Frankreich: Die Lage im Landesinneren (Dieser Text wurde vom Lutte Ouvrière-Parteitag von Dezember 2008 angenommen)

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Frankreich: Die Lage im Landesinneren
Dezember 2008

1. Wenn sich auch die wirtschaftliche Lage dieses Jahr brutal verschlechtert hat, so ist der französische Kapitalismus seit mehr als 30 Jahren in einer chronischen Krise, die geprägt ist von einigen wirklichen Rezessionen, denen Zeitabschnitte wirtschaftlicher Stagnation folgten. In diesem Kontext führen die Unternehmer mit Hilfe des Staates eine ununterbrochene Offensive, um ihre Gewinne auf dem Rücken der Arbeiterklasse aufrecht zu erhalten oder sogar zu erhöhen. Der niedrige Stand der produktiven Investitionen, gepaart mit einer Unternehmenspolitik, deren Ziel es ist, dass die gleiche Produktion von immer weniger Arbeitern geschaffen wird, hat seit 1974 das Problem der Arbeitslosigkeit in den Vordergrund gerückt

2. Der Barre-Plan von 1976, unter Giscard d'Estaing, war in dieser Zeit der erste Sparplan, der der Arbeiterklasse aufgezwungen wurde, nicht zuletzt unter dem Vorwand, der steigenden Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken. Was nicht verhindert hat, dass die offiziellen Arbeitslosenzahlen, die bei 690.000 im Jahr 1974 lagen, 1981 auf 1.300.000 stiegen und 1995 die 3.200.000 überstiegen. Seitdem ist diese Zahl spürbar zurückgegangen, ohne dass es möglich ist zu bestimmen, wie viel von dieser Entwicklung der Veränderung der statistischen Berechnungen geschuldet ist und auch, dass die in den Babyboom-Jahren nach dem Krieg geborenen Arbeiter das Rentenalter erreicht haben. Wie dem auch sei, wenn auch die offizielle Arbeitslosenzahl 2007 unter 2 Millionen gesunken ist, so ist dafür die Zahl der unsicheren Beschäftigungsverhältnisse beträchtlich angestiegen.

3. Das Linksbündnis, das 1981 an die Regierung gelangt ist, hat die Lage der arbeitenden Bevölkerung nicht verbessert, im Gegenteil. Das einzige, was sie in dieser Richtung vorzuweisen hat, war im Januar 1982 die Einführung der 39-Stunden-Woche (und es brauchte noch einer Reihe sozialer Auseinandersetzungen, bis klar war, dass dies "39 Stunden für den Lohn der 40-Stunden-Woche" bedeutete) und die Senkung des Renteneintrittsalters auf 60 Jahre. Aber schon ab dem darauf folgenden Jahr schaffte die Regierung Mauroy jede Koppelung der Löhne an die Preise ab und fror die Löhne regelrecht ein. Es war wiederum eine Linksregierung, die von Rocard, die die Maßnahmen für die Renten"reform" vorbereitete. Ebenso verdanken wir der Linksregierung den Beginn einer langen Serie von Maßnahmen mit dem Ziel, die Rechte der Sozialversicherten zu verringern: So hat sie die Krankenhauspauschale erfunden, und dass bestimmte Medikamente nicht mehr erstattet werden. Diese Politik wurde insbesondere von der Regierung Jospin von 1997 bis 2002 fortgeführt. Weit davon entfernt, ein Fortschritt für die Arbeiterklasse zu sein, haben die Aubry-Gesetze zur 35-Stunden-Woche von 1998 bis 2000 vor allem der Unternehmerschaft die geforderte "Flexibilität" gebracht, die Möglichkeit der Einführung einer Jahresarbeitszeit. Auch enthielten die meisten Abkommen über die Einführung der 35-Stunden-Woche Klauseln zur "Lohnmäßigung".

4. Zwischen der Politik der Regierungen der "Union de la gauche" ("Linksbündnisses") und der "Gauche plurielle" (Vielfältigen Linken), jene der "Kohabitations"-Regierung Mitterand-Chirac von 1986 bis 1988, Mitterand-Balladur von 1993 bis 1995 und diejenige der 100 % Rechten Tandems Chirac-Juppé von 1995 bis 1997 und Chirac-Raffarin, später Chirac-Villepin, von 2002 bis 2007 hat es also niemals einen Bruch, sondern im Gegenteil eine echte Kontinuität gegeben, um die Gewinne des Kapitals auf dem Rücken der Arbeiter aufrechtzuerhalten, und sogar, zu erhöhen.

