Ein Jahrhundert nach der Oktoberrevolution: Russland im Zeitalter des kapitalistischen Niedergangs

Juni 2018

Vortrag des Leo Trotzki-Kreises (Paris) vom 14. Juni 2018

Ein Jahrhundert nach der Oktoberrevolution: Russland im Zeitalter des kapitalistischen Niedergangs

Wenn man den Kommentatoren glaubt, wird Russland während der Fußball-WM, die es zurzeit ausrichtet, nicht besonders glänzen. Doch seit dem letzten Wahlkampf nutzt Putin den Jargon des Sports und verkündet den Russen: "Wir sind ein Team!". Und natürlich rühmt er sich, der Kapitän der Mannschaft zu sein. Vergangenen März ist Putin zum vierten Mal zum Präsidenten der Russischen Föderation gewählt worden. Nach Ablauf dieser Amtszeit wird er das Land 24 Jahre lang regiert haben. Dabei sind die Jahre 2008 bis 2012 mitgezählt, in denen er mit Ministerpräsident Medwedew die Rollen getauscht hat, um die Bestimmungen der Verfassung einzuhalten und gleichzeitig der einzige wahre Kapitän an Bord zu bleiben.

Putin, der in allen Umfragen weit vorne lag, hatte sich in diesem Wahlkampf mit einer Versammlung in Moskau begnügt, bei der er vor zehntausenden Menschen genau ... drei Minuten lang sprach. Doch die Medien haben 24 Stunden am Tag für ihn Wahlkampf gemacht. Sie brachten unzählige schmeichelhafte Reportagen und liebdienerische Interviews. Es war so übertrieben, dass eine Fotomontage zirkulierte, auf der Putin mit nacktem Oberkörper hoch oben auf einem Bären in einem Flussbett sitzt. Und was die anderen Kandidaten anging, so haben sie keinerlei Programm vertreten: Sie hatten keins und beschränkten sich darauf, im Fernsehen ihre Show abzuziehen.

Für die russischen Machthaber bestand die einzige Herausforderung darin, so viele Leute wie möglich an die Wahlurne zu bringen. Im Laufe der Zeit haben sie gelernt und verstanden, dass es sinnvoll ist, sich hinter einem gut kontrollierten Mehrparteiensystem und der Entscheidung der Wahlurnen zu verstecken. Auch der Wahltag war nicht ohne Bedacht gewählt worden: Am 18. März feierte die Regierung den vierten Jahrestag des Anschlusses der Krim an Russland. Putin wollte, dass eine große Wahlbeteiligung vom patriotischen Geist des Landes zeugt.

Die Zentrale Wahlkommission hat Millionen von SMS-Nachrichten verschickt, in denen sie aufforderte, zur Wahl zu gehen. Vergleichbare Aufrufe wurden auf Reklameflächen plakatiert, auf Fahrkarten und Kassenzettel gedruckt und im Internet verbreitet. Unternehmen haben Busse gechartert, um die Beschäftigten - an einem Sonntag - zur Wahl zu bringen. Manchmal haben sie sogar Druck auf sie ausgeübt und einen Teilnahmenachweis verlangt. Und es gab auch direktere Anreize wie Wettbewerbe, die um Wahllokale herum organisiert wurden. Im sibirischen Krasnojarsk zum Beispiel war ein Auto der erste Preis bei einem Selfie-Wettbewerb mit dem Titel: "Ich geh' mit Freunden wählen."

Putin wurde mit 76,69 % der Stimmen wiedergewählt: sein bestes Wahlergebnis. Es war eindeutig eine Parodie auf demokratische Wahlen; organisierter Betrug ist in Russland die Regel. Es ist jedoch unbestreitbar, dass der Präsident eine gewisse Zustimmung in der Bevölkerung findet. Von uns aus gesehen kann man sich fragen, warum, da sein Regime zumindest autoritär geprägt ist. Der Kreml übt eine sichtbare Zensur aus, schadet in Ungnade gefallenen Politiker, verbietet die meisten Demonstrationen und hält seine Gegner viele Jahre lang im Gefängnis fest. Gewisse Künstler, Regisseure und Filmemacher werden daran gehindert, ihre Meinung frei zu äußern. Die Repression trifft auch feministische Aktivistinnen und Homosexuelle, die von diskriminierenden Gesetzen an den Pranger gestellt werden.

Und natürlich wird Russland im Westen besonders für seine Rolle in der Ukraine, für die Annexion der Krim im Jahr 2014 und für seine Unterstützung des syrischen Diktators Baschar al-Assad kritisiert. Während andere, ebenso autoritäre Regime von Washington, Berlin oder Paris vollkommen akzeptiert werden, sitzt das russische Regime auf der Anklagebank. US-amerikanische und europäische Sanktionen wurden verlängert und seit 2014 verschärft und treffen Russland hart.

Putin nutzt diese Situation, um die Bevölkerung hinter sich zu vereinen. Denn der Bevölkerung fällt es schwer zu verstehen, warum der Westen Putin vorwirft, an allem Schuld zu sein. Der in der russischen Gesellschaft allgegenwärtige Nationalismus stützt sich auf dieses Gefühl, und dieses nährt ihn wiederum.

Darüber hinaus sind die Russen weiterhin zutiefst geprägt vom Zusammenbruch ihres ehemaligen Landes, der Sowjetunion. Man hatte ihnen erzählt, der Kapitalismus würde ihr Leben verbessern. Doch den meisten brachte er im ersten Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nur eine brutale Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen. Im Vergleich dazu assoziiert man mit Putins Machtantritt die Zeit, in der der Staat die Lage wieder in den Griff bekam und im Laufe der 2000er Jahre eine relative Verbesserung der Lebensverhältnisse eintrat.

Das bedeutet jedoch nicht, dass die Bevölkerung bedingungslos hinter dem Regime steht oder dass sie mit ihren Lebensbedingungen und der Entwicklung der Gesellschaft im Allgemeinen zufrieden wäre.

Jedes Jahr übt sich Putin in Fernseh-Kommunikation. In einer Sendung namens "Direktverbindung" beantwortet er mehrere Stunden lang Fragen und Beschwerden russischer Bürger. Die Sendung rückt ihn natürlich in ein positives Licht, aber die Fragen sind dennoch aufschlussreich. Während der Sendung vom 7. Juni wurden mehrere Fragen zu den steigenden Steuern, Benzinpreisen und Warenpreisen auf der Krim gestellt, zu den exorbitanten Raten für Kredite, zu den niedrigen Lehrergehältern, dem erbärmlichen Zustand der Krankenhäuser und Straßen, der Erhöhung des Rentenalters und dem Skandal um giftige Mülldeponien unter freiem Himmel, die die Bewohner in der Umgebung Moskaus buchstäblich vergiften.

Man muss sich fragen, weshalb und wie weit ein Teil der Bevölkerung die Person und Politik Putins unterstützt. Aber auch und vor allem, inwiefern dieses Regime und derjenige, der es verkörpert, notwendig ist für die Reichen und Privilegierten, die heute Russland regieren - und wer diese überhaupt sind.

Man kann all dies nicht verstehen, ohne dabei zu bedenken, dass in der Sowjetunion über siebzig Jahre lang eine besondere und einzigartige Gesellschaftsordnung aufgebaut worden ist, und die Russland geerbt hat. Vor einem Jahrhundert hat hier die Arbeiterinnen und die Arbeiter zum ersten und bislang einzigen Mal die Macht übernommen und begonnen, eine Gesellschaft auf einer ganz neuen Grundlage aufzubauen. Welche Spuren hat diese Vergangenheit hinterlassen? Und wie hat sich Russland in den Jahrzehnten entwickelt, seit seine Herrschenden dieser Vergangenheit offiziell den Rücken gekehrt haben?

Von der Geburt des Arbeiterstaates zu seiner Degeneration

Im Dezember 1922 gründeten mehrere aus der Oktoberrevolution hervorgegangene Staaten die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, die UdSSR. Auf einem Gebiet, das ein Sechstel der Erde umfasste, sollte der Arbeiterstaat eine Basis für den Kampf der weltweiten Arbeiterklasse sein, denn das Schicksal des Arbeiterstaates und des weltweiten Kampfs der Arbeiterklasse waren untrennbar miteinander verbunden. Die imperialistischen Länder schafften es, die Revolutionen, die im Gefolge der Oktoberrevolution ausgebrochen waren, niederzuschlagen und damit den Sowjetstaat zu isolieren. Die Geschichte der UdSSR, die bis Dezember 1991 weiter existierte, folgte einem Lauf, den niemand vorhergesehen hatte.

Die neue Gesellschaft hatte sehr niedrige Ausgangsbedingungen. Unter der imperialistischen Herrschaft - der Herrschaft der kapitalistischen Konzerne über die ganze Welt - blieb das Zarenreich Ende des 19. Jahrhunderts ein rückständiger Staat. Zwar hatte das ausländische Kapital einige Inseln der Industrialisierung entwickelt, und das hatte zur Entstehung einer Arbeiterklasse geführt, die später die Macht übernehmen sollte. Aber auf dem Land war die riesige Masse der Bauernschaft bei Ausbruch der Revolution noch bettelarm und ungebildet.

Zur Last dieser Rückständigkeit erbte der Arbeiterstaat außerdem eine von sieben Jahren Krieg (dem Ersten Weltkrieg und anschließend dem Bürgerkrieg) zerstörte Wirtschaft.

Zu alledem kam hinzu, dass die imperialistischen Staaten der UdSSR während ihrer gesamten Existenz de facto eine Wirtschaftsblockade auferlegten, die sie von der Weltwirtschaft und der internationalen Arbeitsteilung abschnitt. Der Kapitalismus hat die Wirtschaft jedoch schon seit langem globalisiert, worauf Marx und Engels bereits 1848 im Manifest der Kommunistischen Partei hinwiesen. Die Idee vom Sozialismus in einem Land, die Stalin ab 1924 propagierte, wäre ihnen absurd erschienen.

Die Isolierung der UdSSR führte zur Entwicklung eines tentakelartigen Verwaltungsapparats anstelle der Arbeitersowjets, zur Verschmelzung der bolschewistischen Partei mit diesem Apparat und schließlich dazu, dass eine Schicht professioneller Apparatschiks an die Macht gelangte: die sowjetische Bürokratie. Diese Kaste wurde sich schnell bewusst, dass sie besondere Privilegien und Interessen zu verteidigen hat.

Innerhalb der bolschewistischen Partei begann ein Kampf gegen die bürokratische Entartung des Arbeiterstaates. Unter den Revolutionären, die die Oktoberrevolution geleitet und denen, die den Bürgerkrieg geführt und dann den Aufbau des Sowjetstaates in Angriff genommen hatten, sammelte sich eine Strömung hinter Trotzki: die Linke Opposition der Bolschewisten-Leninisten. Sie kämpfte etwa fünfzehn Jahre lang unter immer schwieriger werdenden Bedingungen gegen den Stalinismus. Nachdem es Stalin nicht gelungen war, die Trotzkisten zum Schweigen zu bringen, sperrte er sie in Lager und ließ Ende 1930er Jahre tausende von ihnen erschießen. Anschließend ließ er Trotzki ermorden.

Seit den 1920er Jahren spielte der Stalinismus somit eine zutiefst reaktionäre politische Rolle, nicht nur in der UdSSR, sondern in der gesamten kommunistischen Bewegung und Arbeiterbewegung der Welt. Er trug zur Niederlage der chinesischen Revolution von 1925-1927 bei und opferte dann bewusst unter anderem die Kämpfe der deutschen, französischen und spanischen Arbeiter. Da alles zusammenhängt und sich das Kräfteverhältnis zwischen Proletariat und Bourgeoisie letztlich im Weltmaßstab misst, hatte jede vom Stalinismus verursachte Niederlage wiederum negative Auswirkungen auf die UdSSR. Jede Niederlage stärkte die Bürokratie und ihre Diktatur über die Gesellschaft.

In der Verratenen Revolution unterstrich Trotzki 1936 die immensen Fortschritte, die die Revolution ermöglicht hatte und zog eine Bilanz des Prozesses, der die stalinistische Bürokratie an die Macht gebracht hatte. Er kennzeichnete den Sowjetstaat als degenerierten Arbeiterstaat.

Verstaatlichung und Planwirtschaft: Errungenschaften der Oktoberrevolution

Die Kapitalisten und Großgrundbesitzer waren enteignet, die Wirtschaft verstaatlicht und auf dieser Grundlage nach einem landesweiten Plan neu organisiert worden. Trotzki begrüßte die beginnende Industrialisierung, die durch die Mobilisierung der unteren Volksschichten und den Elan der sozialen Revolution möglich geworden war - wenn sie nun auch unter dem Druck der stalinistischen Regimes stattfand. Entgegen dem Geschwätz der stalinistischen Propaganda holte die sowjetische Wirtschaft den Kapitalismus nicht ein, aber ihre Erfolge waren beispiellos in der Geschichte, während der Kapitalismus nach dem Börsenkrach von 1929 in eine Krise stürzte.

Trotz der verheerenden Verwüstungen des Zweiten Weltkrieges und des Parasitismus der Bürokratie führte diese industrielle Entwicklung dazu, dass man die UdSSR nach dem Zweiten Weltkrieg als Weltmacht Nr.2 nach den USA bezeichnete. Doch hinter Ausdrücken wie "die zwei Großen", die damals in Mode waren, verbargen sich enorme Unterschiede: Die USA verfügten zusammen mit ihren europäischen Verbündeten über riesige Ressourcen und modernste Technik, während die UdSSR nur ein Riese auf tönernen Füßen war.

