Zur internationalen Lage (aus Lutte de Classe - Klassenkampf - von Dezember 2020)

Zur internationalen Lage - Dezember 2020
Dezember 2020

Dieser Text wurde vom Lutte Ouvrière-Parteitag von Dezember 2020 verabschiedet

Die Krise der kapitalistischen Weltwirtschaft verschärft nicht nur den sozialen Krieg, den die Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse führt und hat das Potential, die Beziehungen zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten, die Opfer des großen Kapitals sind, grundlegend zu verändern. Sie beherrscht auch die internationalen Beziehungen. Sie fachen die Rivalität zwischen den imperialistischen Mächten an. Sie vergrößert den Druck, den der Imperialismus auf die armen Länder ausübt. Und sie führt dazu, dass eine Vielzahl von Spannungen zwischen Nationen, Ethnien und Religionen wieder aufflammen oder schlimmer werden.

Die Pandemie hat zwar einerseits auf ihre Art gezeigt, wie sehr die Menschheit eins ist. Doch sie hat gleichzeitig alle Fehler und Widersprüche der kapitalistischen Organisationsweise der Gesellschaft deutlich hervorgehoben.

Überall erleben wir dieselbe Unfähigkeit der Staaten, die Pandemie auf andere Weise zu lösen als auf eine Art: Sie wälzen die Verantwortung für die Ausbreitung des Virus auf die Bevölkerung ab, um von ihrer vergangenen und gegenwärtigen Verantwortung für den kriminellen Mangel an Ausstattung und Personal im Gesundheitswesen abzulenken. Und überall ist die Antwort der Nationalstaaten auf ein Virus, das vor keinen Grenzen und keiner Entfernung halt macht, nicht etwa Zusammenarbeit, sondern die Devise „Jeder für sich“ und die Errichtungen weiterer Schranken.

Die imperialistische Herrschaft ruft ständig direkt oder indirekt Reaktionen seitens der unterdrückten Völker hervor. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gab es praktisch durchgehend solche Konflikte. Da die imperialistischen Mächte außerdem nach der Devise „Teile und herrsche“ regieren, nutzen und verstärken sie außerdem ständig nationale, ethnische und religiöse Konflikte – wenn sie sie nicht gar selber erst schaffen. Diese Konflikte, deren Ursprung oft weit zurück reicht, werden beständig von den Rivalitäten zwischen den verschiedenen imperialistischen Mächten angeheizt.

Die Krise, die Verarmung der ausgebeuteten Klassen selbst in den reichen imperialistischen Ländern und das Erstarken reaktionärer und fremdenfeindlicher Ideen verstärken diese Spannungen. Die in den letzten Jahren zunehmenden Spannungen in den internationalen Beziehungen illustrieren, wie örtliche Konflikte zu Kriegen werden, an denen sich zahlreiche Mächte der Welt beteiligen und die weltweite Folgen haben.

Der Bürgerkrieg in Syrien (der 2011 ausgelöst wurde, als Assad auf blutige Weise die Bevölkerung unterdrückte), führte zu einer Kettenreaktion im Mittleren Osten. Er hat Regionalmächte wie den Iran und die Türkei aufgrund ihrer Bündnispolitik mit in den Krieg gezogen. Er hat zur Intervention Russlands geführt. Und alle imperialistischen Mächte waren mehr oder weniger in ihn verwickelt.

In den diesjährigen Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien ist die Türkei in wachsendem Maß verwickelt. Diese greift ebenfalls zunehmend in den Krieg ein, den die rivalisierenden libyschen Kriegsherren um die Macht über Libyen und dessen Ölreserven führen. Griechenland und die Türkei, obwohl beide Mitglied der NATO und damit desselben Militärbündnisses, schrammen derzeit nur haarscharf an einer militärischen Konfrontation um die Kontrolle der Hoheitsgewässer im östlichen Mittelmeer vorbei.

Der Krieg ist eine blutige Realität in mehreren Regionen, die an Europa grenzen.

In vielen Ländern herrscht in der Bevölkerung bereits die Angst vor einem Krieg. Diese Angst wird letztlich auch die Bevölkerungen der imperialistischen Länder erreichen.

Was die Bevölkerung Frankreichs angeht, so scheinen ihr die kriegerischen Eskapaden ihres Imperialismus in seinem ehemaligen Kolonialreich eine weit entfernte Bedrohung zu sein, die sie kaum betrifft. Umso mehr, da diese Militäreinsätze – die unter dem Vorwand geführt werden, „den Terrorismus zu bekämpfen“ – von einer Berufsarmee geführt werden. Doch das Gefühl einer künftigen Katastrophe wird sich mit der Verschärfung der internationalen Spannungen unweigerlich einstellen.

Über einen ganz anderen Weg als der, der zum Zweiten Weltkrieg geführt hat, gewinnen die von Trotzki im Übergangsprogramm (im Kapitel „Der Kampf gegen Imperialismus und Krieg“) angeführten Ziele wieder an Aktualität.

In den imperialistischen Staaten wie Frankreich schwingen die politischen Führer keine Reden gegen den Erbfeind, zumindest im Moment nicht. Aber der „Kampf gegen den Terrorismus“ hat ihn ersetzt.