5. Der Einzug von Sarkozy in den Élysée-Palast 2007 und die von ihm begonnene Politik setzen diese Kontinuität fort ; auch wenn er seinen Willen kund getan hat, die Geschwindigkeit der so genannten "Reformen" zu erhöhen, die nichts als soziale Rückschritte sind ; auch wenn er wesentlich prahlerischer als seine Vorgänger seine Vorliebe für Luxus und seine Freundschaft mit allem, was das Land an Milliardären kennt, zur Schau stellt. Was die Gesundheit, die Bildung, den öffentlichen Verkehr, den öffentlichen Dienst im Allgemeinen betrifft, so hat die Regierung wie in der Vergangenheit Stellen abgebaut mit dem Ziel, noch mehr Geld für Geschenke an die Unternehmer frei zu machen - ohne sich um die Auswirkungen auf die Beschäftigten und die Nutzer zu kümmern.

6. Was sich jedoch in den letzten Monaten geändert hat, ist der Kontext: Das Ausbrechen der Finanzkrise, deren erste Anzeichen ab dem Sommer 2007 sichtbar wurden, mit den drohenden Verschärfungen der wirtschaftlichen Rezession, in die das Land in diesem Jahr eingetreten ist.

7. Die Entscheidungen, die die Regierungen seit der Verschärfung der Finanzkrise im September 2008 getroffen hat, sind bezeichnend dafür, wessen Interessen der Staat verteidigt. Während der Staat noch vor kurzem laut dem Premierminister Fillon am Rande der Pleite stand, hat er sofort entschieden, den Banken, Versicherungen und allgemeiner den Unternehmen Hunderte Milliarden Euro zur Verfügung zu stellen, ohne wirkliche Gegenleistungen. Dies alles natürlich im Namen des Allgemeinwohls, dem Schutz der kleinen Sparer und auch der Kleinunternehmen.

8. In seiner großen Mehrheit lässt sich die arbeitende Bevölkerung nicht von diesen heuchlerischen Reden täuschen, so groß ist der Unterschied zwischen den offiziellen Gejammer über das "abgrundtiefe" Loch in den Sozialkassen von zehn Milliarden auf der einen Seite und der Leichtigkeit, mit der der Staat Hunderte Milliarden in die Rettung des Bankensystems und der Unternehmen gesteckt hat. Entsprechend können revolutionäre Aktivisten leicht das Gehör der Massen finden, wenn sie die Funktionsweise des kapitalistischen Systems kritisieren.

9. Aber Unzufriedenheit bedeutet nicht automatisch Radikalisierung, wie es das Beispiel der großen Krise von 1929 bereits gezeigt hat. In Frankreich zeigte sich erst fünf Jahre später ein Anstieg der Kampfbereitschaft der Arbeiter, und sie wurde wesentlich mehr durch die politischen Ereignisse hervorgerufen (die natürlich mit der Krise zu tun hatten), als durch die Krise selber. Der Donnerschlag, dass die Nazis 1933 in Deutschland an die Macht gelangten, und ein Jahr später der verfrühte Versuch der französischen extremen Rechten, das parlamentarische Regime zu stürzen, riefen diese Radikalisierung hervor.

10. Zunächst drohen im Gegenteil das erneute rasche Ansteigen von Betriebsschließungen und von Stellenabbau die Demoralisierung der Arbeitenden zu vergrößern. Denn die Arbeitslosigkeit, die schon seit mehr als 30 Jahren so schwer auf die Stimmung der Arbeiterklasse drückt, wird unausweichlich wieder in die Höhe steigen. Regierende und Unternehmer verschweigen dies umso weniger, als sie auf diese Angst spekulieren, um in den Köpfen der Arbeitenden die Idee zu verankern, dass man Opfer bringen müssen wird.

11. Die Kaufkraft der Beschäftigten, die schon lange vor dem Ausbruch der Krise im Sinken begriffen war, droht stark, weiter zu sinken, auch für die, die ihre Arbeit behalten werden. Die Vergrößerung der Geldmenge, eine Folge der verschiedenen Hilfsmaßnahmen der Regierung für die Unternehmerschaft, ob direkt oder in Form diverser Kredite, kann nur zu einer Beschleunigung der Inflation führen. Und wenn der Staat dieses Risiko teilweise durch neue Einnahmen wieder auffangen will, so kann er dies nur durch neue Steuern, neue Abgaben oder durch Schulden zu verlockenden Bedingungen für die reichen Klassen... deren Zinsen man schließlich zahlen muss. Auf die eine oder andere Art wird es die arme Bevölkerung sein, die dafür aufkommen wird.