Alle, die sich über das Ende der UdSSR gefreut haben, wiederholen seit dreißig Jahren, dass ihre Wirtschaft am Ende war, dass sie den Wettbewerb mit dem Kapitalismus verloren hatte. Aber das ist falsch. Die Entwicklung stellt nicht die Effizienz der Planwirtschaft in Frage, im Gegenteil. Die Planwirtschaft erlaubte es der UdSSR, sich 70 Jahre lang der imperialistischen Herrschaft zu entziehen - zumindest ihrer direkten Herrschaft. Denn natürlich ist sie ihr nicht völlig entkommen. Und man kann sagen, dass die isolierte UdSSR, die von der internationalen Arbeitsteilung abgeschnitten war, letzten Endes unter den Niederlagen des Proletariats in anderen Ländern leiden musste. Das behinderte ihre Entwicklung und war die Ursache ihres Zusammenbruchs.

Wenn wir ehrlich urteilt, so ist man gezwungen festzustellen, dass sich der Kapitalismus im gleichen Zeitraum trotz seiner immensen Ressourcen und Mittel als unfähig erwiesen hat, auch nur eine einzige Region der Welt auf vergleichbare Weise zu entwickeln. Die Bourgeoisie spielt seit langem keine fortschrittliche Rolle mehr, während die proletarische Revolution immense Möglichkeiten birgt, von denen das Beispiel der UdSSR letztlich nur eine kleine Vorstellung vermittelt hat.

Die Verantwortungslosigkeit der herrschenden Bürokratie verursachte 1991 das Ende der UdSSR

Sehr früh kopierten die stalinistischen Führer den Lebensstil und die Sitten der westlichen Eliten, aber im Gegensatz zu letzteren konnten sie nicht von Generation zu Generation Kapital akkumulieren, weil sie nicht die Besitzer der Produktionsmittel waren. Ihre Bereicherung beruhte ausschließlich auf ihrer Stellung im Staatsapparat, die es ermöglichte, aus der Staatswirtschaft etwas für sich selbst abzuzweigen. Die Bürokratie war daher weniger stabil und weniger mächtig als die Bourgeoisie; sie verfügte weder über deren tiefen historischen Wurzeln noch über ihre gesellschaftliche Verankerung. Sie musste den Ursprung und das Ausmaß ihrer Privilegien verbergen, die ja im Widerspruch zu den vom Regime proklamierten egalitären Prinzipien standen. Die Bürokratie war keine gesellschaftliche Klasse im marxistischen Sinn - keine Klasse, deren Existenz eine Antwort auf einer historischen Notwendigkeit war, die aus der Entwicklung der Gesellschaft entstand. Sie war nichts als das Nebenprodukt einer Arbeiterrevolution, die isoliert geblieben und entartet war.

Die Verantwortungslosigkeit der Bürokraten bedrohte von Anfang an die Stabilität und das Überleben des jungen Sowjetstaats. Ihre Habgier fand nur in ihrer Blindheit ihres Gleichen. Um ihre kollektive Herrschaft über die Gesellschaft zu sichern, bedurfte es der persönlichen Diktatur eines unbestrittenen Führers: Das war Stalin. Er bemühte sich nicht nur darum, jede Kritik an der herrschenden Kaste zum Schweigen zu bringen, ganz gleich woher sie auch kam. Er herrschte auch mit Terror über die Bürokratie selber. Er hielt die Bürokratie im Zaum, um zu verhindern, dass der ganze Staat letztlich an ihren Rivalitäten und Begierden auseinanderbrach. Das war der Preis, den sie zahlen mussten, um das Land ausplündern zu können.

Beim Tod des Diktators 1953 schien jede Gefahr einer Arbeiterrevolution gebannt, die Situation in der UdSSR schien sich stabilisiert zu haben. Die herrschende Kaste wollte freier von ihren Privilegien profitieren. Das Regime lockerte die auf sie lastende Diktatur und leitete damit gewissermaßen den Prozess ein, der zur Auflösung der UdSSR führte. An der Spitze der einzelnen Sowjetrepubliken, der Partei und des Staates verschafften sich die herrschenden Cliquen immer mehr Autonomie, um die jeweiligen Bereiche der Wirtschaft und des Staates, die unter ihrem Einfluss standen, besser schröpfen zu können. Gleichwohl gelang es der Generation von führenden Köpfen, die aus der Ära Stalin und Chruschtschow hervorgegangen waren, noch fast vierzig Jahre lang, die Autorität der Zentralregierung aufrechtzuerhalten.

In den 1980er Jahren wurde diese zentrale Macht von alten Männern verkörpert, die einer nach dem anderen starben - dies alles vor dem Hintergrund einer Wirtschaftskrise, des Afghanistan-Krieges, in dem sich die UdSSR wie im Morast festgefahren hatte, und dem Druck des Wettrüstens, mit dem der amerikanische Imperialismus die UdSSR zu ersticken versuchte. Die ehrgeizigen jungen Männer, die nun die Nachfolge übernehmen sollten, darunter ein gewisser Gorbatschow, hatten Schwierigkeiten, ihre Autorität durchzusetzen.

Als Gorbatschow von seinen Kollegen zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei der UdSSR (KPdSU) ernannt wurde, brachen die Rivalitäten zwischen den bürokratischen Cliquen in aller Öffentlichkeit aus. 1985 leitete er die Perestroika ein: eine Politik, die Wirtschaft und Gesellschaft wieder auf die Beine bringen sollte, ohne das System zu verändern. Um dies zu erreichen, versuchte er seine Gegner zu umgehen, indem er sich auf einen Teil der Bürokratie stützte - vergeblich. Daraufhin appellierte er an das Kleinbürgertum, insbesondere an die Intelligenz, und dann an immer größere Teile der Bevölkerung und versprach ihnen Veränderungen. Aber damit öffnete er die Büchse der Pandora, aus der plötzlich ein Wind des Protestes herausbrach, der ihn wegspülte.

Gorbatschow hoffte, sich auf Boris Jelzin stützen zu können - einem hochrangigen Apparatschik, einem hundertprozentigem Produkt des Regime. Doch dieser überholte ihn in puncto Demagogie, indem er alle Republiken und Regionen ermutigte, sich so viel Autonomie zu nehmen, wie sie "hinunterschlingen konnten". Er wurde zum Fahnenträger der meisten Cliquen der russischen Bürokratie, ließ sich zum Präsidenten der Sowjetrepublik Russland wählen und stellte schließlich das Monopol der Einheitspartei in Frage. Er stellte sich an die Spitze der sich immer weiter ausbreitenden Protestwelle. Im Dezember 1991 unterzeichnete er mit seinen Amtskollegen der Ukraine und Weißrusslands die Auflösung der UdSSR. Gorbatschow musste zurücktreten. Aber Jelzin selbst hatte nicht mehr viele Möglichkeiten, seine Herrschaft zu festigen, nicht einmal auf dem alleinigen Gebiet Russlands.

Überall stürzten sich Bürokraten auf die Unternehmen und Reichtümer, die sich in ihrer Reichweite befinden. Ihre Habgier führte zu Konflikten, nicht selten bewaffneten Konflikten, die von separatistischen Bewegungen angeheizt wurden. Der Krieg verwüstete den russischen Kaukasus und viele der unabhängig gewordenen Republiken, von Aserbaidschan über Georgien und Moldawien bis hin zu Teilen Zentralasiens.

Der Zerfall der UdSSR: ein wirtschaftlicher, sozialer und politischer Rückschritt

Der Zerfall der UdSSR hatte verheerende Auswirkungen, da ihre Wirtschaft als ein Ganzes konzipiert und extrem zentralisiert war. Die meisten der neuen unabhängigen Staaten befanden sich in einer unerträglichen Situation, und zwar sehr lange.

So ist beispielsweise Tadschikistan, eine ehemalige Sowjetrepublik in Zentralasien, heute eines der ärmsten Länder der Welt. Von einer Bevölkerung von etwa neun Millionen Menschen arbeitet mittlerweile fast eine Million Tadschiken in Russland, wo sie wie Parias behandelt werden. Ende der 2000er Jahre machten die Gelder, die die in Russland arbeitenden Tadschiken an ihre Familien überwiesen, die Hälfte des tadschikischen Bruttoinlandsproduktes aus.

Armenien, eine kleine Republik im Kaukasus, die durch den Zerfall der UdSSR ohne Industrie zurückblieb, überlebt nur dank des Geldes ihrer Diaspora und der Hilfe Russlands. In Weißrussland fallen die Löhne, die Produktion sinkt, und den Arbeitslosen schlägt man vor, die Straßen zu säubern und Kartoffeln zu sammeln.

Was die Ukraine betrifft, so wollten die Europäische Union und die Vereinigten Staaten sie mit ihrer zur Zeit der UdSSR entwickelten Industrie in ihren Einflussbereich ziehen. Heute erinnert die Ukraine, zwischen dem Westen und Russland hin- und hergerissen, ruiniert und vom Bürgerkrieg verwüstet, auf tragische Weise daran, dass der Imperialismus nicht die Erlösung bringen kann.

Überall ist die Armut explodiert, und wie hätte es auch anders sein können? Früher war jede Sowjetrepublik auf bestimmte Produktionen spezialisiert, die ihren Ressourcen und Arbeitskräften entsprach: Textil, Bergbau, Metallindustrie, Landwirtschaft, Viehzucht waren komplementär. Dies ging sogar über die Sowjetunion hinaus, denn unter anderem versorgten die DDR und Ungarn den gesamten sogenannten Ostblock (also der UdSSR und die Volksdemokratien) mit Medikamenten. Die Tatsache, dass diese Medikamente nicht mehr erhältlich waren und es an ihrer Stelle nur westliche Medikamente zu exorbitanten Preisen gab, trug zu einem schrecklichen Rückgang im Gesundheitsbereich und der Lebenserwartung bei.

Zur Zeit der UdSSR war die Schulbildung kostenlos und stand allen offen. Natürlich gab es Eliteschulen, renommierte Universitätsinstitute, in denen praktisch nur die Kinder von Bürokraten studieren konnten, aber jeder hatte Zugang zur Grundausbildung und manchmal auch mehr. Nach 1991 wurden die Lehrer nicht mehr angemessen bezahlt und das öffentliche Bildungssystem, das erste und einzige, dass es in Russland je gegeben hat, brach zusammen.

Auf politischer Ebene behinderten die Grenzen, die nun plötzlich überall auf dem riesigen Territorium der ehemaligen UdSSR errichtet wurden, die Bewegungsfreiheit der Bevölkerungen. Und in allen ehemaligen Sowjetrepubliken wurden autoritäre Regime errichtet, manchmal mit demokratischer Fassade, meist ohne sich diese Mühe zu machen.

Weltweit wurde der Zerfall der UdSSR von einem Rückgang fortschrittlicher Ideen begleitet. Früher brauchte man nicht zu erklären, dass eine Gesellschaft ohne Bourgeoisie möglich ist: Es war eine Tatsache. Aber das Ende der UdSSR kam unerwartet, ohne dass die Arbeiterklasse selbstständig und unabhängig eingriff, um ihre Interessen zu verteidigen. Und dies schien denen Recht zu geben, die die Ideen der Planwirtschaft, der Verstaatlichung und natürlich der sozialen Umwälzung kritisierten. Denn soziale Transformation, okay, aber um was zu tun? Wo soll sie hinführen, wenn die sowjetische Bevölkerung selber ihre Gesellschaft nicht für besser hielt als die kapitalistische?

Wir unsererseits haben keinerlei nostalgische Sehnsucht nach der UdSSR und den Bürokraten. Aber unter den Bedingungen, unter denen sich ihr Zusammenbruch ereignete, konnte die Entwicklung der ehemaligen UdSSR nur ein Rückschritt sein und die rückschrittliche Entwicklung verstärken. Das Auseinanderbrechen des Sowjetgebietes brachte weder in materieller Hinsicht noch in dem des Bewusstseins Gutes. Nur die Arbeiterklasse hätte eine andere Perspektive aufzeigen können: den Sturz des bürokratischen Regimes mit dem Ziel, die Arbeiterdemokratie wiederherzustellen und die von der Oktoberrevolution geerbte staatlich kontrollierte und geplante Wirtschaft wieder in die Hand zu nehmen.

Die 90er Jahre, Eldorado für einige Wenige ...

Seit dem Ende der UdSSR zwangen die russischen Machthaber und ihre westlichen Berater Russland eine - wie sie es nannten - Schocktherapie auf und ebneten damit den Weg für den Markt und die Privatisierung. Tatsächlich handelte es sich um eine Art "wilder Westen". Unter dem Deckmantel, das Gemeinschaftseigentum unter allen aufzuteilen, fand in Wahrheit eine allgemeine Plünderung des staatlichen Eigentums statt. In diesem Goldrausch waren Tricksereien, Betrug, mafiaartige Enteignungen und Begleichung alter Rechnungen die Regel. Bankiers und Unternehmer, die plötzlich auftauchten - hervorgegangen aus der Bürokratie, des Kleinbürgertums oder der Unterwelt - wurden recht häufig auf offener Straße erschossen.

