oder aufgrund der Krise in die Höhe schoss, während das Vermögen ihrer russischen Kollegen laut einer Schätzung von Forbes um 57 Milliarden US-Dollar gesunken ist.

Am 18. März besuchte Putin das Luschniki-Stadion in Moskau, um den achten Jahrestag der Annexion der Krim zu feiern. In Bezug auf die Lage in der Ukraine zitierte er einen Militärführer aus der Vergangenheit, der sagte, dass „die Schwierigkeiten, die Russland bedrohen, seinen Ruhm machen. Es ist jedoch nicht sicher, dass sie die guten Geldgeschäfte derer ausmachen, die dort -zumindest persönlich - am stärksten der Großbourgeoisie ähneln.

Einige haben dies in den letzten Wochen durch ihre überstürzte Ausreise aus Russland zum Ausdruck gebracht. Dies provozierte Putins Wut, der eine Rede gegen jene Leute hielt, die sich für „eine höhere Kaste“ halten, weil sie „eine Villa in Miami oder an der Côte d’Azur“ haben, wo sie auf großem Fuße leben und wofür sie bereit sind, „das Mutterland zu verkaufen, wenn sie dafür weiterhin - und das ist für Russen der Gipfel des Luxus – „Austern und Gänseleberpastete“ konsumieren können.

Wenn Putin gegen „diese Verräter“ schimpft und sie den „wahren Patrioten“ gegenüberstellt, die ihn unterstützen und die seiner Meinung nach die Mehrheit bilden, oder wenn er fordert, das Land von dieser “fünften Kolonne“ zu „säubern“, dann steckt natürlich dahinter vor allem der Wille, die Bevölkerung wieder hinter sich zu vereinen, da sie unter den Folgen des Krieges zu leiden beginnt, ohne dass der Kreml wirklich Erfolge auf dem Kriegsgebiet vorweisen kann.

Diese Rede kann aber auch als Warnung an die Oligarchen klingen, die bereit sein könnten, sich vom Regime zu distanzieren.

Beresovski und Gussinski zu ihrer Zeit, später Chodorkowski, hatten bereits die Vormundschaft in Frage gestellt, die die Bürokratie und ihre Führungsspitzen immer noch über die Geschäftswelt ausüben. Aber selbst wenn sich die Eigentumsverhältnisse gefestigt haben und nicht mehr so sehr wie früher von der ausschließlichen Gunst der Macht abhängen, oder besser gesagt gerade deshalb, könnte es zu einer stärkeren oder sogar wachsenden Trennung zwischen der Bürokratie und der Oligarchie kommen, die sich unter ihren Fittichen entwickelt hat. Sie ist in der Tat ein in vielerlei Hinsicht Monsternebenprodukt jenes Monstererzeugnis der Geschichte, das das stalinistische Regime und seine Nachfolger gewesen waren, mit einer Arbeiterklasse, die dauerhaft von der Führung des von ihr errichteten Staates ausgeschlossen war, und mit einer Weltbourgeoisie, die unfähig war, dieses Regime trotz all seiner zutiefst reaktionären, konterrevolutionären und arbeiterfeindlichen Wesenszüge zu integrieren. Und mit dieser Missgeburt der Geschichte, die die Bürokratie war, eine parasitäre Kaste ohne Vergangenheit und auch ohne Zukunft, die auf jeden Fall der sowjetischen Gesellschaft nichts anderes anzubieten hatte als die Rückkehr zum Kapitalismus!

Dass der Ukraine-Konflikt die Sackgasse offenlegt, in die die sowjetische und später die russische Bürokratie die postsowjetische Gesellschaft geführt hat, ist nicht überraschend. Er ist eine der Monstererscheinung dieser Sackgasse.

Aus offensichtlichen Überlebensgründen des Regimes könnte Putin natürlich nicht zulassen, dass Oligarchen einen Bruch mit dem „Staatskapitalismus“ fordern, der ihrerseits auf eine Regierungsform und eine Gesellschaftsorganisation gerichtet ist, in der der Kapitalismus durch den Staat und seine Verwaltung, im Klaren durch die Bürokratie und ihre Macht, eingeschränkt wird.

Wie und wann wird Putin reagieren? Auch wenn das Regime von der globalen Krise geschwächt wird, würde es wahrscheinlich viel mehr brauchen als die mögliche Revolte einiger Oligarchen, um es zu destabilisieren. Es ist auch nicht auszuschließen, besonders wenn sich dieser Krieg hinzieht und immer mehr verheerende Folgen für das Regime hat, dass die Bürokratie, trotz allem, was sie Putin zu verdanken hat, die Tatsache ausnutzt, dass er sich durch diese „Sonderoperation“ selbst geschwächt hat, um ihn dafür bezahlen zu lassen. Schließlich hat sie ihm nie einen unbefristeten Vertrag auf Lebenszeit ausgestellt. Und wenn er das vergessen sollte, könnte ihn das Beispiel Chruschtschows daran erinnern, der 1964 gestürzt wurde, weil er den Kreml in der Kuba-Raketenkrise in die Irre geführt hatte.

Doch im Moment sehen wir ihm an, dass er befürchtet, - abgesehen von der ukrainischen Bevölkerung, die ihm trotz eines Bombenhagels Widerstand leistet – dass seine eigene Bevölkerung ihn und seinen Krieg, ihn und seine Reichen herausfordert. Und das zeigt die Repression, die er seit Beginn des Krieges gegen alle verschärft hat, die ihn herausfordern, insbesondere auf der Straße.

Denn wenn es eine Chance gibt, die ehemalige UdSSR aus den blutigen Fallen und Sackgassen herauszuholen, in die sie von den Bürokraten, den imperialistischen Kräften, den Oligarchen und Nationalisten aller Art – jedem auf seine Weise - getrieben wurde, dann liegt sie darin, dem wieder anzuknüpfen, was die revolutionäre, internationalistische, sozialistische und kommunistische Politik der Bolschewiki war. Sie liegt darin, dass die Proletarier in Russland, der Ukraine und anderen Ländern sich bewusst werden, dass sie nicht nur aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Sprache und ihrer Vergangenheit Brüder sind, sondern Klassenbrüder sind, die dieselben grundlegenden Interessen und dieselben Feinde haben: diejenigen, die sie unterdrücken, sowie diejenigen, die behaupten, sie im Namen des Vaterlandes zu führen, in Wirklichkeit aber im Namen ihrer Ausbeuter, der Oligarchen, Bürokraten und Kapitalisten, seien sie vom eigenen Land oder von den imperialistischen Großmächten.

 

22. März 2022




[1] Pascha ist die Kurzform von Pavel.