12. In dieser Situation kann die einfache Bevölkerung weniger denn je auf das Wechselspiel der Regierung zählen, dass die Linke wieder an die Macht brächte. Diese hat nämlich im Grunde keine andere Politik vorzuschlagen, als die von Sarkozy-Fillon. Es ist diesbezüglich bezeichnend, dass die Gesamtheit der Abgeordneten der Sozialistischen Partei beschlossen hat - ihr Verantwortungsbewusstsein geltend machend - im Parlament nicht gegen Sarkozys Rettungspaket für die Banken zu stimmen, sondern sich nur zu enthalten. Die einzige Kritik, die geäußert wurde, kam von einem Abgeordneten aus Évry, Manuel Valls, der beklagte, dass die Sozialistische Partei nicht schlicht und weg dem Plan zugestimmt habe.

13. Die einzige Gegenleistung, die die Sozialistische Partei im Gegenzug für die massiven Finanzspritzen für die Banken verlangte, war, "dass der Staat in den Aufsichtsräten der Banken vertreten sein" und "nach der Rückkehr zur Normalität bei der Ausschüttung von Dividenden Vorrang haben " solle. Dass Sarkozy nicht verlangt hat, dass der Staat in den Aufsichtsräten der unterstützten Banken vertreten ist, noch dass er eines Tages Dividenden erhält, ist sicher aufschlussreich bezüglich der Beziehungen zwischen Staat und Finanzwelt. Aber in einer Gesellschaft, in der dieselben Leute wahlweise vom Staatsdienst in den Dienst privater Unternehmen wechseln oder umgekehrt, würde die Anwesenheit eines oder auch mehrerer Vertreter des Staates in den Aufsichtsräten der unterstützten Banken absolut nichts ändern. Und was die Dividenden betrifft, die der Staat "nach der Rückkehr zur Normalität" bekommen soll, so ist dies dieselbe Art von Argumentation wie die Sarkozys, der es wagt zu behaupten, dass die Staatsfinanzen sicher eines Tages von den Geschenken an die Bankiers profitieren werden.

14. Die Sozialistische Partei hat sich durch ihren Vorsitzenden François Hollande für die Schaffung eines "Nationalen Bürgschaftsfonds" ausgesprochen, der "den Kleinbetrieben und Hauskäufern den Zugang zu Krediten ermöglichen" soll, "die Kaufkraft zu stärken", indem man Unternehmen von den Sozialabgaben befreit, wenn sie "mit der Mehrheit der repräsentativen Gewerkschaften ein Abkommen über die Löhne schließen". In Anbetracht der Politik der verschiedenen Gewerkschaftsverbände brauchen sich die Unternehmer vor einem solchen Gesetz sicher nicht zu fürchten, wenn es denn umgesetzt würde. Selbstverständlich geht keine der vorgeschlagenen Maßnahmen dieser Partei, die seit langem zum Anhänger der "freien Marktwirtschaft" geworden ist, über den Rahmen dieses Systems heraus. Doch keine ist auch nur in Ansätzen geeignet, um zu verhindern, dass die Arbeitenden den Großteil der Kosten der Krise tragen. Und diese Haltung der Sozialistischen Partei, die immerhin in der Opposition ist, spricht Bände über die Politik, die sie führen würde, wenn sie wieder an die Regierung käme.

15. Die verschiedenen und oft wechselnden Gruppierungen, die sich in den letzten Monaten in der Führungsschicht der SP gebildet haben, stellen dabei keine verschiedenen politischen Optionen da. Man kann die Ablehnung der Gegner von Royal gegenüber einem Bündnis mit dem Zentrum wirklich nicht ernst nehmen, da es sich bei diesen Gegnern um Führer einer Partei handelt, die unter dem Vorsitz von Mitterand und in den Regierungen von Rocard, also ohne dass man bis in die Vierte Republik zurückblicken muss, ihre Reihen von 1988 bis 1991 einem guten halben Dutzend rechter Minister geöffnet hat. Die "Strömungen" der SP sind nur Cliquen, deren einzige Sorge ist zu wissen, wer der Nachfolger von François Hollande wird und darüber hinaus, wer 2012 Präsidentschaftskandidat sein wird und welche Vorteile die erhalten, die seine Kandidatur unterstützt haben. Die Abstimmung der Mitglieder über die von den verschiedenen konkurrieren-den Koalitionen vorgelegten Beiträge hat keinen eindeutigen Sieger ergeben. Die Machenschaf-ten auf der Suche nach neuen Verbündeten werden also weiter gehen in Voraussicht des Kongresses von Reims, der den zukünftigen Vorsitzenden wählen wird. Aber dies alles hat und wird keine Auswirkung auf das Los der Arbeitenden haben.

