Die Verlagerungen (aus Lutte de Classe - Klassenkampf - von Dezember 2004)

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Die Verlagerungen
Dezember 2004

(Dieser Text wurde von französischen Aktivisten verfasst. Deshalb betreffen die Beispiele, die er enthält, großteils Frankreich. Doch die mit ihnen verbundenen Überlegungen gelten für alle imperialistischen Länder, insbesondere für Deutschland.)

Die Drohung einer Verlagerung ihrer Unternehmen beunruhigt die Arbeitenden umso mehr, da diese Drohung von den Massenmedien verstärkt wird und die Bosse sie als Erpressungsmittel benutzen, selbst wenn sie keinerlei Absicht haben, zu verlagern.In den Köpfen der Arbeitenden vermischt sich die Furcht vor Verlagerungen mit jener vor Entlassungen. Dabei ist im Gegenteil für die Politiker der Hinweis auf Verlagerungen ein Mittel, den wahren Gründen der Entlassungen auszuweichen und die Bestrebungen der Arbeiter in Sackgassen zu lenken.

Von der Linken bis zur Rechten, von Fabius (ehemaliger sozialdemokratischer Premierminister) bis zu Sarkozy (Leiter der rechten Partei UMP) - sie alle nützen die Verlagerungen auf die gleiche demagogische Weise, um dieselben Lügen zu verbreiten. Für den einen wie für den anderen stellt die Diskussion über die Verlagerungen eine Möglichkeit dar, die unbestimmte Furcht der unteren Volksschichten aufzugreifen. Gleichzeitig handelt es sich um einen Vorwand: der Hinweis auf drohende Verlagerungen dient dazu, zu rechtfertigen, dass man den Bossen zusätzliche steuerliche Erleichterungen gewähren müsse, um sie zu ermuntern, hier zu bleiben.

Manchmal nimmt diese Demagogie einen schmutzigen nationalistischen Charakter an, etwa wenn Sarkozy die Verlagerungen nach Osteuropa auf die dort zu schwache Besteuerung zurückführt und an die europäischen Institutionen appelliert, diesen Ländern jeglichen Solidaritätskredit zu kürzen. Natürlich kommt es für ihn nicht in Frage, die französischen kapitalistischen Gruppen anzugreifen, die mit dieser Absicht angeblich umzögen!

Die Französische Kommunistische Partei bläst in dasselbe Horn und unterbreitet "Vorschläge, deren Ziel es ist, in ganz Europa diese unerträgliche Verlagerungspraxis zu verbieten". Das gleiche gilt für den CGT-Gewerkschaftsbund: Ein an seine Aktivisten adressierter Argumentationsvorschlag fordert, "sobald wie möglich eine Versammlung von Regierung, Unternehmen und Gewerkschaften zu organisieren, um einen wirklichen Plan gegen die Verlagerungen vorzubereiten".

Das bedeutet nicht nur, die Aufmerksamkeit der Arbeiter vom tatsächlichen Problem abzulenken, nämlich sich den Entlassungen entgegenzustellen, aus welchem Grund oder unter welchem Vorwand auch immer diese stattfinden. Es geht vor allem darum, den Arbeiter glauben zu machen, ihre Interessen könnten von der Regierung und den Unternehmern geschützt werden.

Es gibt kaum genaue Statistiken über die Verlagerungen, und zwar aus dem einfachen Grund, dass sich eine große Vielfalt von Situationen hinter dem Begriff verbergen kann.

Im engsten Sinne bedeutet der Begriff, dass ein Unternehmer, weil es ihm vorteilhafter erscheint, seinen in Frankreich ansässigen Betrieb schließt, um ihn in einem anderen Land anzusiedeln, wo er weiterhin dieselben Güter für denselben Absatzmarkt produziert (was den französischen Markt betrifft, handelt es sich im Allgemeinen darum, dass Importe dann die inländische Produktion ersetzen). In ganz Westeuropa findet höchstens 4,8 Prozent des Stellenabbaus aufgrund von solchen Verlagerungen statt. In Frankreich ist der Anteil noch niedriger, da die Tendenz hauptsächlich in Richtung Handelsinvestitionen geht, etwa die Eröffnung von SB-Warenhäusern oder Supermärkten in Polen oder anderswo. Gerade im Handel aber ersetzt eben nicht das Betreiben eines Ladens in Osteuropa nicht das eines Ladens in Frankreich. Im Verhältnis zur gesamten Industrieproduktion in Frankreich macht die Produktion dieser im engeren Sinne verlagerten Unternehmen lediglich 2,5 Prozent aus.