Viele von denen, die glaubten, dass ihre Zeit gekommen sei und sie sich in einen Kapitalisten verwandeln oder auch einfach nur ein kleines Unternehmen oder Geschäft gründen wollten, wurden enttäuscht: Sie wurden von denen beiseite gedrängt, die bessere Beziehungen hatten. Am besten platziert waren diejenigen, die das Land schon immer ausgeplündert hatten: die Bürokraten, die eng mit den Spitzen der ehemaligen Staatspartei und der politischen Polizei verbunden waren; ebenso diejenigen, die Beziehungen zu den Bossen der Unterwelt aufgebaut hatten. Die westlichen Geschäftsleute, die sich nach Russland wagten, entdeckten, dass gesetzliche Verfahren und Eigentumsrechte wenig wert waren gegenüber Kalaschnikows, käuflichen Richtern und die Unterstützung der politischen Mafia.

Diejenigen, die man Oligarchen nannte, wurden in Windeseile Milliardäre. Sie alle waren jeweils mit einer Clique der Bürokratie verbunden, der sie nach vorne puschte und deren Handelsbevollmächtigter sie in gewisser Weise waren. So konnten sie kolossale Vermögen anhäufen. Die damals bekanntesten Oligarchen (Beresowski, Gussinski, Potanin) gehörten zu Jelzins Clique, der den Spitznamen "die Familie" hatte.

Einer dieser Oligarchen, Potanin, hatte sich das Unternehmen Norilsk Nickel, den größten Nickelproduzenten der Welt, unter den Nagel gerissen und war zwei Jahre lang stellvertretender Ministerpräsident. Im März 1995 rief er einen Plan namens "Kredite gegen Aktien" ins Leben. Der Staat bot privaten Banken öffentliche Unternehmen als Garantie für von ihnen gewährte Kredite an. Alles war im Voraus verabredet: Der Staat erklärte sich unfähig, die Kredite zurückzuzahlen, und die Unternehmen wanderten in die Taschen der Oligarchen. So haben sie die profitabelsten Konzerne, einschließlich der Rohstoffproduzenten, für lächerliche Summen in die Finger bekommen. Beresowski zahlte 100 Millionen Dollar für die Übernahme des Ölkonzerns Sibneft, von dem er sofort 8% zum Marktpreis von 118 Millionen Dollar an Total verkaufte. Sprich, er hat Sibneft de facto geschenkt bekommen.

All das hat das neue Russland nicht zu einer lebensfähigen Wirtschaft gemacht, im Gegenteil. Milliardäre konnten ein Vermögen machen. Russland ist eines der Länder auf der Welt mit den meisten Milliardären geworden - doch all dies, ohne die geringste wirtschaftliche Entwicklung zu bewirken.

Die Oligarchen, Bürokraten und Mafiosi, die sich Unternehmen aneigneten, beeilten sich oft, diese in Stücken wieder zu verkaufen. Ihr wichtiges Anliegen war es, so schnell wie möglich riesige Dollarberge auf ausländischen Konten anzuhäufen. Ganz nebenbei war auf diese Weise das weltweite Finanzsystem einer der Hauptnutznießer der Plünderung der ehemaligen UdSSR.

... Katastrophe und Schock für alle anderen

Für die einfache Bevölkerung war es eine Katastrophe, wie sie in Friedenszeiten noch kein einziges entwickeltes Land erlebt hat. Zwischen 1989 und 1998 brach das russische Bruttoinlandsprodukt um 55 % ein. Die Inflation erreichte zwischen 1991 und 1992 ganze 2.500%! Wer ein bisschen Erspartes hatte, musste zusahen, wie es sich in Luft auflöste. 1993 verteilte die Regierung Aktien der Unternehmen an die Bevölkerung. Diese verkaufte sie, um wenigstens ein paar Cent zu bekommen oder ließ sie irgendwo in einer Schublade liegen. Bald befand sich die Mehrheit der Aktien in den Händen der gefräßigsten unter den bürokratischen Heuschrecken.

Die Löhne wurden gar nicht mehr oder mit Monaten Verspätung gezahlt. Um zu überleben, blieb Millionen Familien keine Wahl, als sich irgendwie durchzuschlagen: mit Gemüsegärten auf dem Land, Tauschgeschäften, die auch zwischen den Unternehmen sehr verbreitet waren. An den Ein- und Ausgängen der U-Bahn standen Schlangen älterer Menschen, die ihre armseligen persönlichen Habseligkeiten verkauften. Die ohnehin schon miserablen Renten wurden nicht mehr gezahlt. Die Lebenserwartung sank rapide: Die Menschen starben an Mangelernährung, Verzweiflung und Krankheiten. Und um allem die Krone aufzusetzen, suchte die Finanzkrise 1998 Russland heim und verursachte einen schrecklichen Wirtschaftskrach.

Selbst das Kleinbürgertum, das gedacht hatte, es müsse nur die Schocktherapie überstehen und könne dann wie die westliche Mittelschicht gedeihen, verlor alles.

Anfang der 2000er Jahre lebten in Russland 40 der 145 Millionen Einwohner unterhalb der Armutsgrenze. Für die, die es erlebt haben, war dieses Jahrzehnt ein Alptraum. Auch heute noch ist es für viele in der Bevölkerung eine Selbstverständlichkeit, dass alle die, die die Reichtümer des Landes besitzen, Diebe sind. Und die Angst, wieder in ein Chaos wie zur Jelzin-Jahren zu geraten, prägt noch immer das Bewusstsein.

Zu Beginn der 90er Jahre, als die Perestroika von einem Wind der Freiheit begleitet wurde, gab es eine Unmenge an Publikationen, Treffen und Diskussionen. Organisationen aller Art wurden gegründet. Doch die konkrete Form dieser Freiheiten entpuppte sich als Karikatur eines Präsidialregimes, als Herrschaft der Mafia und die Freiheit der Bürokratie, das Land auszuplündern. Und so erhielt das Wort Demokratie einen nicht sehr schmeichelhaften Spitznamen, "dermokratia", abgeleitet vom russischen Wort für "Scheiße".

Die demokratischen Freiheiten, für die ein Teil des Kleinbürgertums Vorkämpfer sein wollte, wurden für die Bevölkerung angesichts der Verschlechterung der Lebensbedingungen schnell zweitrangig. Dies erklärt, mehr als Putins angebliche Popularität, warum die autoritären Aspekte seines Regimes oft gerechtfertigt oder zumindest akzeptiert werden, und zwar bis heute.

Wenn die Werktätigen wieder zu kämpfen anfangen, und dann auf die Repression des Staates stoßen, wird sich dies sicher ändern. Aber was in Russland geschehen ist, zeigt: Demokratie und Freiheit sind - wenn die Arbeiter ihnen nicht durch die Verteidigung ihrer eigenen Interessen einen konkreten Inhalt geben nichts als Worte, die dazu dienen, die Arbeiter zu täuschen.

Putin, aus dem Hut der Sicherheitskräfte gezaubert und von Jelzin zum Ritter geschlagen

Am Ende seiner Präsidentschaft torkelte der Alkoholiker Jelzin vor den Kameras. Korrupt bis ins Mark, war er in Affären verstrickt, die ihn samt seinem Umfeld ins Gefängnis zu bringen drohten. Seine Clique suchte nach Möglichkeiten, die Macht ohne Schaden weiterzugeben.

Was den russischen Staat betrifft, so zerfiel er immer mehr. Der Armee waren das Budget und die Ausstattung gekürzt worden. Die Armee befand sich nicht nur in erbärmlichem Zustand, ihr Oberkommando hatte außerdem sein Ansehen verloren. Es war eine unglaubliche Erniedrigung, die noch dadurch verschärft wurde, dass die Armee ihre Truppen aus Osteuropa und den nicht-russischen ehemaligen Sowjetrepubliken abziehen mussten. Außerdem hatte sie gerade den ersten Tschetschenienkrieg verloren, der begonnen hatte, weil sich die tschetschenische Führung weigerte, der Russischen Föderation beizutreten. Die russischen Offiziere träumten von Rache - ebenso alle Ministerien, alle Verwaltungen, in denen eine Menge Bürokraten gesehen hatten, wie ihr Status und ihre Privilegien immer weniger Wert waren. Hinter den Kulissen forderten immer mehr Stimmen im Staatsapparat die Wiederherstellung eines starken Staates.

Für Jelzin wie auch für die Apparatschiks, die auf der Suche nach einer Lösung waren, erschien Putin wie vom Schicksal gesandt. Er hatte erst im KGB Karriere gemacht, dann als Stellvertreter des Bürgermeisters von Sankt Petersburg, der ihn eingestellt hatte, um alle Arten von illegalen Geschäften zu erleichtern. Nachdem er sich bewährt hatte, wurde er Direktor des FSB, des ehemaligen KGB. Er hat dort Wunder gewirkt, denn es gelang ihm, den Präsidenten davor zu bewahren, Opfer seiner Schandtaten zu werden. Im August 1999 ernannte ihn Jelzin zum Premierminister und am 31. Dezember überließ er ihm das Amt des Interimspräsidenten. Im Mai 2000 wurde dieser in der Öffentlichkeit unbekannte Mann nach einer von der "Jelzin-Familie" geführten und finanzierten Medienkampagne zum Präsidenten gewählt.

Um Putin herum gab es mehrere Gruppen von Männern, die im Russischen Silowiki genannt werden, übersetzt: Vertreter der Ministerien für Streitkräfte (Armee, Polizei und FSB). Es war der harte Kern, mit dem die Bürokratie ihre Diktatur über die Gesellschaft gesichert hatte. Diese Männer übernahmen die Ministerien und alle Organe der Macht. Der berühmteste war Igor Setschin. Er hatte mit Putin in Sankt Petersburg zusammengearbeitet und war auch mit dem FSB verbunden. Man katapultierte ihn zum Aufsichtsratsvorsitzenden von Rosneft, Russlands größtem Ölkonzern - eine Position, die er immer noch innehat. Hinter Putin standen auch Patruschew, der dessen Posten an der Spitze des FSB übernahm, außerdem Generalstaatsanwalt Ustinow und andere hochrangige Beamte gleichen Kalibers.

Der zweite Tschetschenienkrieg

Als Putin noch Ministerpräsident war, begann er bereits den zweiten Tschetschenienkrieg. Als Vorwand nutzte er mehrere Attentate in Moskau, die tschetschenischen Separatisten zugeschrieben wurden. Allerdings vermutet man, dass der russische Geheimdienst sie selber organisiert hat. Ziel war, ein möglichst eindrucksvolles Exempel zu statuieren und damit die Autorität des Staates wiederherzustellen.

In zehn Jahren kostete dieser neue Krieg mehr als 100.000 Zivilisten und mehr als 10.000 russischen Soldaten das Leben. Die Armee folterte, vergewaltigte, terrorisierte. Städte und Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht, der Hauptstadt Grosny widerfuhr dies gleich zweimal. Im ganzen Land breitete sich eine kriegerische Stimmung aus. Russland wurde von mehreren Attentaten und Geiselnahmen heimgesucht, bei denen jeweils mehrere hundert Menschen getötet wurden. 2006 wurde die Journalistin Anna Politkowskaja, die die Politik Putins anprangerte, ermordet.

Um die Ordnung in Tschetschenien wiederherzustellen, hatte Putin auf Achmat Kadyrow gesetzt, einem religiösen Führer, Waffenhändler und ehemaligen Unabhängigkeitskämpfer. Er wurde 2004 getötet. Sein Sohn Ramsan, der Anführer der Mörder- und Entführer-Milizen des Regimes, nahm seinen Platz ein. Mit Putins Unterstützung regiert er heute über Tschetschenien. Er erkennt nur das Gesetz der Scharia an, rechtfertigt die Polygamie, zwingt Frauen zum Tragen des islamischen Schleiers und macht Jagd auf Homosexuelle, die gezwungen sind zu fliehen, um ihr Leben zu retten. Putin wäscht seine Hände in Unschuld, Hauptsache, die tschetschenische Republik wird mit eiserner Hand regiert und erregt nicht zu viel Aufsehen.

Die Wiederherstellung der "Vertikale der Macht"

In seiner ersten Rede als Präsident kündigte Putin an, dass er die - wie er es nannte - "Vertikale der Macht" wiederherstellen wolle. Im Jahr 2004 schaffte er die Wahl der Regionalgouverneure ab. Stattdessen wurden sie vom Kreml ernannt, der das Land darüber hinaus in sieben Föderationsdistrikte unterteilte, an deren Spitze Präfekten - direkte Vertreter des Präsidenten - stehen. Diese Superpräfekten kontrollieren das gesamte Gebiet, besonders da sie die Steuern und Zuweisungen des Bundes verwalten. Als 2012 die Wiederherstellung der Zentralmacht gesichert war, durften die Gouverneure wiedergewählt werden, allerdings auf Grundlage einer vom Präsidenten erstellten Kandidatenliste. Im vergangenen September ersetzte Putin so auf einen Schlag elf Gouverneure.

Im Laufe der Jahre hat er schließlich aus den führenden Positionen einige derjenigen entfernt, die es ihm ermöglicht hatten, die Macht zu erlangen und auszubauen. Er verlässt er nun sich lieber auf jüngere Männer, die ihm alles verdanken. Diese "Putin-boys" stammen aus renommierten Schulen, der Finanz- und Geschäftswelt. Sie werden als gute Verwalter dargestellt, doch ihr eigentlicher Zweck ist, die Macht des Chefs zu stärken, der sie gefördert hat - eine Praxis, die an Stalin und seine Nachfolger erinnert.

Im Allgemeinen hat die Vertikalisierung der Macht dazu geführt, dass jeder Spielraum, jede Autonomie, die die Regionen der Zentralregierung unter Jelzin abgerungen hatten, wieder beseitigt und die Kontrolle über das politische Leben verstärkt wurde. Im Jahr 2008 wurde die Zahl der zugelassenen Parteien durch eine Verschärfung der Registrierungsanforderungen reduziert. Nicht registrierte Parteien und parteilose Kandidaten können sich jedoch nicht zur Wahl stellen. Im Gegensatz dazu ist die Putins Partei "Geeintes Russland" in Wahrheit ein Apparat aus Angehörigen der staatlichen Verwaltung, der die Politik des Präsidenten im ganzen Land durchsetzt.