Die Anti-Terror-Maßnahmen im Inland und die Militärinterventionen im Ausland sind miteinander verbunden und werden mit der „Verteidigung des Vaterlandes“ gerechtfertigt. Das ist Betrug. Wie es schon das Übergangsprogramm ausdrückt: „Unter dieser Abstraktion versteht die Bourgeoisie die Verteidigung ihrer Profite und Plünderungen.“

Die vielen örtlichen Kriege in Asien und Afrika machen selbstverständlich die Waffenhändler reich. Doch die Militärausgaben sind gleichzeitig ein recht wahrheitsgetreues Thermometer für die Verschlechterung der weltweiten Lage. „Die Militärausgaben haben ihren höchsten Wert seit Ende des Kalten Krieges erreicht“, bestätigt der Bericht eines hierauf spezialisierten Instituts.

Die örtlichen Konflikte dienen den Armeen der Großmächte außerdem als Trainingsgelände, entweder direkt oder mittels angeworbener Söldner. Die Zahl der Söldner und Privatarmeen wächst im selben Maße wie die der Waffenverkäufe.

Zu den Militärbündnissen, die dazu führen können, dass aus örtlichen Konflikten Kriege mit weltweiten Verstrickungen werden, gehören nicht nur die offiziellen, auf diplomatischen Verträgen basierenden Militärbündnisse – sondern auch die Bündnisse, die zwischen den Kanonen- und Flugzeughändlern der imperialistischen Staaten und ihren Kunden geschmiedet werden.

Der Jemen zum Beispiel zählt nicht zur direkten Einflusssphäre Frankreichs. Doch er ist ein exzellenter Absatzmarkt für Frankreichs Waffenhersteller. Die Bündnisse, die in Libyen geknüpft und wieder aufgetrennt werden, hängen nicht nur mit dem Kräfteverhältnis zwischen den Kriegsherren zusammen. Ein weiterer Grund sind die geschäftlichen Vorteile, die die Beziehung zu dem einen oder anderen Lager versprechen. So sind an dem Bürgerkrieg nicht nur die Staaten beteiligt, deren Truppen in Libyen kämpfen, sondern darüber hinaus eine Vielzahl weiterer Staaten, von Ägypten bis zu den Vereinigten Arabischen Emiraten.

Die kapitalistische Welt ist ein Pulverfass. Es sprühen bereits viele Funken, von denen jeder eine Kettenreaktion auslösen und zu einem Krieg führen könnte, an dem die Großmächte beteiligt sind. Dies könnte die erste Phase eines neuen Weltkriegs werden.

Zwei der wichtigsten Großmächte, die USA und China, liefern sich bislang nur Rededuelle. Ein Handelskrieg hat jedoch bereits begonnen. Noch wird er gebremst von der gegenseitigen Abhängigkeit der amerikanischen und chinesischen Wirtschaft, bedingt durch die große Präsenz amerikanischer und generell westlicher Konzerne in China. Während der imperialistische Westen Kapital nach China exportiert, exportiert China Waren in den Westen. Die Hälfte der chinesischen Industrie arbeitet wohl auf die eine oder andere Weise für den Export. Die gegenseitige Abhängigkeit ist entsprechend asymmetrisch. Die USA sind eine imperialistische Macht, während China in weiten Teilen ein armes Land bleibt. Diese Asymmetrie besteht nicht nur auf wirtschaftlichem Gebiet, sondern spiegelt sich auch auf militärischem Gebiet und in der Menge und Qualität ihrer jeweiligen Waffen wieder.

Reibungspunkte mit direkten militärischen Auswirkungen gibt es bereits. Die US-Unterstützung für Taiwan – diese seit der Niederlage im Jahr 1949 von China abgespaltene Insel, auf der Chiang Kai-shek Zuflucht fand – ist eine alte Angelegenheit. Zwar haben die USA 1978 die Volksrepublik China anerkannt. Die diplomatischen Aktivitäten, Waffenverkäufe und Marineoperationen der USA zeugen jedoch davon, dass Taiwan nach dem Willen der USA weiterhin zu dem Ring aus Staaten gehören soll, die Verbündete der USA sind und die den chinesischen Einfluss eindämmen sollen. Zu diesen Staaten zählen neben Taiwan unter anderem Malaysia, die Philippinen und Japan. Durch diesen Ring schwebt über China die permanente Bedrohung, dass es seinen Zugang zum Pazifischen und zum Indischen Ozean verlieren könnte.

Die Paracel- und die Spratly-Inseln, diese winzigen Archipele im Südchinesischen Meer, gehören zu den Krisenherden der Welt, da sich hier die Kriegsschiffe Chinas und die Kriegsschiffe der USA und ihrer regionalen Verbündeten kreuzen.

Es gibt bislang noch keine Dynamik wie diejenige, die zum Zweiten Weltkrieg geführt hat und die damals hauptsächlich zwei imperialistische Lager mit ihrem Bestreben nach Herrschaft in der Welt einander gegenüberstellte. Doch die USA bereiten ihre Bevölkerung bereits auf die Möglichkeit einer Auseinandersetzung mit China vor. Für Trump war sogar das Coronavirus chinesisch und die Pandemie eine Kriegshandlung! Und das war nicht nur ein Mittel, um die Schuld auf andere abzuwälzen für die offensichtliche Unfähigkeit seines Regimes, die Ausbreitung des Virus einzudämmen.