16. Die Kommunistische Partei ihrerseits ist der Ansicht, dass die Vorschläge der Sozialistischen Partei "nicht die Frage des Kampfes gegen die Finanzspekulation klären". Das ist unbestreitbar. Aber ihr eigener Vorschlag, der darin besteht, ein "öffentliches Zentrum der Finanzinstitute" zu schaffen, der "die öffentlichen und halböffentlichen Kreditinstitute" vereinen würde, "um den Kampf gegen die Spekulation zu fördern, tut dies genauso wenig - selbst wenn "gesunde Banken" in ihn aufgenommen werden. Wer könnte im übrigen sagen, wer diese "gesunden" Banken sind? In Wirklichkeit gibt es keinen möglichen Kampf gegen die Finanzspekulation ohne die Zusammenführung aller Finanzinstitute in einer einzigen Anstalt, unter der Kontrolle der Arbeiter und der Bevölkerung, was selbstverständlich die Verstaatlichung ohne Entschädigung oder Rückkauf bedeuten würde, das heißt die Enteignung aller Finanzinstitute. Doch um eine solche Politik zu vertreten, darf man nicht als einziges Ziel eine Regierungsbeteiligung in einer Neuauflage des Linksbündnisses haben, um an der Verwaltung der Geschäfte des Bürgertums teilzuhaben.

17. Die Führungen der großen Gewerkschaftsverbände haben keine andere Haltung gehabt zu der Notwendigkeit, "die Banken zu retten", was jeder auf seine Art verteidigt hat. Und sie erweisen sich sogar als unfähig, und zwar schon seit lange vor Ausbruch der Finanzkrise, einen konsequenten Kampf für die Verteidigung der sofortigen Interessen der Arbeiter zu organisieren. Angesichts der Angriffe der Unternehmer und ihres Staates müsste man den Arbeitern wieder Vertrauen geben in ihre Fähigkeit, das Bürgertum zurückzuschlagen, indem man die Perspektive eines Gegenschlags der gesamten Arbeiterklasse vertritt, indem man aus jedem Kampf eine Etappe in der Vorbereitung der zu führenden Gegenoffensive macht. Stattdessen bemühen sich die Gewerkschaften im Gegenteil, die Bewegungen aufzuspalten und zu zersplittern. Schon seit langem haben die Führungen der CGT, der CFDT und von FO und erst recht die der anderen den Ehrgeiz, von den Unternehmern und der Regierung als würdiger Gesprächspartner akzeptiert zu werden. "Verhandlung" ist das Schlagwort dieser Form gewerkschaftlichen Selbstverständnisses, das "mitgestalten" will und in keinem Fall das Bürgertum in einige schwierige Lage bringen will. Ihre Unfähigkeit, die Forderungen, die wirklich das Los der gesamten arbeitenden Bevölkerung verbessern könnten, wirksam zu verteidigen, ist seit langem eine Bankrotterklärung für diese Art von Gewerkschaft. Ihr Scheitern kann nur noch deutlicher zu Tage treten, wenn sich, was wahrscheinlich ist, die Krise, in die die kapitalistische Wirtschaft getreten ist, fortsetzt und verschlimmert.

18. Dennoch geht die Entwicklung der wirtschaftlichen Situation mit der Möglichkeit sozialer Explosionen schwanger, nicht nur in Frankreich, sondern in allen Ländern. Und dies in einer Welt, in der das Proletariat unendlich zahlreicher ist und damit potentiell eine unendlich größere Kraft darstellt als beim Ausbruch der Krise 1929.

19. Unsere Aufgabe bleibt selbstverständlich, uns darauf vorzubereiten, möglichst wirksam eingreifen zu können, wenn große soziale Kämpfe ausbrechen sollten. Und zwar, indem wir junge Aktivisten, Arbeiter wie Intellektuelle, gewinnen, sie politisch ausbilden wie auch durch ihre Beteiligung an allen Teilkämpfen der Arbeiterklasse, an denen sie die Gelegenheit haben teilzunehmen ; indem wir uns bemühen, unsere Ausstrahlung in die Betriebe und in die gesamte arbeitende Bevölkerung zu erhöhen.

Sie besteht auch darin, weiterhin die Existenz einer Strömung zu behaupten, die nicht alle "gesellschaftlichen" Probleme auf eine Stufe stellt und die sich konsequent zum Kommunismus revolutionären Kommunismus bekennt, indem sie sich auf das Erbe von Marx und Engels, von Lenin und Trotzki, der Pariser Kommune und der Oktoberrevolution beruft.

7. November 2008