Deutschland nach sechs Jahren sozialdemokratischer Regierung: eine katastrophale Bilanz für die Werktätigen (aus "Lutte de Classe" - Klassenkampf - von Oktober 2004)

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Deutschland nach sechs Jahren sozialdemokratischer Regierung: eine katastrophale Bilanz für die Werktätigen
Oktober 2004

Die unaufhörlichen und vermehrten Angriffe gegen die Existenzbedingungen der unteren Volksschichten in Deutschland sind nicht neu und begannen mit Helmut Kohls Kanzlerschaft (1982-1998). Doch seit der Wiederwahl des sozialdemokratischen Kanzlers Gerhard Schröder im September 2002 haben sich die Attacken besonders verstärkt.

Eine Angriffswelle der Regierung

Gerhard Schröder war bereits am Ende seiner ersten Amtszeit relativ diskreditiert und hat sein Weiterbestehen im Kanzleramt nur der Tatsache zu verdanken, dass er sich im Laufe der Wahlkampagne gegen das Engagement der deutschen Armee an der Seite der USA, die damals die militärische Invasion des Iraks vorbereiteten, gestellt hat. Kaum war er jedoch gewählt, leitete er eine Reihe von "Reformen" ein, die regelrechte Attacken gegen die Arbeitswelt darstellen.

Sein im März 2003 vor dem Bundestag präsentiertes Programm, die "Agenda 2010", besteht - unter dem Vorwand, die Kassen seien leer - in einem noch nie gesehenen Infragestellen des sozialen Netzes, was Arbeit, Krankheit, Alter oder Arbeitslosigkeit betrifft. Die Liste dieser Angriffe ist endlos; sie reicht vom Einfrieren der Renten im Jahre 2004 bis zur Einschränkungen des Kündigungsschutzes in Kleinbetrieben.

Allein das Beispiel der im Januar 2004 in Kraft getretenen "Reform des Gesundheitssystems" ist bezeichnend. Die Reform besteht darin, die Versicherten mehr bezahlen zu lassen, und zwar unter dem Vorwand, die gesetzlichen Krankenkassen befänden sich in einem leichten Defizit (2,9 von insgesamt 145 Milliarden im Jahre 2003). Die Ausgaben für rezeptfreie Arzneimittel werden nicht mehr rückerstattet, auch wenn die Medikamente vom Arzt verschrieben werden. Der kostenlose Zugang der Patienten zu den Ärzten existiert nicht mehr: Die Versicherten müssen eine vierteljährliche Praxisgebühr von 10 Euro entrichten. Zusätzlich gibt es eine Rezeptgebühr in den Apotheken von 5-10 Euro. Darüber hinaus wurde für Krankenhausaufenthalte eine Pauschale von 10 Euro pro Tag (mit einer Grenze von 28 Tagen) eingeführt. Zahlreiche andere Leistungen sind ebenfalls auf drastische Weise reduziert worden und werden von nun an durch eine manchmal verpflichtende private Zusatzversicherung gedeckt. Außerdem wimmelt es in der Presse nur so von Beispielen von Behinderten- und Pflegeheimen, die große Schwierigkeiten haben, weil die Bewohner die nicht mehr von den Krankenkassen übernommenen Beiträge nicht bezahlen können. Zusätzlich werden die Sozialversicherten ab 2005 eine (öffentliche oder private) Zusatzversicherung für ihren Zahnersatz abschließen müssen; ab 2008 gilt das auch für das Krankengeld.

Die Umgestaltung der Arbeitslosenversicherung umfasst ihrerseits eine Verminderung der Bezugsdauer ab Februar 2006 (auf 12, statt wie bislang 36 Monate) und eine Verschärfung der Bedingungen, unter denen man einen Anspruch darauf hat. Ab 2005 sollen die Sozial- und Arbeitslosenhilfe zusammengelegt werden. Die den Langzeitarbeitslosen zukommende Leistung, die sich bisher auf etwa 650 Euro belief, wird dann auf 345 Euro im Westen und 331 Euro im Osten reduziert werden. Bisher ergänzte bis zu einem gewissen Betrag die von den Langzeitarbeitslosen bezogene Sozialhilfe die Einkommen, die die Unterstützungsempfänger sonst bekamen. Im neuen Plan werden die Ersparnisse der Unterstützungsempfänger als Erwerbsquelle gerechnet, da die Regierung der Auffassung ist, dass ein Arbeitsloser sein Erspartes verbrauchen muss. In einem ersten Entwurf musste er sogar nicht nur seine eigenen Ersparnisse, sondern auch die seiner Kinder verbrauchen, wenn diese 750 Euro überschritten. Diese letzte Verfügung rief jedoch einen derartigen Aufschrei hervor, dass sich die Regierung gezwungen sah, die Schwelle auf 4.100 Euro anzuheben.