Im weitesten Sinne kann der Widerstand gegen Verlagerungen verstanden werden als Widerstand gegen jegliche Kapitalinvestitionen, die zur Schaffung von Arbeitsplätzen außerhalb Frankreichs führen würden. Das entsprechende Kapital solle, so wird hier argumentiert, besser in Frankreich Arbeitsplätze schaffen.

Den Großteil der Entlassungen explizit oder implizit auf Verlagerungen zurückzuführen, ist also eine große Lüge. Einen Stopp der Verlagerungen zu fordern unter dem Vorwand, damit die Entlassungen zu verringern, ist nicht nur utopisch, sondern auch dumm und reaktionär. Die Verlagerungen sind ebenso alt wie der Kapitalismus. Die internationale Arbeitsteilung ist nicht nur aus der unterschiedlichen Verteilung der Bodenschätze entstanden; sie ist gleichzeitig eine Folge der weltweiten Einführung des Kapitalismus und der Bildung einer einheitlichen Weltwirtschaft. Was den mehr als ein Jahrhundert alten Imperialismus betrifft, so zeichnet er sich gerade aus durch diesen Kapitalexport von einem imperialistischen in ein weniger entwickeltes Land, in dem die Rentabilität des Kapitals höher ist.

Diese Bewegung stoppen zu wollen ist genauso utopisch wie der Versuch, Kapitalismus ohne Ausbeutung zu schaffen. Es handelt sich außerdem um eine reaktionäre Utopie.

Darüber hinaus ist es dumm zu fordern, der französische Kapitalismus solle die Kapitalausfuhr stoppen und in Frankreich - und nicht anderswo - produktive Arbeitsplätze schaffen. Frankreich ist heute hinter China jenes Land, das das meiste ausländische Kapital anzieht. Mit 47 Milliarden Dollar an direkten ausländischen Investitionen hat Frankreich drei Mal so viel "verlagertes Kapital" empfangen wie alle mittel- und osteuropäischen Länder, die man als Bedrohung darstellt, zusammen (18,5 Milliarden Dollar). Der so genannte "Kampf gegen die Verlagerungen" gesellt sich im Arsenal der reformistischen Forderungen zu dem Slogan "Produzieren wir französisch!". Beide sind vom Standpunkt der Bildung eines Klassenbewusstseins der Werktätigen lächerlich und schädlich.

Noch aus einem weiteren Grund handelt es sich um eine reaktionäre Forderung. Denn sie beinhaltet, dass man den Arbeitern im Ausland Stellen vorenthalten muss, um sie für die hiesigen Arbeiter zu bewahren.

Statt den Arbeitenden die kapitalistische Klasse entgegen zu stellen, die jenes Kapital monopolisiert, das in die Produktion investiert werden und so Arbeitsplätze schaffen könnte, stellen diejenigen, die die Verlagerungen angreifen, die Arbeiter der einzelnen Länder einander gegenüber.

Das ist dieselbe Art von Demagogie wie diejenige, ausländische Arbeiter zu beschuldigen, den Arbeitern von hier die Arbeitsplätze wegzunehmen und für die Arbeitslosigkeit verantwortlich zu sein.

In seiner konkreten Formulierung schlägt der "Kampf gegen die Verlagerungen" implizit vor, die französischen Arbeiter zu Helfershelfern ihres Imperialismus zu machen. Immer sind es die Verlagerungen in die osteuropäischen Länder, nach China oder Nordafrika, die als Bedrohung dargestellt werden, nie jedoch die Verlagerungen in die USA oder nach Großbritannien. Doch mehr als drei Viertel aller Investitionen der entwickelten Länder gehen in entwickelte Länder, nicht in arme Länder. Nur ein halbes Dutzend der unterentwickelten Länder, die entweder über einen potentiellen Inlandsmarkt oder über eine geographisch vorteilhafte Lage verfügen, wie etwa China, Brasilien oder Mexiko, ziehen eine quantitativ bedeutende Menge von Kapital an.

Was Frankreich betrifft, so beträgt der in unterentwickelten Ländern investierte Anteil nur 4 Prozent der gesamten Auslandsinvestitionen.

Die USA ziehen aufgrund der Größe ihres Marktes, ihrer Infrastruktur, ihres Steuerwesens, ihrer in zahlreichen Bereichen hoch qualifizierten Arbeitskräfte, ganz zu schweigen von der Sicherheit der Investitionen, bedeutend mehr Kapital an, egal ob es sich um Unternehmensniederlassungen oder Verlagerungen handelt.

Es ist Unsinn zu behaupten, das aus Frankreich kommende Kapital würde die Wettbewerbsfähigkeit der armen Länder verbessern und eine ernste Bedrohung für den französischen Arbeitsmarkt darstellen. Trotz der seit Jahrzehnten andauernden Verlagerung amerikanischer Trusts nach Mexiko bleibt das Land arm. Ihre Investitionen haben es gegenüber den USA nicht reicher, sondern noch ärmer gemacht.