Hier in Frankreich hat der „Krieg gegen den Terror“ mit seinen internationalen Implikationen ebenfalls das Ziel, die Bevölkerung für diese Ziele einzuspannen. Die wiederholten Aufrufe zur „nationalen Einheit“, die von allen bürgerlichen Parteien geteilt werden – und zwar von einem Ende des politischen Spektrums bis zum anderen – dienen diesem Ziel. All das im Namen des Vaterlandes und seiner Verteidigung: So, wie es bei der Rechtfertigung aller imperialistischen Kriege, selbst der schändlichsten, Tradition ist.

Mit der Zuspitzung der internationalen Beziehungen werden die revolutionären Kommunisten diesen Betrug immer häufiger aufdecken und anprangern müssen. Sie müssen dem bürgerlichen Patriotismus den Internationalismus der Arbeitenden entgegenstellen. Dieser Internationalismus ist zwingender Bestandteil der kommunistischen Perspektiven.

Allgemeine Propaganda für den Internationalismus zu machen ist notwendig, doch absolut nicht ausreichend. Es ist notwendig, Tag für Tag die Politik und auch die Sprache der Parteien des Bürgertums zu bekämpfen. Jenseits ihrer sonstigen Unterschiede sind nämlich die Parteien des Bürgertums alle einer Meinung, wenn es darum geht, ihren Imperialismus zu verteidigen. Sie haben alle zum Ziel – ob sie es zugeben oder nicht – die Bevölkerung an die bereits stattfindenden und künftigen Kriege zu gewöhnen.

Wir müssen uns jeder Form von „nationaler Einheit“ verweigern. Diese dient stets dazu, den grundlegenden Gegensatz zwischen den Interessen der Ausgebeuteten und denen ihrer Ausbeuter zu verschleiern und ersteren den letzteren unterzuordnen. Wir müssen uns jeder Politik verweigern, die die Proletarier eines Landes gegen die eines anderen Landes stellt – auch in der Variante, bei der es um die „Unabhängigkeit des Nationalstaates“ von anderen Mächten geht.

Das Übergangsprogramm verbindet die Probleme, die durch die wirtschaftlichen Aspekte der Krise entstehen mit ihren militärischen Folgen. Es fasst dies lapidar in der Übergangsforderung „Kein Aufrüstungsprogramm, sondern ein Programm öffentlicher gemeinnütziger Arbeiten!“ zusammen. Was man derzeit folgendermaßen aktualisieren könnte: „Geld für den Bau von Krankenhäusern und die Ausbildung und Einstellung von Arbeitenden im Gesundheitswesen – und nicht für die Waffenindustrie“.

Die internationale Politik der Bourgeoisie ist die Fortsetzung ihrer nationalen Politik mit anderen Mitteln.

Frankreich ist eine imperialistische Macht. Es kann daher keine gerechten Kriege führen. Die Kriege, die Frankreich bereits führt oder an denen es in der Zukunft beteiligt sein wird, sind und werden imperialistische Kriege sein.

Es gibt nur einen Weg, sich den drohenden Kriegen entgegenzustellen, mit denen die internationalen Beziehungen bereits schwanger gehen, und dieser besteht darin, den einzigen wirklich gerechten Krieg unserer Zeit zu führen: den revolutionären Krieg des Proletariats für den Sturz der Bourgeoisie. „Der Hauptfeind steht im eigenen Land.“ Diese Feststellung, die die kommunistisch-revolutionäre Haltung zusammenfasst, galt zur Zeit von Karl Liebknecht, Lenin und Trotzki – und gilt heute noch immer.

Die USA

Mit 225.000 Toten zählen die USA so viele Todesopfer der Pandemie wie kein anderes Land auf der Welt. In einer Stadt wie New York sind es 24.000, mehr als in der Lombardei, dreimal so viel wie im Großraum Paris, obwohl dort mehr Menschen wohnen, und überhaupt mehr als in jeder anderen Metropole der Welt. Heute schlägt die Pandemie auch in den ländlichen Gegenden zu, wo die Kranken mangels freier Krankenhausbetten sogar teilweise in einen anderen Bundesstaat müssen, um behandelt zu werden.

Die Gründe für diese katastrophale Lage sind vielfältig. Monatelang hat Trump die Gefahr des Virus heruntergespielt, um die wirtschaftliche Bilanz seiner Amtszeit nicht trüben. Republikanische Gouverneure haben es ebenso gemacht und jede Form von Lockdown abgelehnt, bevor sie schließlich doch dazu gezwungen waren. Die Tatsache, dass mehr als 30 Millionen US-Amerikaner keine Krankenversicherung haben und dass die Arbeitsbedingungen manchmal (wie in den Schlachthöfen oder in der Landwirtschaft) auf unbarmherziger Ausbeutung beruhen, hat sicher ebenfalls seinen Anteil daran. Die Arbeitenden – die Industriearbeiter, die Arbeitenden im Gesundheitswesen, die Haushaltshilfen, die Ärmsten, die Schwarzen, die Hispanics – erkranken und sterben zwei bis drei Mal häufiger als die leitenden Angestellten und Wohlhabendsten. Sie bezahlen in diesem Massaker einen hohen Preis. Schon vor Covid-19 ist die Lebenserwartung in den USA drei Jahre lang in Folge zurückgegangen – eine außergewöhnliche Tatsache, die vielleicht der Krise der Opiate zusammenhängt. Obwohl die USA ein BIP haben, dass sieben Mal höher ist als das Kubas, ist die Lebenserwartung in den USA nicht höher und die Kindersterblichkeit sogar größer als auf Kuba. Das ist der Preis, den die Bevölkerung für die Profite der privaten Versicherungskonzerne und der Medizin- und Pharmaindustrie bezahlt.