Von Jahr zu Jahr wird der Zugang zum politischen Leben schwieriger, wird die Politik mehr die Angelegenheit einer geschlossenen Gesellschaft. Der jüngste Beweis: Vor wenigen Monaten wurde die Direktwahl der Bürgermeister in mehreren Großstädten abgeschafft, darunter Jekaterinburg, der Hauptstadt des Urals.

Die Zähmung der Oligarchen und die Chodorkowski-Affäre

Schon zu Beginn seiner ersten Amtszeit rief Putin die Oligarchen zu sich und redete Tacheles: Von nun an hätten sie wieder Steuern zu zahlen, was sie nicht mehr gemacht hatten. Sie hätten einen Teil ihres Vermögens in die Wirtschaft zu reinvestieren. Und sie dürften sich nicht mehr in die Politik einmischen. Im Gegenzug würde der Staat ihren Reichtum nicht in Frage stellen - ein Reichtum, der zwar nicht gerade ehrlich erworben worden war, aus dem aber auch die neue Regierung einen gewissen Nutzen zu ziehen erhoffte.

Die Oligarchen, die dachten, sie seien stark genug und müssten das Spiel nicht mitspielen, wurden gebrochen. Die Milliardäre Beresowski und Gussinski mussten ins Exil gehen. Aber der Fall, der am aufschlussreichsten das neue Kräfteverhältnis illustrierte, war der Fall Chodorkowski. Obwohl er einer der reichsten Männer der Welt war, musste Chodorkowski zehn Jahre im Lager verbringen, weil er geglaubt hatte, dass Nichts seine Ambitionen vereiteln könnte.

Chodorkowski hatte die Ölgesellschaft Yukos durch den "Kredite gegen Aktien"-Plan erworben. Laut dem damaligen Generaldirektor von British Petroleum fing er an, darüber zu reden, "wie er bestimmte Leute in die Duma [die Nationalversammlung] wählen lassen würde, wie er dafür sorgen würde, dass Ölgesellschaften nicht viel Steuern zahlen müssten und wie viele einflussreiche Personen er in der Hand hätte." Er machte Lobbyarbeit, subventionierte NGOs, private Kulturprojekte und alle Oppositionsparteien gleichzeitig, von den Liberalen bis zur Kommunistischen Partei. Dann erwog er, einen bedeutenden Teil seiner Ölgesellschaft an den amerikanischen Ölkonzern Exxon zu verkaufen. Das war zu viel: Er wurde des Verrats russischer Interessen beschuldigt, im Mai 2003 verhaftet, und sein Vermögen vom Staat konfisziert. Als er 2014 begnadigt wurde, blieb ihm nur, Russland zu verlassen.

Andere Oligarchen entschieden von nun an, sich bedeckt zu halten. Ein besorgter Abramowitsch musste dem Staat seine Anteile an so genannten strategischen Unternehmen verkaufen. Im Gegenzug dafür durfte er seine Geschäfte fortsetzen, wenn auch unter einiger Kontrolle: Putin "beförderte" ihn zum Gouverneur von Tschuktschen, einer trostlosen Region gegenüber von Alaska und ermunterte er ihn nachdrücklich dazu, dort einen Teil seines Vermögens zu investieren. Auch er entschied sich schließlich für das Exil.

Die Besitzer der großen Vermögen unter staatlicher Kontrolle

Es ist bemerkenswert, dass die Oligarchen, die sich notgedrungen für eine Zusammenarbeit mit der Regierung entschieden haben, weiterhin deren Willkür und gutem Willen unterliegen. In keinem bürgerlichen Staat, wie wenig entwickelt er auch sei, gibt es eine derartige Beziehung der Kapitalisten zu ihrem Staat. Das Eigentum des Großbürgertums ist fest in einem sozialen Fundament verwurzelt, das im Laufe mehrerer Jahrhunderte sozialer, wirtschaftlicher und politischer Geschichte errichtet wurde. Und in normalen Zeiten ist es der Staat, der ihren Wünschen gehorcht, nicht umgekehrt. Man kann sich nicht vorstellen, dass Bernard Arnault, dem reichsten Mann Frankreichs, durch ein Gerichtsurteil über Nacht sein gesamtes Vermögen entzogen wird.

Putin hingegen kann den Vorstandsvorsitzenden eines Konzerns, der nicht zu einem Treffen mit dem Präsidenten erschienen ist, öffentlich zur Ordnung rufen: "Herr Ziunin mag krank sein, aber er täte gut daran, sich schneller zu erholen. Andernfalls schicken wir ihm einen Arzt, der sich um ihn kümmert."

In letzter Zeit haben mehrere Beispiele die Oligarchen daran erinnert, wie rasch diese Medizin wirkt. So war 2014 die Verhaftung des Oligarchen Jewtuschenkow ein Schock für die Wirtschaft. Er war Chef einer Holdinggesellschaft, die im Hightech-Bereich tätig ist und Eigentümer von Baschneft, der sechstgrößten Ölgesellschaft des Landes. Er war das Gegenteil von Chodorkowski, hielt sich fern von der Politik und ging kein Risiko ein. Doch das Gericht zwang ihn, Baschneft an Rosneft abzutreten - der Ölgesellschaft, die von Setschin geleitet wird, dem Chef des Sicherheitsdienstes. Sein Fall diente als Erinnerungsspritze für den Fall, dass einige seiner "Kollegen" vergessen haben sollten, wer das letzte Wort hat: die Großen der Wirtschaft oder die Regierenden. Seitdem hat Jewtuschenkow seine Geschäfte wieder aufgenommen ... bis zum nächsten Mal.

Der russische Politjournalist Michail Sygar fasst die Lage gut zusammen: "Die meisten Großunternehmer haben verstanden, dass ein Teil ihres Eigentums jederzeit im Interesse des Staates enteignet werden kann. Sie haben sich seit langem an diese Idee gewöhnt. Es wird oft gesagt, dass die führenden Geschäftsleute Russlands keine Milliardäre sind, sondern einfach Menschen, die mit Milliarden von Dollars arbeiten. Sie leiten die Unternehmen und machen die Geschäfte, die Wladimir Putin ihnen erlaubt."

Die Erben der sowjetischen Bürokratie

Durch "Vermittlung" Putins haben die heutigen Bürokraten - die Erben der Bürokraten aus der Sowjetzeit - die Oligarchen also gezwungen, ihre Güter bis zu einem gewissen Grad wieder zur Aufteilung freizugeben. Einige Kommentatoren haben dies als "sanfte Reprivatisierung" bezeichnet, während entsetzte pro-westliche Liberale oft zu Unrecht den Begriff der Wiederverstaatlichung verwendeten. Nicht nur Putins Gefolge und die Sicherheitskräfte, die ihn an die Macht gebracht hatten, profitierten von Putins Umverteilung des Staatsreichtums. Es profitierten auch viel breitere Kreise großer und kleiner Staatsdiener davon, denen er ihre Bedeutung zurückgab, indem er ihre Position, ihr Prestige und die mit der Position verbundenen Vorteile wiederherstellte.

Hinzu kam ein glücklicher Zufall für Putin: Seit Anfang der 2000er Jahren stiegen die Preise für Rohstoffe stark an, darunter die Preise für Gas und Öl, deren Verkauf die Haupteinnahmequelle Russlands sind. Dank dieser Einnahmen konnte der Staat seine Schulden zurückzahlen und einen Haushaltsüberschuss erzielen. Er konnte sogar zu niedrigen Kosten die aus der Sowjetzeit geerbten Produktionsanlagen wieder in Schwung bringen, ohne größere Neuinvestitionen tätigen zu müssen. Putin überließ ein paar Krümel hiervon der Bevölkerung, die seine Regierungszeit daher mit einer Verbesserung ihrer Lebensbedingungen verbindet.

Der Staat sicherte sich die Kontrolle über strategische Wirtschaftssektoren und schränkte den Anteil des ausländischen Kapitals an ihnen strikt ein. An die Spitze des mächtigen Gazprom-Konzerns stellte Putin einen Mann seines Vertrauens, Miller. An der Spitze des Ölkonzerns Rosneft stellte er Setschin. Einer seiner Vertrauten, Jakunin, übernahm die Kontrolle über die russische Eisenbahngesellschaft, und so weiter und so fort. Es gibt heute hochrangige Beamte an der Spitze der staatlichen Konzerne, die so reich sind wie die Oligarchen - mit dem kleinen Unterschied, dass sie anders als die Oligarchen ihren Reichtum nicht öffentlich zur Schau stellen.

Aber niemand lässt sich täuschen, denn der Lebensstil dieser hohen Beamten steht in keinem Verhältnis zu ihren Gehältern, angefangen bei Ministerpräsident Medwedew. Ein Video, das viel Aufsehen erregt an, enthüllte, dass Medwedew über ein Netzwerk von Strohmännern mehrere luxuriöse Immobilien in Russland und Italien besitzt.

Putin selbst soll einer der reichsten Männer der Welt sein. Die Panama-Papiere enthüllten, dass einer seiner Jugendfreunde sein Vermögen auf Offshore-Konten verwaltet. Ein weiterer seiner Freunde, der Oligarch Rotenberg, wird als König der Staatsverträge bezeichnet. 2014 machte er große Gewinne bei den Olympischen Spielen in Sotschi; im Gegenzug übernahm er den Bau der Brücke zwischen der Krim und Russland, die Putin im vergangenen Monat eingeweiht hat. Putin war begeistert, dass er auf dieser Brücke vor den Kameras umher stolzieren konnte und hat gleich eine weitere Brücke bei Rotenberg bestellt: diesmal nördlich des Japanischen Meeres, zwischen dem Festland und der russischen Insel Sachalin.

Bürokratismus und Korruption durchziehen den Staatsapparat von oben nach unten

Zwar hat nicht jeder einen Platz in der ersten Reihe, um sich zu bereichern. Doch die Funktionäre im gesamten Staatsapparat - von ganz oben bis ganz unten - sind Putin zu Dank verpflichtet dafür, dass er die Vertikale der Macht wiederhergestellt hat. Diese Funktionäre bilden das Fundament seiner Unterstützung in der Gesellschaft.

1936 schätzte Trotzki, dass die Bürokratie - einschließlich ihrer Familien - etwa 25 Millionen der 170 Millionen Einwohner ausmachte. Wie viele sind es heute in Russland? Es ist schwer zu sagen, aber es gibt sehr viele von ihnen und Putin rettete ihren Broterwerb. Denn jenseits der geschäftemachenden Minister an der Spitze des Staates gibt es die Unzahl derer, die befugt sind, ein offizielles Dokument auszustellen, eine Genehmigung zu erteilen (eine Befreiung vom Militärdienst, eine Baugenehmigung, einen Führerschein) und diejenigen, die Zugang zu einer angesehenen Schule oder einem Krankenhausbett gewähren können, ohne warten zu müssen, diejenigen, die ein positives Urteil vor Gericht fällen oder einen Lastwagen durch den Zoll bringen können ... kurz gesagt all diejenigen, die Bestechungsgelder verlangen können. Und man muss für alles Bestechungsgelder zahlen.

Private Unternehmen, insbesondere kleinere, entkommen den Erpressungen der Finanzbehörden, der Polizei und den vielen Umwelt-, Handels- oder Verkehrsbehörden nicht. Sie sollen bei Strafe ihres Verbots Tausende von Normen respektieren, was im Kleinbürgertum viel Bitterkeit gegenüber Putin erzeugt hat.

Die weit verbreitete Korruption ist, um einen Ausdruck des Russlandspezialisten Pascal Marchand zu verwenden, "eine Frage der Betriebskosten. Es ist in der Tat notwendig zu wissen, an wen, wieviel und wann man geben muss."

Der Autor, der dies 2017 schrieb, gibt ein aufschlussreiches Beispiel für das Gewicht und die Moral der russischen Bürokratie: "2002 gelang es Putin, nach 12 Jahre Debatte das Gesetz zu verabschieden, das Eigentum an Boden erlaubt. Aber die Widerstandskraft in Ministerien und Parlament ist so groß, dass das Gesetz ausdrücklich vorschreibt, dass der Kauf und Verkauf von Boden über die örtlichen Behörden laufen muss. Und (...) diese umgehen das Gesetz massenhaft. Anstatt zu verkaufen, vermietet sie ländliche und vor allem die begehrten städtischen Grundstücke, meist ohne Ausschreibung und immer nur mit einer kurzen Vertragslaufzeit, so dass sie Grundstücke regelmäßig neu vergeben und dabei jedes Mal abkassieren kann."

Der Kapitalismus in der Krise kann die russische Gesellschaft nicht entwickeln

Das Gewicht der russischen Bürokratie erklärt sich aus der Geschichte, aber auch aus der Unfähigkeit des Kapitals, die russische Gesellschaft - ausgehend von dem Niveau, das am Ende der Sowjetzeit erreicht war - auf Grundlage der Marktwirtschaft funktionieren zu lassen. In den 1930er Jahren hatte Trotzki bereits geschrieben, dass der Kapitalismus die UdSSR, auch ohne militärische Eroberung, auf die eine oder andere Weise absorbiert hätte, wenn er sich nicht bereits selber in einem solchen Verfallsstadium befinden würde. Er fügte hinzu, dass die Spitzen der Bürokratie ihm dabei geholfen hätten. Aber da gab es zunächst die Folgen der Krise von 1929, dann den Zweiten Weltkrieg...