Nicht die Arbeiter bestimmen über die Wirtschaft. Sie tragen keinerlei Verantwortung für die Unterentwicklung, die niedrigen Löhne und das Elend der unteren Volksschichten der ärmeren Länder.

Es liegt sicherlich nicht im Interesse der Arbeiter, eine sinnlose Agitation gegen die Investitionen "unserer" Kapitalisten in Osteuropa, Afrika oder China zu führen. Im Gegensatz dazu liegt es jedoch unbedingt in ihrem Interesse, dass sich das Proletariat dieser Länder festigt und dadurch jene Kampfkraft erwirbt, die es dazu bringt, gegen seine Lebensbedingungen und für korrekte Löhne zu kämpfen.

Die Arbeiter desselben Landes oder verschiedener Länder gegeneinander aufzuhetzen ist so alt wie der Kapitalismus selbst. Bereits in dem 1844 verfassten Die Lage der arbeitenden Klassen in England geht Engels gegen diese Neigung an. Das Kommunistische Manifest seinerseits bekräftigt, dass sich "die Kommunisten nur in zwei Punkten von den übrigen proletarischen Parteien unterscheiden". Der erste Punkt ist, dass "sie in den verschiedenen nationalen Kämpfen der Proletarier die gemeinsamen, von der Nationalität unabhängigen Interessen des gesamten Proletariats hervorheben".

In der revolutionären und internationalistischen Epoche der Arbeiterbewegung wäre es undenkbar gewesen, die Interessen der Arbeiter in Frankreich durch Widerstand gegen Investitionen in Lateinamerika, Russland oder der Türkei verteidigen zu wollen. Kein Mitglied der Arbeiterbewegung berief sich auf Argumente wie: "Wenn unsere Kapitalisten in diese Länder verlagern, bedeutet das Konkurrenz für unsere Industrie und hat Arbeitslosigkeit hier in Frankreich zur Folge".

Die Arbeiterbewegung des industrialisierten Westens war mit den Kämpfen der Arbeiter in den Ländern mit entstehender Industrie solidarisch, wenn sie für Lohnerhöhungen, das Recht, sich zu organisieren oder anderes kämpften, und zwar aus einem einfachen Grund: für sie gehörten die Arbeiter aller Länder zum gleichen Weltproletariat. Die Forderung nach "3 Mal 8" - 8 Stunden Arbeit, 8 Stunden Freizeit, 8 Stunden Schlaf - war nicht nur für einen privilegierten Teil der Arbeitswelt bestimmt, sondern für alle.

Die Geschichte hat den Kapitalisten einen üblen Streich gespielt: dank des französischen und englischen Kapitals konnte das rückständige Russland eine in Großunternehmen konzentrierte Industrie aufbauen. Das russische Proletariat wurde zum Vorkämpfer der Arbeiterrevolution; das erste und bis heute einzige Proletariat, dem es gelungen ist, die Macht zu übernehmen und eine Zeit lang zu behalten. Im Gegensatz zu den Berechnungen der "kapitalistischen Anleger" hatte die junge russische Industrie keine Gelegenheit, den westlichen Markt mit Billigprodukten zu überschwemmen. Es waren die Ideen des revolutionären Kommunismus, die Russland schließlich "exportierte" - jedenfalls bevor die Bürokratie die Revolution erstickte.

Es ist wichtig, von den konkreten Sorgen der Arbeiter auszugehen, das heißt die Angst vor Verlagerungen zu berücksichtigen und, wenn dies der Fall sein sollte, den Wunsch, sich den Verlagerungen in ihrem Unternehmen entgegenzustellen, falls diese als Entlassungsgründe erscheinen. Die Revolutionäre müssen aber gleichzeitig eine Politik verfolgen, die zur Stärkung des Bewusstseins der Arbeitenden führt. Sie müssen eine Politik verfolgen, die die Arbeitenden ihren Unternehmern und darüber hinaus dem Bürgertum gegenüberstellt. Diese Politik muss auch hervorheben, dass die Arbeiter aller Länder und aller Nationalitäten die gleichen grundlegenden Interessen haben.

Die Tatsache, dass eine kapitalistische Gruppe ein Unternehmen in einem anderen Land kauft, bedeutet, dass sie Geld dafür hat. Das kapitalistische System gibt ihr das Recht und die Möglichkeit, ihr Kapital zu benutzen, wo immer sie auch will. Die Beschäftigten müssen sie im Gegenzug durch einen vereinten Kampf dazu bringen, einen Teil des auf ihrem Rücken realisierten Gewinnes für die Sicherung von Arbeitsplätzen in Frankreich zu verwenden und falls notwendig, die Arbeit unter allen aufzuteilen. Den Kampf gegen Entlassungen durch den angeblichen "Kampf gegen die Verlagerungen" zu ersetzen bedeutet, die Arbeiter vom Kampf gegen die Unternehmer abzulenken und sie daran zu hindern, ihn dort zu führen, wo er wirksam sein kann.