Die Coronakrise hat zu einem Zusammenbruch der Wirtschaft geführt. Während sich die Regierung für das Wirtschaftswachstum und die besonders niedrigen Arbeitslosenzahlen brüsteten, brach das BIP um 5% im ersten Quartal und um 31% im zweiten Quartal ein. Während das Land Anfang März noch 7 Millionen Arbeitslose zählte, stieg ihre Zahl auf 30 Millionen Ende April. Und Millionen weitere konnten sich nicht arbeitslos melden, entweder weil die zuständigen Anlaufstellen vollkommen überlastet waren oder weil sie ohnehin keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld hatten und sich daher gar nicht gemeldet haben. Es wurden zwar seitdem wieder Arbeitsplätze geschaffen, insbesondere damit die Betriebe ihre Produktion wieder aufnehmen konnten – was der Verbreitung des Virus und der Zerstörung weiterer Arbeitsplätze Vorschub geleistet hat. Die offizielle Arbeitslosigkeit liegt bei 8%. Der Präsident der Zentralbank Fed schätzt sie auf 11%. Und in Wahrheit liegt sie wohl eher bei 27% - vergleichbar mit der Arbeitslosigkeit in der Zeit der Weltwirtschaftskrise Anfang der dreißiger Jahre. Was als temporäre, dem Coronavirus geschuldete Arbeitslosigkeit dargestellt wird, richtet sich in Wahrheit als dauerhafte Arbeitslosigkeit ein.

Die Börsenkurse hingegen sind schon fast wieder so gesund wie vor der Pandemie. Der Dow Jones und der S&P (der Aktienindex der größten börsennotierten US-amerikanischen Unternehmen) sind schon wieder auf dem Stand von vor der Pandemie. Der Nasdaq, der Börsenindex für Unternehmen der Neuen Technologien, ist seinerseits auf einem Rekordhoch. Wenn auch Fluggesellschaften, Kreuzfahrtanbieter und Freizeitparkbetreiber düster dreinblicken und tausende mittlere und kleine Betriebe Pleite gehen, so flüchtet sich die Finanz halt zu den Gafam, Paypal, Netflix, Tesla und anderen Teledocs (Ärzten des Social Distancing), oder auch zu den multinationalen Pharmakonzernen, die auf den Jackpot der Impfung hoffen. Nach dem „schwarzen Freitag“ der Wallstreet im Jahr 1929 dauerte es 25 Jahre, bis die Börse ihr Vorkrisenniveau wieder erreichte; 2020 brauchte es dafür nicht einmal sechs Monate.

Der Hauptgrund für den Optimismus der Spekulanten ist die Unterstützung des Staates. Wie in anderen Ländern hat die US-Regierung mit einer massiven Verschuldung auf den wirtschaftlichen Zusammenbruch reagiert. Nicht nur, dass die Zinssätze quasi bei null sind. Die Zentralbank Fed hat außerdem massenhaft Schulden von Unternehmen aufgekauft, die ansonsten Pleite gegangen wären. Die Staatsschulden machen heute 135% des jährlich produzierten nationalen Reichtums aus. Sie waren vorher schon von 67% im Jahr 2008 auf 103% im Jahr 2017 angestiegen. Sprich, die US-amerikanische Wirtschaft lebt immer mehr auf Pump, und dies ist keine neue Erscheinung. Trump hat ein Konjunkturprogramm in Höhe von 2.000 Milliarden Dollar angekündigt. Biden bietet sogar noch mehr: 2.200 Milliarden! Und der eine wie der andere will der arbeitenden Bevölkerung die Rechnung hierfür präsentieren.

Während das Vermögen der Immobilien- und Aktienbesitzer explodiert, verarmt die Arbeiterklasse. Ein Viertel der US-Amerikaner verfügt anscheinend nicht genug Geld, um ihre Lebensmittel bezahlen zu können und ist auf Lebensmittelhilfe angewiesen. Dieses Problem ist nicht neu, doch es hat sich mit der Krise und den Millionen verschwundenen Arbeitsplätzen in zahlreichen Wirtschaftszweigen verschärft. Seit dem Frühjahr konnten und können zahlreiche Arbeiterfamilien die Raten für ihr Haus oder ihre Miete nicht mehr bezahlen und sind von Zwangsräumung bedroht – was an die dramatischen Folgen der Krise von 2007/2008 erinnert.

Auf politischer Ebene war das prägendste Ereignis die breite Mobilisierung gegen Rassismus und Polizeigewalt nach der Ermordung George Floyds in Minneapolis im Juni. Die Protestbewegung war massiv, reichte bis nach Alaska und mobilisierte viele Schwarze, aber auch antirassistische Weiße. Mit ihrer Forderung nach einer Reform der Polizei jedoch stieß sie auf einen unlösbaren Widerspruch im Rahmen der derzeitigen Gesellschaft: Der US-Kapitalismus wurde auf dem Fundament der Sklaverei und der Spaltung nach „Rassen“ errichtet, und die Polizei ist ein unverzichtbares Instrument der Klassenherrschaft.