Der Kapitalismus befindet sich heute weltweit seit mehr als 40 Jahren in der Krise. Nirgendwo investieren die Konzerne in erheblichem Maß in die Produktion, nicht einmal in den imperialistischen Ländern. Und auch wenn sie versuchen, dort zu produzieren, wo die Arbeitskosten am günstigsten sind, erzielen sie ihre Gewinne mehr und mehr im Finanzsektor. In Russland ist es das Gleiche.

Die Kapitalisten beklagen sich, dass das Investitionsklima in Russland - fast dreißig Jahre nach dem Ende der UdSSR - erbärmlich ist. Die Eigentumsrechte werden vor den Gerichten immer noch nicht gesichert, die Korruption regiert und die skrupellosen Geschäftsleute betrügen ihre Partner. Im Jahr 2012 geriet sogar eine so große Versicherungsgesellschaft wie AXA mit einem regierungsnahen Oligarchen, Malofejew, aneinander. Nachdem er AXA ermuntert hatte, in russischen Unternehmen zu investieren, war es ihm gelungen, deren Konten zu leeren.

Die Produktion zieht nicht nur kein Kapital an, im Gegenteil. Seit den 90er Jahren gibt es eine spektakuläre Kapitalflucht. Alle, die sich Vermögen unter den Nagel reißen können, beeilen sich, dieses außer Landes zu schaffen. Niemand kann genau sagen, wie viele hunderte Milliarden in den letzten 25 Jahren außer Landes geschafft wurden, aber Ökonomen schätzen, dass die Gesamtsumme ungefähr dem Zweieinhalbfachen des russischen Bruttoinlandsprodukts entspricht.

Suleiman Kerimow ist ein Beispiel für diese Oligarchen, die ihren Reichtum exportieren, obwohl sie gute Beziehungen zur Regierung unterhalten. Um Putins Gunst zu gewinnen, finanzierte er 2015 den Bau der Moskauer Moschee. Aber er investiert hauptsächlich im Ausland: in Fußballvereine, Versicherungen, Fluggesellschaften ... Bekannt ist er für seine privaten Konzerte auf seiner Yacht im französischen Luxusresort Cap d'Antibes, mit Stars des Showbusiness wie Shakira und Beyoncé. Während er von den französischen Steuerbehörden verfolgt wird, weil er seine Immobilien in Südfrankreich hinter Strohmännern versteckte, meldete er den russischen Steuerbehörden nur 170.000 Euro Einnahmen, eine 54 m2 große Wohnung und keine Immobilien im Ausland.

Wenn also Russland wieder in den weltweiten Kapitalismus integriert ist, so bedeutet dies nicht, dass es dadurch auch nur die geringste Entwicklung erlebt hat. Die Einnahmen aus dem Verkauf von Öl und Gas verschleierten einige Jahre lang die mangelnden Perspektiven für die russische Wirtschaft. Doch die Weltwirtschaftskrise von 2008 setzte dem Aufschwung ein Ende. Und dann verschlechterten ab 2014 US-amerikanische und europäische Sanktionen die Situation des Landes, während gleichzeitig der Preis pro Barrel Öl brutal um 75% fiel.

Das sehr relative Eindringen ausländischen Kapitals in die russische Wirtschaft

Die Regierung versucht trotzdem, so viel Kapital wie möglich anzuziehen. Sie hat keine Wahl, denn das Ende der Planwirtschaft hat Russland gezwungen, seine internationalen Beziehungen auf eine neue Grundlage zu stellen. Und je mehr Zeit vergeht, desto weniger kann das es auf moderne Technologien und Produktionsmittel verzichten, für die keine Investitionen getätigt wurden, da die neuen Reichen alle eines gemeinsam haben: Dass sie kurzfristige Gewinne den Investitionen in die Zukunft vorziehen.

In den 2000er Jahren erwarb British Petroleum die Tyumen Oil Company, Alstom Anteile an Kernkraftwerken und der Produktion von Schienenfahrzeugen, die Bank Société Générale kaufte Rosbank, die zweitgrößte Privatbank. Da sich der Automobilmarkt in 15 Jahren mehr als verdoppelt hat, haben die wichtigsten westlichen Hersteller, Ford, Volkswagen, PSA und andere, Fabriken vor Ort eröffnet.

Im Jahr 2012 wurde Renault-Nissan sogar Hauptaktionär der russischen Firma AwtoWAS, die Lada-Fahrzeuge produziert: Renault wurde von den russischen Behörden um Hilfe gebeten, da sie befürchteten, dass AwtoWAS schließen müsste - was massive Folgen für die Stadt Togliatti gehabt hätte, wo sich dessen Werke befinden und Avtovaz der quasi einzige Arbeitgeber der Stadt ist. Der russische Staat benötigte das Kapital und das Know-how von Renault. Dies hat innerhalb weniger Jahre zum Verlust von mehr als der Hälfte der Belegschaft geführt, etwa 50.000 Arbeitsplätze. Übrigens: Aus Angst vor einer möglichen Explosion der Wut der Arbeiter in dieser "Monostadt" mit 700.000 Einwohnern (das heißt einer Stadt, die fast vollständig von einem einzigen Produktionskomplex abhängt, wie es viele in der UdSSR gab), zwang der Staat 2016 den damaligen Vorstandsvorsitzenden von AwtoWAS, der für diese Entlassungen verantwortlich schien, zum Rücktritt.

In der Produktion ist ausländisches Kapital hauptsächlich in der Automobil-, Luft- und Raumfahrtindustrie vertreten, über internationale Großkonzerne wie der französische Konzern Safran. Aber das ausländische Kapital wird mehr noch in den Bereichen Dienstleistungen und Handel investiert.

Für den, der eine russische Großstadt besucht, ist der Schein trügerisch. Man sieht die gleichen Marken wie überall auf der Welt: Coca-Cola, McDonald's, Danone, Nestlé, L'Oréal, Ikea ... Auchan hat mehr als 200 Filialen eröffnet und beschäftigt 40.000 Mitarbeiter. Aber die Mehrheit der so genannten Auslandsinvestitionen konzentriert sich auf Moskau und seine Umgebung, der Rest auf sechs oder sieben von 85 Regionen. Und auch diese Geldströme müssen relativiert werden, denn es handelt sich in Wahrheit oft um Fonds russischer Herkunft, die einen Umweg über Steueroasen gemacht haben. Zypern und Malta waren nacheinander der größte ausländische Investor in Russland.

Der kaufkräftige Absatzmarkt beschränkt sich neben reichen Geschäftsleuten und Bürokraten auf das Kleinbürgertum, das sich in ihrem Kielwasser während des Booms der 2000er Jahre entwickelt hat. Es zählt ungefähr zehn Millionen Stadtbewohner und kauft sie Wohnungen, Autos, konsumiert und reist ein wenig, wenn auch seit 2008 immer weniger. Der Rückgang des Rubelkurses um 60% zwischen 2014 und 2016 hat die Situation noch verschärft. Darüber hinaus wandern laut einigen Journalisten viele Kleinbürger in andere Länder aus, darunter auch junge Hochschulabsolventen, die in Russland keine Zukunft mehr für sich sehen.

Was den Rest der Bevölkerung betrifft, so haben mehrere Dutzend Millionen Arbeiter in städtischen und ländlichen Gebieten aus Geldmangel nur begrenzten Zugang zu importierten Waren.

Eine Wirtschaft, die noch weitgehend vom Staat "verwaltet" wird

In dieser Situation sichert noch immer der Staat einen großen Teil der Produktion oder zwingt private Konzerne dazu. Und nur dank ihres Erbes aus der Sowjetzeit ist die russische Wirtschaft noch nicht auf das Niveau von Ländern der Dritten Welt gefallen.

Ganze Städte sind Teil dieses Erbes, insbesondere in Regionen, in denen die klimatischen Bedingungen erhebliche Investitionen erfordern. In einigen von ihnen wird alles, was es noch an sozialen Einrichtungen gibt (von den Wohnungen über Schulen bis hin zu Theatern) von privaten oder staatlichen Konzernen subventioniert. Auf zentralstaatlicher Ebene gibt es keine Planwirtschaft mehr, aber die Produktionsmittel und die Infrastruktur aus der Sowjetzeit werden weiterhin genutzt.

Die Eisenbahnen transportieren nach wie vor die meisten Güter durch das Land. Überall funktionieren öffentliche Verkehrsnetze, die relativ billig sind, wenn auch mehr oder weniger gut. Manchmal werden sie in Großstädten modernisiert, häufiger verfallen sie, werden privatisiert, Linien werden hier und da geschlossen und die Autobusse veralten, aber sie existieren immer noch. Gleiches gilt für die Heizung: Seit den 1930er Jahren baute die UdSSR Kraftwerke und Zentralheizungen, die Stadtteile und sogar ganze Städte versorgten. Um in jedem Haus einzelne Heizkessel zu installieren und den Menschen Marktpreise aufzuzwingen, müsste alles neu gebaut werden. Dies ist zum Teil in Moskau geschehen, bleibt ansonsten aber die große Ausnahme.

Es geht keineswegs darum, die ehemalige UdSSR zu idealisieren, wie das nostalgische Stalinisten tun, aber diese Aspekte machen trotz allem immer noch einen Unterschied zu den Ländern der Dritten Welt und ihren Slums aus, die nie eine Industrialisierung gekannt haben.

Ab 2014 hat der Staat aufgrund der Sanktionen Ersatz für die Importe finden müssen. Vor einigen Monaten kündigte die russische Wochenzeitung Argumenty i Fakty die Wiedereröffnung von Bergwerken im Donbass an, außerdem die Eröffnung einer Fabrik zur Herstellung von Industrielampen, die man nicht mehr aus Italien oder Deutschland importieren kann, ebenso die Eröffnung einer Fischverarbeitungsfabrik. Die Zeitung wies darauf hin, dass in allen Fällen die Beteiligung des Staates unumgänglich war. Und man könnte noch viele dieser Beispiele anführen.

Wie es kürzlich die Studie einer amerikanischen Universität ausdrückte, erleben wir eine "Fusion von Staat und Wirtschaft". Die Autoren bedauern, dass "der Staat weiterhin aggressiv in die Märkte eingreift, neue Vorschriften erlässt, seinen Anteil am Bruttoinlandsprodukt erhöht und letztlich private Unternehmen verdrängt."

In den letzten Jahren haben Monopole an Bedeutung gewonnen. Der öffentliche Sektor, der sich fest in Regierungshand befindet, macht 70% des russischen BIP aus, wobei die fossilen Energien einen erheblichen Anteil ausmachen. Der Bankensektor folgt der gleichen Entwicklung. Die Sberbank, die führende öffentliche Bank, wird von einem ehemaligen Jelzin-Minister geleitet, der laut der Zeitung Wedomosti gezwungen war, "sich von einem liberalen Ökonomen zu einem autoritären Chef zu entwickeln". Im Jahr 2017 vergaben staatliche Banken mehr als 65 % der Kredite an Privatpersonen und 71 % der Kredite an Unternehmen.

Eine schwierige Integration in den Weltmarkt: vom Kooperationswillen zum nationalistischem Rückzug

In den internationalen Beziehungen war Putin dem Westen gegenüber zunächst positiv eingestellt. Doch die Haltung der imperialistischen Staaten hat sich seit dem Zusammenbruch der UdSSR nie wirklich geändert. Trotz des Endes des Kalten Krieges versuchten sie, ihren Einflussbereich auf die ehemaligen Sowjetrepubliken auszudehnen und Russland dort beiseite zu schieben. In 25 Jahren hat sich die NATO auf 13 neue Staaten in Osteuropa ausgedehnt und führt nun vermehrt militärische Übungen und Machtdemonstrationen an den Grenzen Russlands durch.

Der ehemalige österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, der im Juni 2018 von der Iswestija interviewt wurde, erinnerte sich: "[2001 haben wir mit Putin] viel über die Integration Russlands in Europa gesprochen. Ich hatte damals das Gefühl, dass Russland und Putin persönlich sehr aufgeschlossen waren. Aber dann spürte ich mehrmals, dass wir die Gelegenheit verpasst haben. Zuerst gab es da die erste ,orange Revolution' im Jahr 2004 in Georgien (...), dann die Finanzkrise [von 2008] und eine neue ,orange Revolution' [in der Ukraine 2014]. Heute ist Putin ein Spieler, der auf der internationalen Bühne zählt, 2001 war er es noch nicht. 1998 (...) hatte Russland Angst, das Land befand sich im Bankrott. Putin löste dieses Problem, und dies war ein so historischer Erfolg, dass er viele Dinge veränderte, einschließlich der Einstellung der russischen Elite."

Um nicht isoliert zu bleiben, suchte Russland wirtschaftliche, politische und militärische Partner. Wenn auch mehrere Versuche, sich mit ehemaligen Sowjetrepubliken zu verbünden, erfolglos blieben, wurde 2015 schließlich eine eurasische Wirtschaftsunion mit Weißrussland, Kasachstan, Armenien und Kirgisistan gegründet. Russland ist auch Mitglied der BRICS-Staaten, zusammen mit Brasilien, Indien, China und Südafrika, die man Schwellenländer nennt und die sich gegen die Großmächte behaupten wollen.