Die Reformisten behaupten, der Globalisierung des Kapitals den frommen Wunsch entgegenzusetzen, dass es bitte nur national sein solle. Die Kommunisten dagegen wollen dem Kapital seine Macht wegnehmen.

Auch auf die Idee der "Desindustrialisierung", die von bürgerlichen Politikern genauso vertreten wird wie von Führern der Arbeiterbewegung, müssen wir als Kommunisten reagieren, ob sie nun mit Verlagerungen verbunden ist oder nicht. Es wird behauptet, Frankreich, die USA oder andere imperialistische Länder seien im Begriff, sich zu desindustrialisieren und ihre Fabriken zugunsten der ärmeren Länder zu verlieren. In der Folge seien Entlassungen unvermeidlich, da es sich um die unvermeidlichen Folgen der wirtschaftlichen Entwicklung handelt.

Betrachtet man die Fakten, so ist diese Behauptung weitgehend eine Lüge. Obwohl Unternehmen schließen und eine mehr oder weniger große Anzahl an Arbeitsplätzen verloren geht, steigt die industrielle Produktion Frankreichs genauso wie jene der USA. In Frankreich hat die Industrie zwischen 1978 und 2002 mehr als eineinhalb Millionen Stellen verloren; die Zahl ihrer Beschäftigten ist um 30 % gesunken (ein Teil dieser Stellen ist nicht verschwunden, sondern wird heute zum Dienstleistungssektor gezählt, etwa die befristet Beschäftigten oder eine gewisse Anzahl von ausgelagerten Funktionen); die industrielle Produktion aber stieg weiter um durchschnittlich 2,5 Prozent jährlich. Der Anteil der Industrie am BIP blieb zwischen 1978 und 2002 (20,1 Prozent und 19,5 Prozent) praktisch gleich.

Das bedeutet eine Zunahme der Produktivität in den betroffenen Sektoren. Diese Zunahme ist teilweise die Folge der verstärkten Ausbeutung der Arbeiter: Verlängerung der Arbeitszeit, Intensivierung der Arbeit, usw. Und unter diesem Blickwinkel muss sie bekämpft werden.

Sie ist auch eine Folge des technologischen Fortschritts. Unter diesem Blickwinkel darf die Haltung der Kommunisten jedoch nicht darin bestehen, sich ihr entgegenzustellen, genauso wenig wie sie im Allgemeinen darin besteht, sich dem wissenschaftlichen und technischen Fortschritt entgegenzustellen, der die menschliche Arbeit erleichtert, selbst wenn dieser Fortschritt das Verschwinden ganzer Berufssparten zur Folge hat. Kein Kommunist wird etwa die Wiedereröffnung der Kohlengruben verlangen, "um Arbeitsplätze zu schaffen".

Im Gegensatz dazu müssen die Kommunisten aufzeigen, dass die Erhöhung der menschlichen Produktivität in der kapitalistischen Wirtschaft nicht etwa der Gemeinschaft zugute kommt, sondern lediglich zur Erhöhung der Arbeitslosigkeit, zu gleich bleibenden bzw. sinkenden Löhnen für die Arbeiter und steigenden Gewinnen für die Unternehmer führt. Doch nicht der technologische Fortschritt darf in Frage gestellt werden, sondern sein Gebrauch in der auf privaten Gewinn beruhenden Wirtschaftsordnung.

Durch die Automatisierung gewisser Tätigkeiten wird die kommunistische Zukunft zweifellos das Verschwinden eines großen Teiles der schmutzigen oder mühsamen Tätigkeiten sowie eine Verminderung der Arbeitsmenge zugunsten frei gewählter menschlicher Aktivitäten erleben.

Angesichts aller dieser Fragen ist es notwendig, dass wir am konkreten, oft mit dem Rücken zur Wand geführten Kampf der Arbeiter teilnehmen; gleichzeitig aber müssen wir als Kommunisten, nicht als Gewerkschafter, eingreifen. Für einen Großteil der von der kapitalistischen Wirtschaft erzeugten Probleme gibt es im Rahmen dieser sozialen Ordnung keine Lösung. Es ist nicht unsere Aufgabe, gefällige Pseudo-Lösungen zu suchen. Das tun schon die Reformisten mit ihrer allseits bekannten Effizienz.

25. Oktober 2004