Biden und die Demokraten haben versucht, auf die Welle der Wut, die der Mord an George Floyd erzeugt hat, mit zu schwimmen. Trump hingegen hat die Karte der Frontalopposition gegenüber den Demonstranten gespielt und hat demagogisch den Rassismus gegen die Schwarzen angeheizt. In mehreren Städten sind rechtsextreme Milizen offen aufgetreten, wie in Portland (Oregon), haben manchmal antirassistische Demonstranten getötet wie in Kenosha (Wisconsin) oder haben die Entführung einer demokratischen Gouverneurin geplant wie in Michigan. Diese Gruppen sind vielleicht eine kleine Minderheit, aber sie haben die Unterstützung eines Teils der Öffentlichen Meinung, bis ins Weiße Haus. Wenn Trump verliert, rächen sie sich vielleicht an den Schwarzen. Und wenn die Krise sich verschärft und die soziale Lage schlimmer wird, können sie eine größere Rolle als bewaffnete Aushilfskräfte im Dienst des Kapitals spielen.

Wir wissen zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wie die Präsidentschaftswahlen ausgehen werden. Die Abstimmung findet am 3. November statt, aber niemand weiß wegen der möglichen Streitpunkte wirklich, wann die Wahl entschieden sein wird. Ganz zu schweigen davon, dass in dieser vorbildhaften Demokratie der kapitalistischen Welt der Sieger der Wahl nicht unbedingt derjenige ist, der die meisten Stimmen erhalten hat... Auf jeden Fall ist die Finanzwelt erfreut über die Wahlumfragen, die Joe Biden als Sieger sehen. Was die Spenden der großen Kapitalisten angeht, so übersteigt die Beliebtheit Bidens sogar die von Trump. Warum sollte es auch anders sein? Biden ist schließlich seit fast 50 Jahren ein ebenso angepasster wie loyaler bürgerlicher Politiker. Wie Trump fordert er, „amerikanisch zu produzieren, mit amerikanischen Arbeitsplätzen“. Wie Trump will er das Kräftemessen mit China fortsetzen. Anders gesagt, die Bourgeoisie ist heiter und gelassen. Sie weiß, dass – auch wenn das Land Millionen zusätzliche Arbeitslose zählt – das Geld der Regierung mit Biden auch weiterhin die Taschen der Konzerne füllen wird, und die Börse auch weiterhin florieren wird.

Mittlerer Osten

Die Konflikte um Einfluss und die Folgen der Militärinterventionen der verschiedenen Regionalmächte und des Imperialismus kommen zusammen und machen aus dem Mittleren Osten eine Region permanenter Spannungen. Vom Jemen über Libyen bis nach Syrien hat sich ein dauerhafter Kriegszustand oder zumindest schwelender Kriegszustand eingenistet, der jederzeit zu gewaltsameren und größeren Konflikten führen kann. Doch jetzt gießt die Wirtschaftskrise Öl ins Feuer: Sie macht die Lebensbedingungen der Massen unerträglich und heizt außerdem die kriegerischen Neigungen der verschiedenen Regime an.

Nach dem Irak und dem Iran war dieses Jahr der Libanon Schauplatz einer großen Volksbewegung. Die besondere Rolle dieses Landes als Zentrum der Banktransaktionen und Finanzströme der Region haben es ihm lange Zeit ermöglicht, ein relativ wohlhabendes Kleinbürgertum zu unterhalten. Diese Quellen sind versiegt, was zu einer Wirtschaftskrise geführt hat. Und die Herrscher des Landes, die die Krise durch Finanzierungstricks herauszögern wollten, haben sie nur noch schlimmer gemacht. Die Kapitalflucht hat die libanesische Währung abstürzen lassen. Die Mehrheit der Bevölkerung ist innerhalb kurzer Zeit ins Elend gestürzt. Die Revolte der Bevölkerung ging über die Religionsgrenzen hinweg und richtete sich gegen das politische System, seine Korruption und seine Unfähigkeit, das Land auch nur halbwegs kohärent zu leiten – was bei der katastrophalen Explosion im Hafen von Beirut am 4. August noch einmal deutlich wurde. Die Demagogie eines Macrons, der die libanesische Führung dazu auffordert, sich zu reformieren, kann nicht vergessen machen, dass der Libanon in seiner heutigen Verfasstheit eine Schöpfung des französischen Kolonialismus und Imperialismus ist. Letzterer möchte, dass der Libanon ihm weiterhin als Stützpunkt im Nahen Osten dienen kann. Seine Aufforderung, die finanzielle Lage des Landes in Ordnung zu bringen, ist letztlich nichts anderes als der Appell an die libanesische Führung, dass sie sich gefälligst als fähig erweisen soll dafür zu sorgen, dass die Bevölkerung die Krise bezahlt und ihre dramatische Verarmung erträgt.

Unter Trump hat die Unterstützung der USA für die Politik der israelischen Regierung jede Form von Taktgefühl aufgegeben. Trump hat Jerusalem als Hauptstadt anerkannt und die amerikanische Botschaft dorthin verlegt. Er hat außerdem die Kolonien im Westjordanland und die Annexion der Golanhöhen für legal erklärt. Mit alledem hat er der israelischen Politik, vollendete Tatsachen zu schaffen, eine Blankovollmacht ausgestellt.