Aber vor allem in Asien und insbesondere in China sucht Moskau jetzt nach Perspektiven, wenn auch aus Mangel an Alternativen. In den russischen Gegenden des Fernen Ostens wurden erhebliche Investitionen getätigt. Im hohen Norden ermöglicht der neue Jamal-Gaskomplex Methangas-Tankern, Asien zwischen Juni und November über den Arktischen Ozean innerhalb von zwei Wochen zu erreichen - statt einen Monat lang über Europa und den Suezkanal zu brauchen. Aber auch hier musste die russische Regierung aufgrund ihrer technologischen Rückständigkeit Total um Hilfe bitten. China, das gerade einen 30-jährigen Gasliefervertrag über 400 Milliarden Dollar unterzeichnet hat, ist auch zu einem wichtigen Lieferanten von Investitionsgütern für die russische Industrie geworden.

Russland wurde 2012 in die Welthandelsorganisation aufgenommen. Es hatte 18 Jahre lang hart verhandeln müssen, um Mitglied zu werden. Doch die vermeintlichen Vorteile, die es davon erwartete, wurden sofort durch die Sanktionen zunichte gemacht, die aufgrund der russisch-ukrainischen Krise gegen Russland verhängt wurden. Ebenso wurde Russland nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 von den G8 ausgeschlossen, da der russisch-ukrainische Konflikt das ohnehin immer schwierigere Verhältnis Russlands zum Imperialismus weiter verschlechterte.

Die Annexion der Krim und der Krieg in der Ukraine

Im Jahr 2014 zeigte die neue ukrainische Regierung unter Poroschenko, die von den USA finanziert und bewaffnet wurde und in der faschistoide Gruppen einen Platz hatten, offen ihre Bereitschaft, mit Moskau zu brechen. Sie erklärte, sie wolle der EU und der NATO beitreten. Aber Moskau wollte seinen Marinestützpunkt in Sewastopol auf der Krim - dem wichtigsten Heimathafen der russischen Flotte, für den es bis 2043 einen Pachtvertrag mit der Ukraine hatte - nicht verlieren und auch nicht riskieren, dass die NATO einen weiteren Stützpunkt an Russlands Grenzen errichtete.

Unter dem Vorwand, die russischsprachigen Bewohner der Krim vor der ukrainischen nationalistischen Regierung zu retten, inszenierte der Kreml eine Flut chauvinistischer Propaganda in den Medien um die Parole "Die Krim gehört uns". Er schickte Soldaten, um auf der Halbinsel die Kontrolle zu übernehmen, und führte dort ein Referendum durch. Mit 96,77% Ja-Stimmen diente letzteres zur Rechtfertigung für die Eingliederung der Krim in die Russische Föderation, die am 18. März 2014 mit großem Pomp gefeiert wurde. Am selben Tag wurden die ersten amerikanischen und europäischen Sanktionen gegen russische Machthaber, Oligarchen und Unternehmen beschlossen, die seitdem mehrfach ausgeweitet wurden.

Gleich im Anschluss daran brach in der Ostukraine der Krieg aus. Russland unterstützte die Bildung der sich abspaltenden Republiken Donezk und Lugansk. Putin hatte nicht die Absicht, die Ostukraine zu annektieren, aber er wollte Druck auf die Kiewer Regierung ausüben, indem er ihr die Bergwerke und einen Teil ihrer Schwerindustrie entzog. Mit Unterstützung des Westens hat Kiew jedoch nicht nachgegeben. Der verheerende Konflikt dauert noch immer an, obwohl das Minsker Abkommen eigentlich zu einem Waffenstillstand hätte führen sollen. Mehr als 10.000 Menschen sind umgekommen und Hunderttausende geflüchtet.

Was die Bewohner der Krim betrifft, so sind sie zwar erleichtert, einem offenen Krieg entgangen zu sein. Doch sie müssen mit einer verlangsamten wirtschaftlichen Aktivität und steigenden Preisen fertig werden. In den letzten sechs Monaten ist dort das Durchschnittsgehalt auf etwa 200 Euro gesunken: nicht einmal die Hälfte des russischen Durchschnittsgehalts.

Die Militärintervention in Syrien und der Beigeschmack des Kalten Krieges

Die russische Militärintervention in Syrien im Herbst 2015 wurde anfangs von den USA gutgeheißen. Die syrische Opposition, auf die die USA gesetzt hatten, war nicht in der Lage gewesen, Baschar al-Assad zu stürzen. Der Islamische Staat hatte das Chaos des Imperialismus in der Region genutzt, um einen neuen Staat zu proklamieren. Indem er dem syrischen Diktator zu Hilfe kam, erhob Putin Russland in den Rang eines unumgänglichen Partners der imperialistischen Mächte. Aber sobald die militärische Niederlage des Islamischen Staates in Syrien erreicht war, wollten die USA die Situation wieder unter ihre Kontrolle bringen, und so begann die Kritik an der russischen Unterstützung des Assad-Regimes wieder aufzuflammen.

In diesem mörderischen Krieg schert sich keine der Kriegsparteien auch nur im Geringsten um das syrische Volk. Und Putin verhöhnt die Russen auf andere Weise: Dem Beispiel der Vereinigten Staaten im Irak und in Afghanistan folgend, setzt der Kreml Tausende von Söldnern ein, die von privaten Unternehmen rekrutiert wurden. Das erspart ihm, Verluste einzugestehen, die die reguläre Armee erlitten hätte - konkret mehr als dreihundert, die im Kampf getötet wurden.

Jedenfalls ist es für Putin sehr leicht, vor der russischen Bevölkerung gegen den Wunsch nach amerikanischer Vorherrschaft zu protestieren, gegen eine "unipolare Welt", in der "der Block roher Gewalt an Boden gewinnt". Er rechtfertigt damit einen zunehmend kriegerischen Nationalismus und die Tatsache, dass er die Interessen des russischen Staates in der Art der Imperialisten selbst, unter Missachtung der Völker, mit Zynismus und mit allen Mitteln verteidigt.

Putins Nationalismus

Der Nationalismus des Kremls folgt geradewegs dem der Sowjetzeit, seit Stalin mit dem Internationalismus der Bolschewiki gebrochen hat. Unter Berufung auf die angebliche historische Kontinuität des russischen Staates verbindet Putin die Symbole der Zarenzeit mit denen der stalinistischen Ära: den zweiköpfigen Reichsadler auf dem Staatswappen und den kürzlich wieder eingeführten Orden für die "Helden der Arbeit", der an den Stalinismus und die Stachanow-Bewegung erinnert.

Jedes Jahr wird am 9. Mai der Sieg über Deutschland im Zweiten Weltkrieg gefeiert, den man in Russland den "Großen Vaterländischen Krieg" nennt. Dieser Krieg, der eine Gelegenheit ist, die Größe Russlands und die Einheit seines Volkes gegenüber den Aggressoren zu verherrlichen, ist auch der Vorwand für eine gewisse Rehabilitierung Stalins.

2005 sorgte Putin für Aufsehen, als er erklärte, dass der Zusammenbruch der UdSSR die "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts" gewesen sei. Aber er präzisierte sofort: Man hätte zwar "kein Herz", wenn man das Ende der UdSSR nicht bereuen würde, aber auch "kein Hirn", wenn man dahin zurückkehren wolle. Nur auf diese Weise kann die UdSSR in seinen Augen Gnade finden, während er gleichzeitig offen die Oktoberrevolution verurteilt.

Das hundertjährige Jubiläum der Revolution von 1917 führte nur zu einer minimalen Anzahl von Gedenkfeiern. Die offizielle Botschaft lautet, dass die Revolution dem Ausland in die Hände gespielt und viel Unglück gebracht hätte. Besser sei ein starker Staat! Am Jahrestag der Oktoberrevolution zog es Putin vor, den 7. November 1612, einen russischen Kriegserfolg gegen die Polen von vor drei Jahrhunderten zu feiern.

2005 inszenierten die Präsidialbehörden die Gründung einer regierungsfreundlichen Jugendbewegung, "Die Unseren". Sie ist für die Organisation öffentlicher Demonstrationen zur Unterstützung des Regimes zuständig, ebenso für patriotische Clubs wie den der Radfahrer "Wölfe der Nacht", die von den höchsten Stellen gefördert werden. Im Laufe der Jahre zeigt Putin zunehmend offene seine Nähe zu ultrakonservativen nationalistischen Bewegungen in Europa, darunter der Front National und Marine Le Pen. Putin ist für sie eine Unterstützung, wenn nicht gar ein Modell.

Eine konservative und reaktionäre Gesellschaft

Und es gibt nicht nur den Nationalismus. Nachdem die orthodoxe Kirche Nikolaus II. im Jahr 2000 heiliggesprochen hatte, half Putin ihr, wieder einen Platz in den ersten Reihen der Gesellschaft einzunehmen. Er gab ihr Klöster und andere konfiszierte Gebäude zurück. Sie hat einen eigenen Fernsehsender. Sie hat erreicht, dass der Religionsunterricht in den Schulen wieder eingeführt und ein Gesetz verabschiedet wurde, das "die Beleidigung der Gefühle Gläubiger" mit Gefängnis bestraft. Die Popen sind bei allen öffentlichen Festen und Einweihungen dabei. Putin und Medwedew verpassen keine Gelegenheit, sich öffentlich mit Patriarch Kyrill zu zeigen, der nebenbei für seinen luxuriösen Lebensstil bekannt ist.

Zur Zeit Stalins und seiner Nachfolger in der UdSSR war die so genannte Kommunistische Partei die ideologische Säule des Staates. Sie gab den Rahmen des Lebens auf ideologischem und moralischem Gebiet vor und überwachte dessen Einhaltung. Putin möchte, dass die Kirche diese Rolle übernimmt. Denn die Bürokratie und die Oligarchen wissen ganz genau, dass sie nicht auf die spontane Unterstützung der Bevölkerung zählen können.

Parallel dazu verschlechtern sich der Status und die Lage der Frauen. Die bolschewistische Regierung hatte 1920 das Recht auf Abtreibung eingeführt. Diese wurde 1936 von Stalin verboten und 1955 wieder erlaubt. Heute jedoch macht die Kirche Stimmung gegen dieses Recht: Sie hat bereits erreicht, dass Frauen vor jeder Abtreibung dazu gezwungen werden, sich die Herzschläge eines Fötus anzuhören. 2016 versuchten Abgeordnete durchzusetzen, dass Abtreibung nicht mehr zu den Behandlungen gehört, die erstattet werden. Im gleichen Stil verminderte 2017 ein Gesetz die Strafe für häusliche Gewalt; sie wird jetzt nur noch mit einer einfachen Geldstrafe geahndet. Und als die Weinstein-Affäre die Zungen lockerte, wurde ein Parlamentsabgeordneter von mehreren Frauen, darunter die Sprecherin des Außenministers, der sexuellen Belästigung beschuldigt. Das Parlament wusch ihn rein, und der Sprecher des Präsidenten erklärte, dass Weinsteins Anklägerinnen Prostituierte seien.

1918 hatte die russische Revolution auch die Homosexualität entkriminalisiert; Stalin hatte sie 1934 wieder zu einer Straftat gemacht. Achtzig Jahre später werden Homosexuelle weiterhin diskriminiert. Ihnen schlagen Vorurteile entgegen, die von höchsten Stellen geschürt werden. 2013 verabschiedete die Staatsduma ein Gesetz, das die so genannte "Werbung" für nichttraditionelle sexuelle Beziehungen gegenüber Minderjährigen verbietet.

Schließlich kommt in diesem Land, das offiziell 194 Nationalitäten zählt, zunehmend rassistische Demagogie auf allen Ebenen der Gesellschaft zum Ausdruck, wobei die politische Führung mit "gutem" Beispiel vorangeht. Diese Fremdenfeindlichkeit richtet sich vor allem gegen die Migranten aus Staaten Zentralasiens - Tadschiken, Usbeken und Kirgisen, die die härtesten Jobs in Russland machen. Ihre Aufenthalts- und Arbeitsbedingungen sind gesetzlich erschwert worden, und einige Pogrome haben die Öffentlichkeit geprägt.

Die Opposition ihrer Majestät

Nationalismus und reaktionäre Ideen haben umso mehr Gewicht, als sie auch von fast der gesamten Opposition verbreitet werden. Dazu gehört auch der Liebling der westlichen Medien, Nawalny, den sie als Demokraten präsentieren, weil er auf die Freiheit des Marktes schwört, während er ansonsten ein ultra- nationalistischer Fremdenfeind ist.

Nawalny, Anwalt und Geschäftsmann, ist als Blogger bekannt. Seine Spezialität ist es, die Korruption anzuprangern. Sein Slogan, der das Geeinte Russland als "Partei der Diebe und Betrüger" brandmarkt, war erfolgreich. Er war es, der Medwedews immenses Land- und Immobilienvermögen enthüllte. Aber er war es auch, der 2007 in einem Video, als Zahnarzt verkleidet, Migranten mit Karies verglich. Jahrelang nahm er am Russischen Marsch teil, einer fremdenfeindlichen Parade, die von faschistoiden Gruppen organisiert wird, bevor er sein Image aufpolieren wollte, um präsentabler zu scheinen. Aber anlässlich der Moskauer Bürgermeisterwahlen 2013 initiierte er erneut eine landesweite Unterschriftensammlung, die die Ausweisung von Staatsangehörigen ehemaliger Sowjetrepubliken forderte, die sich ohne Arbeitserlaubnis in Russland aufhalten.

Abgesehen von Nawalny, den der Kreml von den Präsidentschaftswahlen ausgeschlossen hat, unterhalten die meisten der autorisierten Oppositionsparteien gute Beziehungen zur Regierung, wenn sie ihr nicht sogar aus der Hand fressen.