Doch existieren zahlreiche andere, nicht weniger schockierende Überprüfungskriterien des "Vermögens" der Arbeitslosen. So wird die Tatsache, ein Auto zu besitzen, berücksichtigt. Wenn dessen Wert 5.000 Euro überschreitet, wird der Arbeitslose es verkaufen müssen, wenn er nicht möchte, dass seine Beihilfen sinken. Die Arbeitssuche wird dadurch gewiss nicht erleichtert! Doch das Ziel all dieser Maßnahmen ist es, die Arbeitslosen zu zwingen, jede beliebige Arbeitsstelle anzunehmen, auch wenn sie unterbezahlt ist.

Die Regierung hat noch eine Vielzahl anderer Projekte, etwa die Abschaffung eines weiteren Feiertages, die für 2006 vorhergesehene Schaffung einer "Bürgerversicherung", die die Krankenkassenbeiträge ersetzen soll (und gleichzeitig den privaten Versicherungsanstalten die Türen öffnen wird), oder die Anhebung des gesetzlichen Rentenalters von 65 auf 67 Jahre.

Attacken der Unternehmer

Die durch die Haltung der Regierung ermutigte Unternehmerschaft ist ebenfalls in die Offensive gegen die Arbeitswelt getreten. Seit Jahren schon haben einige Unternehmen die Arbeitgeberverbände verlassen, um die Branchentarifverträge zu umgehen und Haustarifverträge aufzuzwingen. Nach dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung waren im Jahre 2002 nur noch 70 % der westdeutschen und 55 % der ostdeutschen Werktätigen durch Tarifverträge geschützt.

Eine erste Kraftprobe fand im Juni 2003 statt: Die IG Metall begann einen Kampf mit dem Ziel, die gesetzliche Arbeitszeit der 310.000 ostdeutschen Metallarbeiter (38 Stunden) jener anzugleichen, die im Westen seit 1995 gilt (35 Stunden). Anders als in Deutschland bisher üblich, weigerten sich die Unternehmer zu verhandeln. Da die IG Metall ihre Kräfte während einer 4-wöchigen Arbeitsniederlegung, die auf einzelne Betriebe beschränkt blieb, erschöpft hatte, ohne einen echten Gesamtkampf zu organisieren, musste sie den Streik ohne Ergebnis aufgeben.

Sehr schnell hatten die Arbeitgeber einen anderen Angriffspunkt gefunden. Sie behaupteten, nunmehr in Deutschland wären die Löhne zu hoch und es würde nicht genug gearbeitet, und sie versuchten, eine Erhöhung der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich zu erzwingen. Der Reifenhersteller Continental und der Fabrikant medizinischer Apparaturen B. Braun waren unter den ersten Betrieben, die dies Ende 2003 durchsetzten. 2004 hat sich die Offensive in den kleinen wie in den großen Unternehmen ausgebreitet. Große Konzerne mit hohen Gewinnen wie etwa Siemens oder Daimler-Benz (das deutsche Unternehmen mit dem höchsten Umsatz), aber auch Opel, zahlreiche Banken oder die Lufthansa benutzen die Erpressung mit dem Arbeitsplatz, um ihre Ziele durchzusetzen, indem sie mit der Verlagerung der Produktion vor allem nach Osteuropa drohten.