Durch Demagogie gegenüber der extremen Rechten, insbesondere den Siedlern, hat Netanjahu seinen Plan bekräftigt, einen Teil des besetzten Westjordanlandes zu annektieren. Aber es gibt einen Schritt zwischen Demagogie und Umsetzung. Umso mehr, als eine solche Entscheidung in israelischen Führungskreisen keineswegs einhellig ist, auch nicht in der Armee, denn  einige der Meinung sind, dass die billigste Option es bleibt, die Palästinensische Autonomiebehörde in dem von ihr verwalteten Teil des Westjordanlandes für Ordnung sorgen zu lassen. Ursprünglich für den 1. Juli 2020 geplant, wurde diese Annexion zunächst ohne wirkliche Erklärung verschoben und dann schließlich im Gegenzug für die offizielle Anerkennung des Staates Israel durch die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain auf unbestimmte Zeit vertagt. Mit diesem Abkommen konnte Netanjahu also vermeiden, sein Versprechen gegenüber den Anhängern eines Groß-Israel einhalten zu müssen. Die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain, denen sich kurz darauf der Sudan angeschlossen hat, fühlen sich ihrerseits nicht einmal mehr dazu verpflichtet, eine Solidarität mit der Forderung der Palästinenser nach einem eigenen Staat zumindest vorzutäuschen. Ihre Beziehungen zu Israel zu normalisieren, ist vom kommerziellen und finanziellen Standpunkt aus sicher vielversprechender – ganz zu schweigen von der größeren Unterstützung, die sie nun von den USA zu erwarten haben. Die Mehrheit der arabischen Staaten sehen mittlerweile im Regime von Teheran ihren Hauptfeind und in Israel einen möglichen Partner für ihren Kampf gegen den Iran.

Die Unterstützung der arabischen Staaten für die Rechte der Palästinenser war immer nur rein symbolisch gewesen. In Worten haben sie sich lange Zeit solidarisch mit den Palästinensern erklärt, um sich nicht gegen die öffentliche Meinung in der arabischen Bevölkerung zu stellen. Doch sie haben nie gezögert, palästinensische Bewegungen blutig niederzuschlagen, wenn diese ihre Regime zu destabilisieren drohten. Während des „schwarzen September“ von 1970 in Jordanien oder während des libanesischen Bürgerkriegs waren es arabische Staaten, die der Entwicklung der nationalistischen palästinensischen Organisationen ein Ende setzten. Dies hat Israel geholfen, seine Position zu stärken und dem palästinensischen Volk jede Anerkennung seiner Rechte zu verweigern.

Allerdings steht die israelische Politik vor einem Zwiespalt. Indem sie jeden Kompromiss mit den Palästinensern verweigern und mit ihren Siedlungen immer mehr Fakten schaffen, machen sie eine Zwei-Staaten-Lösung immer unwahrscheinlicher. Aber wenn sie das Westjordanland ganz annektieren, dann wird eine arabische Bevölkerung Teil des israelischen Staates, die zahlreicher werden könnte als die jüdische Bevölkerung und die nicht ewig hinnehmen könnte, in einem Apartheidregime zu leben. So wie bereits seit der Gründung des Staates Israel schiebt die israelische Führung daher jede ernsthafte Regelung des Konflikts mit den Palästinensern nach hinten.

Am Rande der Region ist die interventionistische Politik von Erdogans Türkei eine Antwort auf die schwere Krise ihrer Wirtschaft. Nach einer Zeit relativer Prosperität sind ihre Märkte in Syrien, dem Irak und dem Iran geschrumpft. Der Rückgang des Tourismus und die Gesundheitskrise kommen noch hinzu. Die Prestigepolitik Erdogans hat außerdem zu einer Verschuldung geführt, die das Land nicht mehr schultern kann. Die Verschuldung hat dazu geführt, dass die Währung massiv an Wert verloren hat, die Mehrheit der Bevölkerung verarmt ist und das Regime seine Glaubwürdigkeit verloren hat.  Ihre Antwort besteht in ständigem Gestikulieren und militärischen Interventionen gegen die Kurden, in Syrien, in Libyen, im Kaukasus, ganz zu schweigen von dem jüngsten Gezeter gegen Frankreich im Namen der Verteidigung der Muslime. Das türkische Regime versucht außerdem, einen Teil der Öl- und Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer unter seine Kontrolle zu bekommen und die dortigen Hoheitsgewässer zwischen Griechenland und der Türkei neu aufzuteilen – auch um den Preis, einen Krieg mit Griechenland zu riskieren. Der andere Aspekt dieser Politik besteht darin, eine permanente Spannung im Landesinneren aufrecht zu erhalten, mit ständigen Verhaftungen, Repression und der Anprangerung angeblicher Verschwörer. Das Regime, das sich bedroht fühlt, schafft es nur um diesen Preis, sich an der Macht zu halten.

In allen Ländern des Mittleren Ostens, aber auch in den Ländern des Maghreb und der Türkei kam die Gesundheitskrise noch auf die Wirtschaftskrise und ihre Auswirkungen obendrauf. Sie hat die Lebensbedingungen der Massen weiter verschlimmert, aber sie trägt derzeit auch dazu bei, die Reaktionen der Massen zu lähmen. In Algerien kam sie für das Regime genau zum rechten Zeitpunkt: Sie ermöglichte es ihm, der seit Februar 2019 andauernden Protestbewegung ein Ende zu setzen und einen repressiven Charakter anzunehmen Im ganzen Land bleibt die Lage dennoch weiterhin explosiv. Angesichts der immer untragbaren Zustände werden die Forderungen und Revolten zwangsläufig wieder aufleben.