Die Einzige, die bei den Wahlen Gewicht hat, ist die Kommunistische Partei Russlands, die KPRF - Erbin der früheren stalinistischen Partei, die jedoch im Vergleich zu ihr ziemlich schlecht dasteht. Bei den letzten Präsidentschaftswahlen erhielt sie 11,77% der Stimmen. Ihre Wählerschaft besteht hauptsächlich aus älteren Nostalgikern und Kriegsveteranen, die der UdSSR nachtrauern.

Eine immer stärker eingeschränkte Meinungsfreiheit

Die Meinungsfreiheit wird in Russland zunehmend eingeschränkt, besonders seit Ende 2011 eine Protestbewegung gegen den von der Regierung bei den Parlamentswahlen massiv organisierten Wahlbetrug ausbrach. Mehrere zehntausend Demonstranten, vor allem Kleinbürger, gingen auf die Straße und buhten Putin aus. Von diesem Moment an versuchte letzterer nicht mehr, mit der Intelligenz zu einer Verständigung zu kommen. Es ging nicht um die Frage, die Tür zu offenem Protest zu öffnen, von dem niemand weiß, wo er enden würde und ob er nicht vielleicht andere soziale Schichten, einschließlich der Arbeiterklasse, auf ein ganz anderes Terrain mit sich reißen würde.

Nach den Präsidentschaftswahlen im Mai 2012, als Putin zu seinem zu seiner Position als Präsident zurückkehrte, wurde die Bewegung unterdrückt und einige ihrer Anführer wurden ins Gefängnis geworfen.

Das Demonstrationsrecht blieb bestehen, aber die Behörden können sich seitdem auf die Störung der öffentlichen Ordnung berufen, um diese zu erschweren. Im Februar 2014 wurde die Strafe für Wiederholungstäter, die an ungenehmigten Demonstrationen teilnehmen, auf fünf Jahre Haft und eine Geldstrafe von einer Million Rubel (ca. 14.000 Euro) erhöht.

Glücklicherweise hat dies nicht verhindert, dass im Frühjahr 2017 erneut Demonstrationen stattfanden, an denen diesmal nicht nur Kleinbürger, sondern auch viele Jugendliche (unter ihnen einige Oberstufenschüler) und sogar eine Minderheit von Arbeitern teilnahm.

Die Regierung überwacht das Internet genau. Die Russen gehören zu den Bevölkerungen, die über die sozialen Netzwerke am stärksten mit den übrigen Ländern der Welt verbunden sind. Ein Internetnutzer wurde wegen Beamtenbeleidigung in einem sozialen Netzwerk zu zwei Jahren Straflager verurteilt, ein zweiter für die Kritik an den russischen Bombardierungen in Syrien, ein dritter dafür, pro-ukrainische Artikel geteilt zu haben. Vor kurzem hat die Regierung versucht, das Messenger-System Telegram zu verbieten, was zu zahlreichen Protesten führte.

Die wichtigsten Medien befinden sich in Regierungshand, und die wenigen Journalisten, die unabhängig recherchieren, gehen Risiken ein: Die Zeitung von Anna Politkowskaja, die Nowaja Gaseta, zählt seit dem Jahr 2000 sechs ermordete Journalisten. Aktivisten in Vereinen, Umweltschützer oder andere Aktivisten setzen sich ebenfalls Gefahren aus. Seit 2012 werden sie als fünfte Kolonne bezeichnet, die bereit wäre, das Land zu verraten. Ein Gesetz verlangt von Verbänden, NGOs, Gewerkschaften und Parteien, die Mittel aus anderen Ländern erhalten, dass sie sich als "ausländische Agenten" bezeichnen.

Was die so genannte systemunabhängige politische Opposition betrifft, deren Parteien nicht registriert sind, so muss auch sie manchmal harte Schläge hinnehmen. Während der letzten Präsidentschaftswahlen wurden Aktivisten der extremen Linken verhaftet, weil sie zu Kundgebungen aufgerufen hatten, und dies, obwohl sie isoliert waren. Sie wurden verprügelt, einige wurden gefoltert, wegen Extremismus angeklagt und wie Terroristen behandelt.

Es sei nebenbei bemerkt, dass das ausländische Kapital, wenn es um seine Gewinne geht, sich perfekt mit diesen brutalen Methoden arrangiert. Der Vinci-Konzern hat den Bauauftrag für die erste Maut-Autobahn zwischen Sankt Petersburg und Moskau erhalten. Ganz abgesehen davon, dass ihm Korruption sowie ein künstliches Hochtreiben der Kosten vorgeworfen wird. Die Gegner des Projekts wurden mit Eisenstangen zusammengeschlagen, im Gesicht verbrannt, und die Polizei ging gewaltsam gegen die Demonstranten vor.

All dies zeigt, dass die Regierung trotz ihrer scheinbaren Stärke nicht zulassen kann, dass alle Meinungen geäußert werden, denn jeder Konflikt könnte schnell ein Echo finden. Natürlich wird das Land vom herrschenden Regime mit eiserner Hand regiert. Aber es ist umso autoritärer, da es weiß, dass seine Popularität sehr zerbrechlich ist und es auf einem Vulkan tanzt. Die Gründe für die Wut sind da und es ist wahrscheinlich, dass die Unzufriedenheit zunimmt.

Die Lebensbedingungen der arbeitenden Bevölkerung verschlechtern sich

Die Ungleichheit in Russland gehört zu den größten in Europa. Die Löhne der Arbeiter übersteigen nicht einige hundert Euro. In einem Analyselabor zum Beispiel kann ein Techniker umgerechnet etwa 480 Euro verdienen, ein Arbeiter in der Verpackung 275 Euro. Ein Lehrer verdient theoretisch 500 Euro, aber nur die Hälfte, wenn er in Dagestan arbeitet. Und die offiziellen Löhne, auf deren Grundlage die Renten und etwaige Arbeitslosenunterstützung berechnet werden, sind noch miserabler als die real gezahlten Löhne. Denn um weniger Sozialversicherungsbeiträge zahlen zu müssen, ziehen die Unternehmen es vor, unter der Hand zu zahlen.

Viele Arbeitslose melden sich gar nicht mehr arbeitslos, weil die Unterstützung so miserabel ist. Was die Höhe der Renten betrifft, so ist sie schlicht unanständig. Außerdem arbeiten viele ältere Menschen für ganz kleines Geld über das gesetzliche Rentenalter hinaus, zum Beispiel in der U-Bahn, in Museen, Straßen, bei der Müllabfuhr.

Die Preise hingegen steigen ständig. Miete, Kreditraten, Transport und Treibstoff, Essen, Pflege, Bildung, alles ist teuer. Und der Staat auf der Suche nach neuen Einkommensquellen erwägt, die Mehrwertsteuer von 18% auf 20% zu erhöhen, während die Einkommenssteuer auf 13% festgelegt ist, egal ob man arm oder reich ist.

Am Vorabend der letzten Wahlen musste Putin zugeben, dass "die Armut den schlimmsten Wert seit zehn Jahren" erreicht hat, mit 20 Millionen Russen unter dem festgelegten Schwellenwert von rund 130 Euro pro Monat. (Was das Existenzminimum und die Mindestrente betrifft - beide eher theoretische Größen - so sind sie nicht viel höher: 160 Euro pro Monat).

Während in Großstädten Autos ausländischer Marken das Bild beherrschen, sind es ansonsten russische Autos - oft alte, die ständig kaputtgehen und von den Menschen selbst repariert werden. Der Zustand der Straßen, der als erbärmlich bekannt ist, bessert sich nur auf den Hauptverkehrsadern. Die Ärmsten benutzen öffentliche Verkehrsmittel oder gehen zu Fuß. Was die Wohnungen betrifft, so gehören die Quadratmeterpreise im Zentrum Moskaus zu den höchsten der Welt, während anderswo die vor fünfzig Jahren in aller Eile errichteten Häuserblocks verfallen, obwohl sie noch bewohnt werden.

Auf dem Land ist Russland mit 33 Millionen Hektar fruchtbarer Schwarzerde und gigantischen, hochmodernen Farmen führender Weizenexporteur vor den USA geworden. Aber auf der anderen Seite ist der größte Teil des Landes in Vergessenheit geraten. Hier hält - gekennzeichnet durch einen Mangel an Infrastruktur - die Rückständigkeit an; viele haben noch kein fließendes Wasser. Viele Dörfer wurden seit dem Verschwinden der Kolchosen oder Sowchosen, auf die sie angewiesen waren, von ihren Bewohnern fast völlig verlassen und von den Behörden vollständig aufgegeben.

Schließlich verringerte die Regierung nach 2014 ihre finanzielle Hilfe für die Regionen, von denen fast ein Dutzend überschuldet ist. Die Provinzen im Fernen Osten befinden sich derzeit in einer Krise, trotz des Wunschs des Kremls, die Beziehungen zu Asien auszubauen will. Ihre Gebiete entvölkern sich noch viel stärker als die anderen Gebiete, die sich weit weg von den großen Zentren befinden.

Die demografische Krise

Die demografische Krise ist eine der Folgen der sozialen Krise, von der sich Russland immer noch nicht erholt hat. In den 90er Jahren war die männliche Sterblichkeitsrate steil angestiegen. Grund hierfür war die Verelendung, die physiologische Verarmung des ärmsten Teils der Bevölkerung sowie der Alkoholkonsum, der zu Krankheiten und Unfällen führte. Die Lebenserwartung der Männer sank von 65 Jahren im Jahr 1988 auf weniger als 59 Jahre im Jahr 2005. Im Jahr 2015 liegt sie wieder bei fast 66 Jahren, bleibt aber sehr niedrig: In Frankreich beträgt sie 80 Jahre. Die Regierung fördert Geburten, indem sie Müttern ab dem zweiten Kind ein "Mutterschaftskapital" zahlt, mit dem man eine bessere Wohnung oder die Ausbildung der Kinder bezahlen kann. Aber in der Stadt zeigt diese Familienhilfe wenig Wirkung: Drei Viertel der Paare haben immer noch nur ein Kind.

Eine weitere Folge der demografischen Krise ist, dass die Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter in zwanzig Jahren um ein Drittel zurückgegangen ist. Infolgedessen könnte Russland bis 2025 zehn Millionen Erwerbstätige verlieren. Putin nutzt dies, um zu erklären, warum die Arbeitsproduktivität erhöht werden müsse.

Und außerdem hat er gerade erst gestern die Erhöhung des Renteneintrittsalters angekündigt. Zweifellos hofft er, dass die bittere Pille während der Fußball-Weltmeisterschaft einfacher geschluckt wird. Bisher galt das Rentenalter aus der sowjetischen Zeit. In den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren soll es schrittweise von 60 auf 65 Jahre für Männer und von 55 auf 63 Jahre für Frauen angehoben werden.

Um auf die demografische Krise zurückzukommen: Nur die Migrationsströme haben den Zusammenbruch in Grenzen gehalten. Zwischen 2002 und 2010, dem Datum der letzten Volkszählung, war die Bevölkerung insgesamt um 2,3 Millionen Menschen zurückgegangen, aber ohne Einwanderung hätte dieser Rückgang mehr als 5 Millionen betragen. Russland, das Arbeitskräfte aus ärmeren Nachbarstaaten anzieht, ist auf diese Migration also unbedingt angewiesen.

Und wetten wir, dass diese hohe Zahl an Immigranten in der russischen Arbeiterklasse an dem Tag, wenn die Arbeiterklasse wieder zu kämpfen anfangen wird, eine Kraft darstellen werden - ja vielleicht sogar ein Trumpf, damit sich ihre Kämpfe auf die Nachbarländer ausdehnen.

Vom Mangel an Kampfbereitschaft zur Gefahr einer sozialen Explosion?

Bisher hat die Arbeiterklasse keine größeren sozialen Kämpfe begonnen. Wie überall leidet sie unter einem Rückgang des politischen Bewusstseins und einem Mangel an Vertrauen in die eigene Kraft. Es gibt jedoch Streiks, oft um Lohnfragen, auch wenn die Medien wenig darüber berichten. Im Jahr 2015 gab es zum Beispiel in der Region Tula, im Süden Moskaus, einen Streik in einer Ziegelei: Die Arbeiter erhielten keinen Lohn mehr. Stattdessen sollten sie - wie in den 90er Jahren - als Bezahlung einen Teil der von ihnen hergestellten Ziegelsteine erhalten, die sie dann irgendwie selber verkaufen sollten. Es gab auch Streiks, insbesondere in der Autoindustrie, um Tarifverträge zu erhalten, die bessere Arbeitsbedingungen und Entlohnung sichern sollten. Oder der Streik der Lkw-Fahrer in den Jahren 2015-2016, die drohten, alle nach Moskau zu fahren, um gegen die Einführung einer neuen Steuer zu protestieren - und das in ihrer Lage, die bereits sehr prekär ist.

Es gibt ebenfalls Mobilisierungen in der einfachen Bevölkerung: Derzeit finden in der Region Moskau Demonstrationen statt, um gegen die starke Vermehrung wilder Müllhalden zu protestieren, auf denen die Hauptstadt ihren Müll entsorgt. Der Skandal brach in Wolokolamsk aus, 100 Kilometer von Moskau entfernt, als giftige Dämpfe dazu führten, dass fünfzig Schulkinder ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten. Nachdem das Fernsehen gezeigt hatte, wie wütend die Anwohner waren, versprach Putin, das Problem zu lösen. Aber er verlagerte nur das Problem ... indem er die Müllhalden an andere Orte verlegen ließ. Mit dem Ergebnis, dass sich auch die Protestbewegung ausbreitet.