In Wahrheit ist die systematische Drohung gegenüber den Werktätigen mit einer eventuellen Produktionsverlagerung zum größten Teil Propaganda. So erklärten in einer 2003 vom Deutschen Industrie- und Handelstag realisierten Untersuchung 18% der Industrieunternehmen, im Laufe der vergangenen drei Jahre tatsächlich einen Teil ihrer Produktion ausgelagert zu haben; 1993 waren es noch 24 % gewesen. Die tatsächliche Verlagerungsbewegung ist also nicht neu und nimmt auch nicht zu. Wie in zahlreichen anderen Ländern wird die Androhung von Verlagerung als Erpressung benutzt. Das Ziel der Unternehmenschefs ist ganz einfach die Senkung der Lohnkosten und die Steigerung der Gewinne. Dafür wollen sie die Werktätigen kostenlos einige Stunden länger arbeiten lassen.

Doch schon bereiten sie neue Angriffe vor. Michael Rogowski, der Vorsitzende des Bundesverbands der deutschen Industrie, fordert eine Verminderung des jährlichen bezahlten Urlaubs in der Metallindustrie von sechs auf fünf Wochen. Er besitzt außerdem die Frechheit, in einem der Wochenzeitschrift Die Zeit Anfang September gewährten Interview zu verlangen, dass die Unternehmer ganz einfach von den Beiträgen zur Arbeitslosen- oder Krankenversicherung befreit werden sollten.

Die schönen Tage des Bürgertums

Nach seinen Niederlagen in den beiden Weltkriegen, die es ausgelöst hatte, um eine Aufteilung der Welt zu seinen Gunsten zu erreichen, musste das deutsche Bürgertum nach 1945 seine internationale Stellung aufgeben, um sich auf den Wiederaufbau seiner wirtschaftlichen Macht und den Fortbestand seiner Gewinne zu konzentrieren. Das gelang ihm hervorragend.

Der riesengroße Markt des Wiederaufbaus (zahlreiche Infrastrukturen waren zerstört worden) und die amerikanische Hilfe (in der Form des Marshallplans) trugen zu einer Wiederankurbelung der Wirtschaft bei. Doch das Bürgertum hatte nicht vergessen, dass es am Ende des ersten Weltkriegs und Anfang der zwanziger Jahre ganz nah daran gewesen war, die Macht zu verlieren. Es fürchtete immer noch das Proletariat, auch wenn dieses nach zwölf Jahren nationalsozialistischer Schreckensherrschaft und nach monatelangen Bombardierungen der Arbeiterviertel der großen Städte durch die Alliierten ausgeblutet aus dem Krieg hervorgegangen war. Das Bürgertum beschloss daher, sich den sozialen Frieden durch eine Kombination von Zuckerbrot und Peitsche zu erkaufen. Die von den fünfziger bis in die siebziger Jahre andauernde Zeit des Wirtschaftswachstums ermöglichte es ihm, das Lebensniveau der arbeitenden Klasse kontinuierlich steigen zu lassen. Gleichzeitig wurde die soziale Absicherung verbessert.

Doch das Bürgertum unterdrückte auch all diejenigen, die seine Macht in Frage hätten stellen können. Die Kommunistische Partei (KPD) blieb von 1956 bis 1968 verboten; im öffentlichen Dienst kam es zu "Berufsverboten" gegen alle diejenigen, die verdächtigt wurden, Feinde des Grundgesetzes zu sein.

Außerdem wurden die Gewerkschaften, die einen Tarifvertrag unterzeichnet hatten, zu "sozialem Frieden" für die Dauer des Vertrages gezwungen. Gleichzeitig wurden die Gewerkschaften über ein Mitbestimmungssystem in die Verwaltung der Unternehmerinteressen eingebunden. Seit 1946 hatten mehrere große Unternehmen den Gewerkschaften Posten in ihrem Aufsichtsrat angeboten. Dieses System wurde (unter einer rechten Regierung) durch das Gesetz von 1951 ausgeweitet und 1976 von der SPD verallgemeinert.

Die arbeiterfeindliche Diktatur im Osten, die sich mit kommunistischen Aufklebern schmückte, diente schließlich als Schreckensbild und trug dazu bei, die westdeutschen Arbeiter zu überzeugen, das anzunehmen, was die Lobhudler des Kapitalismus "soziale Marktwirtschaft"" nannten.