Irak, Jemen, Syrien, Libyen und nun auch der Libanon machen deutlich, wie die imperialistische Herrschaft Länder ruinieren kann, durch physische und materielle Zerstörung oder durch die ihrer Wirtschaft. Um mit der Herrschaft des Imperialismus Schluss zu machen, wird es auch erforderlich sein, die Diktaturen zu stürzen, die seine Agenten vor Ort sind – und ebenso die Grenzen abzuschaffen, mittels derer der Imperialismus die Region zerteilt hat.

Russland und sein „nahes Ausland“, von Krisen geschüttelt

Die meisten Staaten der ehemaligen Sowjetunion sind seit dem Zerfall der UdSSR vor drei Jahrzehnten quasi ständigen Krisen ausgesetzt. Mit der Verschärfung der Weltwirtschaftskrise bekommen diese Krisen manchmal einen explosiven Charakter

In Kirgisistan, einem der fünf Mitgliedsstaaten der Freihandelszone rund um Russland, hat eine Verkettung von gefälschten Wahlen und Aufständen zum Sturz der Regierung geführt. Wie bereits 2005 und 2010 unter vergleichbaren Umständen. Seit fünfzehn Jahren haben die Korruption, der autoritäre Regierungsstil der Clans an der Macht sowie die kontinuierliche Verarmung der Bevölkerung zu „Revolutionen“ geführt – den sogenannten „Farben-Revolutionen“ in der Ukraine, Georgien, Armenien, Moldawien und verschiedenen Ländern Zentralasiens.

Erneut ist nun der Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien rund um die Region Berg-Karabach ausgebrochen. Hintergrund ist zum einen, dass die herrschenden Cliquen dieser Länder und Regionen die Flucht nach vorne ergriffen haben, um ihre eigenen Bevölkerungen vergessen zu machen, welchen Anteil sie an deren Verarmung haben. Und zum anderen die Rivalität und der sich hochschaukelnde kriegerische Wettstreit zwischen Russland und der Türkei, die beide ihre Rolle als Schutzmacht im Kaukasus stärken wollen.

Im Jahr 1988, noch zu Zeiten der UdSSR, beeilten sich die herrschenden Bürokraten der 15 Sowjetrepubliken, ihre Völker und Reichtümer unter sich aufzuteilen – und bedienten sich dafür hauptsächlich nationalistischer Demagogie. Die Region Berg-Karabach, die mehrheitlich von Armeniern bevölkert wird, hatte sich in diesem Kontext von Aserbaidschan abgespalten, zu dessen administrativer Einheit es bis dahin gehörte.

Sechs Jahre „ethnischer Säuberungen“ und Krieg forderten 30.000 Tote, über eine Million Menschen der ganzen Region wurden vertrieben. Seitdem leben diese Bevölkerungen, die jahrhundertelang in dieser Gegend zusammen gelebt hatten, in einem Klima bewaffneter Feindseligkeit gegenüber ihrem Nachbarn – ein Klima, das ihre Regierungen und die hinter ihnen stehenden Großmächte beständig anheizen.

Die Oktoberrevolution 1917 hatte das Recht der Völker auf Selbstbestimmung verkündet und den Völkern des ehemaligen zaristischen Russlands größte Freiheit bei der Entscheidung darüber gegeben, wie sie ihr gemeinschaftliches Leben innerhalb des Sowjetlandes organisieren wollten. Aber sie hatte nicht die Möglichkeit, die „nationale Frage“ im Rahmen eines einzigen, obendrein isolierten und armen Landes zu lösen. Dieses Ziel konnte – wie so viele Ziele, für die Lenin, Trotzki und ihre Genossen kämpften – erst dann erreicht werden, wenn die sozialistische Revolution mindestens in mehreren entwickelten Ländern gesiegt und es somit der gesamten Gesellschaft in ihrer nationalen und anderen Diversität ermöglicht haben würde, ihre materiellen und kulturellen Existenzbedingungen auf ein höheres Niveau zu heben.

Die revolutionäre Welle in Europa ebbte jedoch in den 1920er Jahren ab. In der UdSSR ermöglichte dies einer konterrevolutionären Bürokratie, die Macht der Arbeiterklasse an sich zu reißen. Die stalinistische Bürokratie zermalmte alles und jeden unter dem Stiefel ihrer Diktatur, und so trat sie auch die Rechte der Völker mit Füßen. Einige von ihnen (Tschetschenen, Krimtataren usw.) wurden sogar deportiert.

Dennoch, trotz all dem Schrecken des Stalinismus lebten mehr als hundert Nationalitäten sieben Jahrzehnte lang im Großen und Ganzen friedlich in dieser großen multiethnischen Einheit namens Sowjetunion zusammen.

Das Verschwinden der UdSSR stellt einen historischen Rückschritt für seine Völker dar. Einer der furchtbarsten Aspekte dieses Rückschritts besteht darin, dass sie erneut von den Stacheldrahtzäunen künstlicher Grenzen zerrissen werden. Und dass ihr Leben in Blut getränkt wird von Pogromen und nationalem Hass, der ganz oben instrumentalisiert wird – wie zur Zeit des Zarismus.

Dasselbe gilt für den Osten der Ukraine. Dessen Bevölkerung ist die Geisel nationaler bürokratisch-mafiöser Cliquen im Rahmen eines Kräftemessens zwischen dem Westen und Russland. Tausende Tote, Zerstörungen ohne Ende und ein rachedurstiger Patriotismus vergiften das soziale Leben in der Ukraine wie auch in Russland.

In Russland setzt Putin seit zwanzig Jahren auf die Karte des Nationalismus, um sich an der Macht zu halten. Doch angesichts der Auswirkungen der weltweiten Krise auf das Land hat das Regime seit einigen Jahren eine Reihe von politischen Entscheidungen getroffen, die die Einkommen der Privilegierten und Reichen auf Kosten der arbeitenden Klasse erhalten. Dies untergräbt seine relative Zustimmung „im einfachen Volk“, die das Fundament des russischen Bonapartismus bildete. Um seine Macht in dieser Lage zu festigen, hat sich der Herrscher des Kremls selbst eine Art Präsidentschaft auf Lebenszeit verliehen.

Ebenfalls diesen Sommer ist in Weißrussland Präsident Lukaschenko ins Wanken geraten, als nach seiner offensichtlich gefälschten Wiederwahl die Massen auf die Straße gingen und dann zehntausende Arbeitende in den Streik traten. Trotz der anhaltenden Repression sitzt er noch immer nicht wieder fest im Sattel. Und das, obwohl er die Unterstützung Putins hat, der genau weiß, dass die Folgen der weltweiten Krise auch sein Regime erschüttern könnten. Und ebenso die, wenn auch heuchlerischere Unterstützung der westeuropäischen Staaten, die Angst davor haben, dass vor ihrer Haustür das politische und soziale Chaos ausbricht.

Diese „letzte Diktatur Europas“, wie die Führer der westlichen Welt sie nennen, die Lukaschenko nicht verzeihen, dass er Züge des sowjetischen Regimes beibehalten hat, hält sich seit 26 Jahren. Dies liegt daran, dass das Regime zwar die Pfründe der Bürokraten sichert, aber nicht oder zumindest weniger als in Russland und der Ukraine mafiöse Privatisierungen durchgeführt, Sozialleistungen abgeschafft und andere marktwirtschaftliche „Reformen“ eingeführt hat – also all das, was die Bevölkerung im Rest der ehemaligen Sowjetunion so brutal verarmt hat.

Doch die weltweite Krise machte die einträgliche Rolle des Zwischenhändlers zwischen Russland und dem Westen zunichte, die das weißrussische Regime lange Zeit innehatte. Dadurch war es gezwungen, auf drastische Weise den „sozialen Kompromiss“ aufzukündigen, der das Geheimnis seiner Stabilität ausmachte. Es hat die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse massiv angegriffen, und das Kleinbürgertum konnte nicht mehr hoffen, sich so zu bereichern wie vorher.

Dies ist der Hintergrund für den widersprüchlichen Charakter der derzeitigen Protestbewegung. Da ist ein Kleinbürgertum, das in Richtung Westen schielt. Und da ist die arbeitende Bevölkerung, die fühlt, dass das Regime zwar ihr Feind ist, die liberale Opposition jedoch ebenso wenig ihr Verbündeter ist. Auch dann nicht, wenn dieses Kleinbürgertum die Arbeitenden beständig dazu aufruft, sich zu vereinen... hinter seinen politischen Zielen und Klasseninteressen.

Die Arbeitenden Weißrusslands würden selbstverständlich gut daran tun, wenn sie die Proteste gegen den Autokraten Lukaschenko nutzen würden, um sich zu organisieren und ihre einen Forderungen aufzustellen. Nicht nur, um der liberalen – und de facto pro-bürgerlichen – Opposition den Anspruch streitig zu machen, dem Kampf der ganzen Bevölkerung gegen das Regime anzuführen. Sondern mehr noch, um als Träger einer anderen wirtschaftlichen Organisation der Gesellschaft in Erscheinung zu treten: einer anderen Perspektive als den mafiösen Paternalismus der Bürokratie oder die Rückkehr in den Schoß des Marktes und damit der imperialistischen Vorherrschaft; eines Systems, das von der Arbeiterklasse geleitet wird; eines sozialistischen Systems, das sich nicht auf eine, wenn auch radikale Veränderung in einem einzigen Land beschränkt (was unmöglich ist), sondern sich zum Ziel setzt, den Kapitalismus und jede Form von Unterdrückung weltweit zu stürzen.

Diese Perspektive vertritt keine Partei in der derzeitigen weißrussischen Krise. Ebenso wenig, wie sie in irgendeiner anderen größeren Krise auf der Welt vertreten wurde, in der die Arbeiterklasse zu kämpfen angefangen hat – und dies schon seit langem. Auch dort nicht, wo die Arbeiterklasse in diesen Kämpfen ganz vorne stand, wie dies einige Jahrzehnte lang in Osteuropa und insbesondere in Polen der Fall war.

Die rapide Verschlimmerung der Krise der kapitalistischen Welt macht es mehr denn je notwendig, dass Organisationen erneut diese Perspektive vertreten, vor den Arbeitern und in ihrem Namen, und vor allen Gesellschaftsschichten, die an dieser ungerechten und immer unerträglicheren Ordnung rütteln wollen. Revolutionäre kommunistische Organisationen aufzubauen und sie in der Arbeiterklasse zu verankern, ist eine dringende und unabdingliche Aufgabe. Und sie ist die einzig fruchtbare Aufgabe, um die Menschheit aus der Sackgasse von Kämpfen zu führen, die sie im besten Falle defensiv gegen all das Übel, mit dem der Kapitalismus sie überhaupt und noch mehr überhäufen wird, wenn es der Arbeiterrevolution nicht gelingt, mit diesem System Schluss zu machen.

 

30. Oktober 2020