Insgesamt profitierte das Bürgertum also von einer äußerst günstigen Situation: Es konnte seine Geschäfte gedeihen lassen, ohne mit einem wesentlichen sozialen Problem konfrontiert zu werden. Die Studentenbewegung der sechziger Jahre griff kaum auf die Arbeiterklasse über, wie das in verschiedenen Stufen in zahlreichen anderen Ländern, besonders in Frankreich und in Italien, der Fall war. Seit Jahrzehnten ist Deutschland eines der westlichen Länder mit der niedrigsten Anzahl von Streiktagen: 11 Tage pro 1.000 Arbeiter zwischen 1990 und 2001. Im Vergleich: In den USA waren es 51, in Spanien 327 Tage (nach dem Münchener Institut IFO). Nach dem Fall der Berliner Mauer stürzte das Kapital Richtung Osten. Nicht um zu investieren oder um die ostdeutsche Wirtschaft zu entwickeln, der es an Kapital fehlte; ganz im Gegenteil: Die kleinen und großen westlichen Bourgeois erwarben im Osten die Unternehmen, die sie als die rentabelsten betrachteten, zu niedrigen Preisen. Andere Betriebe wurden geschlossen, um jede Konkurrenz zu beseitigen. Parallel dazu wurde der ostdeutsche Markt für die großen westdeutschen Handelsketten geöffnet, die sich nunmehr dort ansiedelten und ihn mit ihren Produkten überschwemmten, indem sie großzügige Subventionen ausnützten.

Das alles erzeugte üppige Gewinne. Doch der Elan dauerte nur zwei bis drei Jahre. Nach der wirtschaftlichen Rezession der Jahre 1992-1993 mehrten sich die Stimmen, die das "rheinische Modell" anzweifelten. Der Sturz der Mauer hatte dem Bürgertum seine Arroganz zurückgegeben. Es hatte keinen politischen Grund mehr, ein soziales Netz aufrechtzuerhalten, das eine Spur höher war als in den angrenzenden Ländern.

Das Märchen vom Niedergang Deutschlands

Die aktuellen Attacken werden im Namen der Erhaltung des "Standorts Deutschland" gerechtfertigt, der auf Grund der zu hohen "Produktionskosten" - das heißt der Gehälter - in Gefahr wäre. Das ist die Propaganda, die man den Arbeitern immer wieder vorkaut. Aber in den an ausländische Investoren gerichteten Propagandabroschüren der Bundesregierung und der Länder herrscht ein anderer Ton. Man verkündet, dass in Deutschland "die Gehälter sicher höher sind, aber dass die Produktivität und die Anwesenheit der Werktätigen ebenfalls höher ist; und die Unternehmenssteuer in den letzten Jahren erheblich gesunken ist." Und zum Schluss: "Wenn man die Gesamtkosten für den Anleger betrachtet, liegt Deutschland im Durchschnitt der Europäischen Union." Außerdem stagnieren seit zehn Jahren die Löhne, weil ihre Erhöhung kaum die offizielle Inflation ausgleicht.

Die deutsche Wirtschaft befindet sich heute sicherlich in keiner Phase raschen Wachstums wie etwa in den sechziger Jahren. Seit zwei Jahren überschreitet das Defizit des Staatshaushalts die 3 Prozent-Marke, das heißt das durch den europäischen Stabilitätsvertrag theoretisch vorgeschriebene Maximum. Aber nichts ist weniger zutreffend, als von einem industriellen Rückgang Deutschlands zu sprechen. In den letzten 25 Jahren hat der Wert der industriellen Produktion kontinuierlich um 2% pro Jahr zugenommen. Vor allem den Gewinnen des Bürgertums geht es gut. In einer im letztem Sommer veröffentlichten Umfrage stellte die Tageszeitung Die Welt die Ergebnisse der hundert größten deutschen Unternehmen für 2003 vor: 67 hatten Gewinne gemacht, nur 17 kündigten Verluste an, die restlichen veröffentlichten ihre Ergebnisse nicht.

Außerdem ist die Handelsbilanz überschüssig, wie in den schönsten Tagen der siebziger Jahre. 2003 war Deutschland sogar weltweit führender Exporteur (vor den USA und Japan). Auch wenn das teilweise dem Steigen des Euro gegenüber dem Dollar zu verdanken ist, finden wir darin keinen Hinweis auf eine wackelige Wirtschaft!

Das deutsche Kapital ist auch wieder in sein natürliches "Hinterland" gegangen: Es ist der führende Anleger Osteuropas. Die deutschen Autohersteller haben 63% der PKW-Produktion der zehn am 1. Mai in die Europäische Union eingetretenen Länder in ihren Händen. In anderen Ländern, etwa China, ist das ebenfalls der Fall. Ein Drittel der Autos wird dort von deutschen Konzernen hergestellt.

Die Situation der Beschäftigten verschlechtert sich

Seit Jahren hält sich die Arbeitslosigkeit auf einem hohen Niveau. Im August 2004 betraf sie 4.300.000 Arbeiter, d.h. 10,5 % der erwerbstätigen Bevölkerung. Das sind die offiziellen Zahlen, die, wie in zahlreichen anderen Ländern, unter den tatsächlichen Werten liegen. Einige Quellen, die von dem den Arbeitgebern nahe stehenden Berliner Institut DIW zitiert werden, schätzen, dass 2,5 Millionen Personen von Maßnahmen "sozialer Behandlung der Arbeitslosigkeit" (Bildungspraktika, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen) profitieren. Die wirkliche Arbeitslosenquote läge bei nahezu 16%. Die Arbeitslosigkeit betrifft besonders den Osten des Landes. Doch wenn der Durchschnitt im Westen nur 8,4 % beträgt, so erreicht die Arbeitslosenquote in einer großen Arbeiterstadt des Ruhrgebiets wie Dortmund die 15,4%!

Obwohl die Arbeiter in den großen Unternehmen trotz des Rückgangs noch verhältnismäßig hohe Einkommen haben, arbeitet man in vielen anderen Firmen für Hungerlöhne. So zeigte ein ZDF-Bericht vom Juni 2004, wie die Nürnberger Arbeitsagentur ihre Räumlichkeiten von Firmen reinigen ließ, die ihren Angestellten für einen Stundenlohn von 4 Euro, der unter dem Branchentarif lag, ein rasendes Tempo aufzwangen.

Die "Minijobs" häufen sich ebenfalls. Es handelt sich um kleine, mit 400 Euro bezahlte Stellen, für die die Sozialabgaben nur halb so hoch sind wie für ein normales Gehalt. Im Herbst 2003 hatten 5,9 Millionen Personen "Minijobs". Für manche sind diese Jobs eine Ergänzung zur Aufrundung des Monatsgehalts; für andere jedoch handelt es sich um die einzige wirkliche Stelle. Für 2005 werden bereits Stellen in Kommunen oder Vereinen für einen Euro pro Stunde angekündigt. Die Langzeitarbeitslosen werden unter Androhung der Verminderung ihrer Beihilfen gezwungen werden, diese Posten anzunehmen.

In den "neuen" Bundesländern ist die Situation katastrophal. Während in der DDR aufgrund eines regelmäßigen Bevölkerungsrückganges Arbeitskräftemangel herrschte, ist die Arbeitslosigkeit seit der Wiedervereinigung sehr stark gestiegen. Die Unternehmen, die überlebt haben, wurden "rationalisiert": Im Laufe einiger weniger Jahren wurden zweieinhalb Millionen Arbeitsstellen zerstört. Die Zahl der Arbeitslosen erreicht heute 18,3%. In der Leipziger Gegend existierten im Jahre 1989 500.000 Arbeitsstellen in der Industrie. Heute gibt es nur noch 12.000, und einige Arbeiter sind seit mehr als zehn Jahren arbeitslos. Die Bevölkerung, der vom ehemaligen Kanzler Helmut Kohl "blühende Landschaften" versprochen wurden, empfindet diese Situation als eine tiefe Demütigung.

Im Osten sind die gesetzlich vorgeschriebenen Gehälter niedriger als im Westen, aber die Preise sind dieselben. Unter den Politikern gehört es zum guten Ton zu erklären, wie es Bundespräsident Horst Köhler im September 2004 getan hat, dass riesige Summen (mehr als 1.200 Milliarden im Laufe von 15 Jahren) vergeblich dazu verwendet worden seien, die neuen Länder zu subventionieren. Aber dieses Geld kam vor allem den Unternehmen zu: Als Subvention zur "Schaffung von Arbeitsplätzen"; für die Bezahlung des Arbeitslosengeldes der entlassenen Arbeiter; aber auch für den Ausbau von Autobahnen, Telefonnetzen, usw. Der Osten des Landes hat auch im Zeitraum von 15 Jahren mehr als eine Million Einwohner verloren. Darüber hinaus nehmen täglich 500.000 Pendler lange Anfahrtszeiten in den Westen in Kauf, um dort zu arbeiten.

In der Folge wächst das Elend in Deutschland, einem Land, wo es praktisch seit Kriegsende verschwunden war. Zwischen 2000 und 2003 ist der Prozentsatz der Bevölkerung, der unter der Armutsgrenze lebt, von 9,2 % auf 12 % gestiegen. Mit Inkrafttreten der Maßnahmen der "Agenda 2010" kann sich die Lage nur weiter verschlechtern.

Zaghafte Gewerkschaften

Die Arbeitnehmer konnten den Beschäftigten diese Opfer nur mit Hilfe der Regierungen aufbürden, die in den letzten 15 Jahren aufeinander gefolgt sind. Dazu kommt, dass die Gewerkschaften angesichts dieser Situation keinen Gegenangriff organisiert haben. Regelmäßig haben sie Rückschritte in Kauf genommen, um Lohntarife oder Arbeitsplätze zu "retten".

Dabei haben die deutschen Gewerkschaften den Ruf, mächtig zu sein: Der mit der Sozialdemokratie verbundene DGB vereint noch heute 7,7 Millionen Mitglieder. Er hat sich jahrelang damit gerühmt, "Verbesserungen" mit einer "verantwortlichen" Einstellung, d.h. ohne Gefährdung der Wirtschaft durch Streiks, erhalten zu haben. Teilweise spiegelte diese Kraft sicherlich die alten Organisationstraditionen der deutschen Arbeiterbewegung wider; doch war der DGB schließlich nur deshalb so mächtig, weil das Bürgertum es in seinem Interesse befand, ihn aufrechtzuerhalten und ihm Mitbestimmung einzuräumen.

Wenn das heutige Bürgertum den ehemaligen Zugeständnissen den Rücken kehrt, so erweist sich der DGB als unfähig, eine den aktuellen Angriffen angemessene Gegenwehr zu organisieren. In Wahrheit wünschen seine Führer das auch gar nicht, denn sie sind sehr eng mit der gegenwärtigen politischen Macht, der SPD, verbunden. Außerdem verteidigen sie mehr die Interessen der auf Gewinn ausgerichteten Wirtschaft als jene der Arbeiter. So haben sie an der Hartz-Kommission teilgenommen, die die Maßnahmen gegen die Arbeitslosen ausgearbeitet hat. Sie haben deren Grundidee angenommen; nur in Randfragen stellten sie sich ihr entgegen und verlangten eine Änderung der härtesten Maßnahmen gegen die Arbeitslosen.

Für die Arbeiterklasse bedeutet die heutige Lage also einen weitgehenden Rückschritt. Zurzeit steckt sie die Schläge ein. Viele sind verwirrt und demoralisiert, umso mehr, als sie alle gegen sich haben: Die Unternehmer, die Regierung (SPD/Grüne), die rechte parlamentarische Opposition (die alle Reformen von Schröder angenommen hat und ihre Mehrheit im Bundesrat sogar ausgenützt hat, um sie zu verschlimmern), aber auch die Führung der Gewerkschaften.

Die Unzufriedenheit der Bevölkerung drückt sich unter anderem bei den Wahlen aus: Die Wahlbeteiligung nimmt ab, man verzeichnet einen bedeutenden Rückgang der SPD und Fortschritte der extremen Rechten, besonders während der Landtagswahlen im September 2004. Aber es ist offensichtlich, dass die SPD keineswegs vorhat, ihre Orientierung zu ändern. Es ist kein Zufall, dass sie heute einer ganzen Reihe sozialer Errungenschaften der vergangenen Epoche den Rücken kehrt. Die Unternehmer erwarten, dass sie ihren Einfluss nützt, damit die Arbeitenden ohne Aufstand die Gesamtheit der Verschlechterungen akzeptieren. Die Führer der SPD sind sich dessen bewusst und bereit, den Preis zu bezahlen, selbst wenn die Partei dadurch bei der Arbeiterklasse in Verruf geraten sollte. Die SPD hat eine lange Tradition an Unterwürfigkeit und Untertänigkeit gegenüber der bürgerlichen Ordnung, die ihre Führer keinesfalls in Frage stellen wollen.

Die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS), die Erbin der ostdeutschen stalinistischen Partei, die bei den Bundestagswahlen 2002 die 5-Prozent-Hürde nicht erreicht hatte, gewinnt seitdem bei allen Wahlen hinzu. Das war auf bemerkenswerte Weise im Osten der Fall, wo sie immer noch ein wichtiges Netz an Aktivisten besitzt, aber auch im Westen, wo sie jedoch auf organisatorischer Ebene sehr schwach bleibt. Das drückt zweifellos das Bewusstsein der ostdeutschen Arbeiter aus, dass die Wiedervereinigung nicht das Glück gebracht hat, das man ihnen versprochen hatte. Gleichzeitig jedoch ist es beinahe lächerlich, dass die Massen keine andere Möglichkeit haben, ihre Unzufriedenheit auszudrücken, als sich einer Partei zuzuwenden, die 40 Jahre lang die Macht, die sie im Namen der Arbeiterklasse ausübte, vor allem gegen die Arbeiter selbst richtete.

Nach ihrer stalinistischen Vergangenheit hat sich die PDS in eine sozialdemokratische Partei verwandelt, die sich von jener Schröders nur darin unterscheidet, dass sie nicht mit der bundespolitischen Macht verbunden ist. Dort wo sie stark genug ist, um politische Verantwortung zu übernehmen, benimmt sie sich wie ihre große Nebenbuhlerin. Das ist in zwei östlichen Ländern (unter ihnen Berlin) der Fall, wo die PDS mit der SPD regiert, und dieselbe Sparpolitik betreibt.

Für die Arbeiterklasse liegt die Zukunft woanders. Die Arbeitenden Deutschlands werden keine andere Wahl als den gemeinsamen Kampf haben, um sich zu verteidigen und ihr Recht auf ein Leben und Arbeiten in Würde durchzusetzen. Es wäre zu wünschen, dass die "Montagsdemos" gegen die Reform der Arbeitslosengelder, die seit Ende Juli andauern, die Vorläufer eines solchen Kampfes sind. Das gilt auch für die am 1. November 2003 ohne Unterstützung der Gewerkschaftsleitung in Berlin organisierte bundesweite Aktion gegen den "sozialen Kahlschlag", die unter allgemeinem Erstaunen 100.000 Demonstranten zusammen brachte; oder die lokalen Aktionen (Streiks, Veranstaltungen), die seit einem Jahr stattfinden. Doch auch wenn sie ein Hoffnungszeichen darstellen, sind diese Initiativen noch stark in der Minderheit.

Das Gewicht des DGB erschwert die Bildung mächtiger Protestbewegungen. Nur sie allein könnten jedoch das Bürgertum und die Regierung in Gefahr bringen, etwas zu verlieren und sie zu einem Rückzug zwingen. Dafür wird es nötig sein, den Weg des Streiks, des echten Streiks, wieder zu finden und mit der gegenwärtigen Praxis, Arbeitsniederlegungen wochenlang im Voraus und zwischen zwei Verhandlungen zu planen, zu brechen. Diese Art von Streik gehört zum institutionalisierten sozialen Spiel zwischen den Unternehmensleitungen und den Gewerkschaften. Man wird auch die Gewohnheit wieder finden müssen, sich zu versammeln, zu diskutieren und zu entscheiden, aktiv an den Kämpfen teilzunehmen und sich die Mittel zu geben, sie demokratisch zu kontrollieren. Die Erziehungs- und Organisationstraditionen der Arbeiterbewegung können dabei helfen. Die Aktivisten der Arbeiterklasse, die sich der Verschlechterung der Situation bewusst sind und reagieren wollen, müssen sich auch darüber im Klaren sein, dass die alte Zeit vorüber ist. Die Mitbestimmung, die, obwohl schon immer Betrug, früher doch wenigstens zu einigen Verbesserungen geführt hatte, besteht heute nur noch darin, neue Verschlechterungen hinzunehmen.

29. September 2004