Seit einigen Jahren gibt es Proteste gegen die Zerstörung des Gesundheitssystems. Der Begriff ist nicht übertrieben: Jedes Jahr schließen zwischen 300 und 400 Krankenhäuser. Laut der offiziellen Statistik sank ihre Zahl zwischen 2000 und 2016 um die Hälfte: auf das Niveau ... von 1932! Private Kliniken und kostenpflichtige Dienstleistungen in Krankenhäusern nehmen zu ... für diejenigen, die sie sich leisten können. In der Region Tschita, unweit des Baikalsees, drohten hunderte Ärzte zu kündigen. In Moskau gab es mehrere Streikbewegungen. Die gleiche Unzufriedenheit zeigt sich auch im Bildungsbereich, dessen Budgets ständig sinken.

Wie bereits im Zusammenhang mit den Fabriken in Togliatti erwähnt, befürchten die Herrschenden eine Explosion, die sich über das ganze Land ausbreiten könnte. Denn es gab bereits einige, wenn auch begrenzte, Wutausbrüche während des Zusammenbruchs der UdSSR und, was noch nicht so lange her ist, nach der Krise von 2008.

Damals hatte Putin eine echte Show inszeniert. Die Schließung des Zementwerks und des Wärmekraftwerks in Pikaljowo, dem wichtigsten "Arbeitgeber" in dieser kleinen Monostadt aus sowjetischer Zeit (das heißt einer Stadt, die um einen - mittlerweile privatisierten - Industriekomplex herum gebaut worden war), hatte zu Aufsehen erregenden Demonstrationen geführt. Putin hatte daraufhin die Firmenbesitzer, darunter den Oligarchen Deripaska - damals der neuntreichste Mann der Welt - zu sich zitiert und hatte sie vor laufender Kamera zusammengestaucht: "Sie haben diese Menschen als Geisel genommen. Sie haben tausende Menschen Ihrem Ehrgeiz, Ihrer Inkompetenz, Ihrer reinen Habgier geopfert. Das ist völlig inakzeptabel. Auch wenn Sie, die Eigentümer, keinen Kompromiss akzeptieren - diese Anlage wird die Produktion wieder aufnehmen, auf die eine oder die andere Weise, mit oder ohne Ihnen." Und er hatte Deripaska gezwungen, sofort ein Protokoll zu unterzeichnen, dass die Produktion wieder aufgenommen wird.

Deripaska hat das Spiel mitgespielt, und es geht ihm gut. Kürzlich ist die Regierung seinem Konzern Rusal zur Hilfe geeilt: Sie gab Rusal Finanzspritzen, als dessen Aktien nach den jüngsten amerikanischen Sanktionen regelrecht abstürzten. Die Finanzspritzen sind offensichtlich ein Geschenk an einen Milliardär, aber gleichzeitig auch ein Weg, um den Zusammenbruch des Konzerns zu verhindern, der zehntausende Arbeiter beschäftigt.

Während Putin den guten Zaren spielt, bemüht sich die Regierung, jede Form der Organisation der Arbeiterklasse zu verhindern. Selbst die Gewerkschaften stehen unter ihrem Druck. Man muss wissen, dass es in Russland zwei Arten von Gewerkschaften gibt. Da gibt es einerseits die Gewerkschaften, die noch aus der Zeit der ehemaligen UdSSR stammen. Diese behaupten zwar mittlerweile, unabhängig zu sein, sind jedoch weiterhin Rädchen im Getriebe der Bürokratie und arbeiten Hand in Hand mit der Unternehmensführung zusammen. Andererseits sind neue Gewerkschaften entstanden, die dieselbe Rolle spielen wollen wie die Gewerkschaften in den imperialistischen Ländern. Sie stellen zwar das System nicht in Frage. Doch allein die Tatsache, dass sie sich mehr oder weniger auf die Arbeiter stützen, um Verbesserungen auszuhandeln, stört die Bosse und die verantwortlichen Politiker.

So musste die MPRA, eine in Sankt Petersburg, Kaluga und den Renault-Avtovaz-Werken in Togliatti vertretene Automobilgewerkschaft, trotz ihrer bescheidenen Größe echten Kampfgeist zeigen und einige aufsehenerregenden Streiks führen, um rechtlich anerkannt zu werden. Im Grunde genommen unterscheidet sich diese Gewerkschaft nicht von denen, die wir bei uns kennen. Als ihr Führer Etmanow, ein ehemaliger Arbeiter von Ford Wsewoloschsk, 2016 in die Politik ging, wurde er Kandidat für die prowestlich liberale Jabloko-Partei. Aber im Januar letzten Jahres verfügte das Sankt Petersburger Gericht ihr Verbot unter dem Vorwand, dass die MPRA politische Aktivitäten ausübe und dem Gesetz gegen ausländische Agenten unterliege, da sie Mitglied eines internationalen Gewerkschaftsbundes ist. Schließlich hob das Oberste Gericht diese Entscheidung auf, wahrscheinlich beeinflusst vom Gouverneur von Kaluga, einem eifrigen Diener von PSA, Mitsubishi und anderen Unternehmen der Stadt. Aber diese Entscheidung bedeutet keineswegs das Ende der Schwierigkeiten für die Gewerkschaftsführer und insbesondere nicht für die einfachen Gewerkschaftsaktivisten.

Wieder an den Trotzkismus anknüpfen

Abgesehen von sehr kleinen, verstreuten Gruppen mit wenigen Aktivisten gibt es in Russland leider keine Partei, die sich auf revolutionäre kommunistische Ideen beruft und beabsichtigt, die politischen Interessen der Arbeiter zu vertreten. Trotz seiner Vergangenheit ist Russland in dieser Hinsicht keine Ausnahme, ganz im Gegenteil. Denn bevor er es vollständig über Bord geworfen, bevor er es unverblümt verraten hat, hat der Stalinismus - der sich das revolutionäre Programm widerrechtlich angeeignet hatte - es entstellt und von Grund auf verändert, sodass das Proletariat hieraus keine Waffe mehr machen konnte. Viele der sich revolutionär nennenden Gruppen, die sich seit dem Sturz der UdSSR gegründet haben und manchmal noch immer neu entstehen, sind von dieser sterilen und verzerrten Auffassung des Marxismus geprägt, insbesondere von einer Form nostalgischen Patriotismus gegenüber der Sowjetzeit und völliger Unwissenheit bezüglich der wahren Rolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei in der Russischen Revolution.

Was wäre heute das Programm einer echten revolutionären kommunistischen Partei in Russland? Es wäre absurd zu behaupten, dass man es von hier aus entwickeln könnte. Nur Revolutionäre, die vor Ort aktiv und in der Lage sind, ihre Politik Schritt für Schritt zu überprüfen, indem sie sie in die Tat umsetzen und das politische Bewusstsein der Arbeiterklasse durch ihre Propaganda und durch ihre täglichen Kämpfe fördern, werden in der Lage sein, ein solches Programm konkret auszuarbeiten.

Aber wir sind überzeugt, dass sie dies nur tun können, wenn sie wieder an den Trotzkismus anknüpfen und sich in die Tradition der trotzkistischen Bewegung stellen.

Die bolschewistisch-leninistische Opposition in der UdSSR nannte sich so, um ihre Verbindung zu den Revolutionären der Oktoberrevolution zu betonen und ihre Bereitschaft, deren internationalistischen Kampf fortzusetzen. Sie war die Einzige, die politisch nicht vor der stalinistischen Bürokratie kapitulierte. Innerhalb der Kommunistischen Partei der UdSSR und der Kommunistischen Internationale verteidigte sie zunächst offen und dann, als die Repression sie dazu zwang, heimlich ein Programm, das jederzeit auf alle brennenden politischen Fragen antwortete. Sie hat nie die Hoffnung in die Fähigkeit der weltweiten Arbeiterklasse verloren, wieder in die Offensive zu gehen und in der UdSSR die Macht, die die Bürokratie an sich gerissen hatte, zurückzugewinnen. Und selbst wenn die bolschewistisch-leninistische Opposition diesen Kampf, dessen Ausgang vom Kräfteverhältnis zwischen Proletariat und der Bourgeoisie im Weltmaßstab abhing, nicht gewonnen hat, so hat sie zumindest den künftigen Generationen die unbefleckte Fahne des proletarischen, internationalistischen Kommunismus weitergegeben, auf den sich die Revolutionäre mit Stolz berufen können.

In der UdSSR, wo die Bürokratie die Staatsgewalt in ihrer Hand hatte, vernichtete sie in den späten 1930er Jahren die Bolschewisten-Leninisten schließlich auch physisch, da sie mit ihr trotz Verleumdungen, heftigster Repression, Verhaftungen, Deportationen, Lagerhaft und Folter nicht anders fertig wurden. Die Trotzkisten hielten nicht nur stand, sondern schafften es auch, bei einem Teil der Arbeiterklasse Gehör zu finden.

Der Faden ist damit zwar in der ehemaligen UdSSR und insbesondere in Russland abgerissen, der Trotzkismus kann nicht mehr von Aktivisten aus Fleisch und Blut übermittelt werden. Doch hier wie anderswo werden die zukünftigen Revolutionäre die für den Wiederaufbau der Arbeiterbewegung unerlässlichen politischen Grundlagen finden, wenn sie sich ein wenig mit ihrer Vergangenheit beschäftigen.

Eine Gesellschaft, die noch immer von der proletarischen Revolution und der sowjetischen Vergangenheit geprägt ist

Als die UdSSR zusammenbrach, schwollen der Antikommunismus und der Druck, den er ausübte, noch einmal bedeutend an. Viele Aktivisten und Gruppen der extremen Linken beeilten sich damals, sich nicht von der UdSSR abzuwenden, wie sie letztlich geworden war, sondern auch von den kommunistischen Ideen selbst - und einige leider auch vom trotzkistischen Programm. Sobald die UdSSR begann auseinanderzubrechen, erklärten sie, dass die UdSSR durch Jelzins Willen und seine ersten Maßnahmen aufgehört hatte, ein degenerierter Arbeiterstaat zu sein. Diese Charakterisierung hatte den Bolschewisten-Leninisten und nach ihnen den Trotzkisten zur Orientierung gedient und dazu, ihre Politik zu bestimmen. Diese lautete: Verteidigung der Errungenschaften der Oktoberrevolution und des Arbeiterstaates gegen jeden Versuch der Wiederherstellung des Kapitalismus - und gleichzeitig Kampf gegen die stalinistische Bürokratie, im Namen der Interessen des sowjetischen und internationalen Proletariats und der Weltrevolution.

Wenn man dekretierte, dass Russland kein Arbeiterstaat mehr sei, dann brauchte man auch nicht mehr dessen Erbe und seinen entfernten revolutionären Ursprung zu verteidigen - was schon immer schwer gewesen war, wegen des abstoßenden Erscheinungsbilds, das der im Oktober 1917 geborenen Staat durch den Stalinismus angenommen hatte.

Lutte Ouvrière weigerte sich damals, dem antikommunistischen Druck nachzugeben, der auf den Organisationen lastete, die zu lange von der Arbeiterklasse abgeschnitten waren. Wir wollten den Arbeiterstaat nicht begraben, bevor wir wussten, ob die Arbeiterklasse reagieren würde: Sie konnte ihre Errungenschaften verteidigen und würde gut daran tun, sie zu verteidigen. Unsere Entscheidung war die von Aktivisten: Es ging nicht darum, was die wahrscheinlichste Zukunft war, sondern was die Zukunft war, für die man kämpfen musste. Es ging darum zu entscheiden, auf welcher Seite man angesichts des gerade stattfindenden Versuchs steht, den Kapitalismus wiederherzustellen - und nicht im Voraus zu kapitulieren.

27 Jahre später stellt sich die Frage so nicht mehr. Die UdSSR existiert seit langem nicht mehr, ebenso wenig die Planwirtschaft. Die neuen Generationen haben sie nicht einmal mehr kennengelernt. Aber nur die Trotzkisten, die sich damals nicht beeilten, ihr den Rücken zu kehren, verteidigen weiterhin die Perspektive einer proletarischen Revolution ähnlich wie im Oktober 1917.

Und die heutige russische Gesellschaft mit ihren einzigartigen Merkmalen ist unverständlich, wenn man ihre revolutionären Ursprünge und die sowjetische Vergangenheit ignoriert.

Staatliche Kontrolle und Staatsmonopole sind weiterhin vorherrschend in der Wirtschaft - im Vergleich zu den kapitalistischen Sektoren, die auf der Grundlage des Privateigentums an den Produktionsmitteln arbeiten. Als die UdSSR auseinanderbrach, erwies sich das, was man auf der Grundlage der Staatswirtschaft aufgebaut hatte, als solider, als man ihm nachgesagt hatte.

Was auch fortlebt, ist das soziale und politische Gewicht der Bürokratie, die aus der Degeneration des Arbeiterstaates entstanden ist. Die Oligarchen und Bürokraten à la Putin bereichern sich, indem sie die Überreste dessen zerstören, was Generationen von Arbeiterinnen und Arbeitern aufgebaut haben. Sie selbst sind die Erben der stalinistischen Bürokraten, die die Bevölkerung daran gehindert hatten, von den erzielten Fortschritten zu profitieren und noch weiterzugehen und sich an das Proletariat der anderen Länder zu wenden.

Andererseits - so reich einige von ihnen auch geworden sind - die Oligarchen und Bürokraten wissen, dass ihr Reichtum immer noch nicht die Wurzeln geschlagen und die Legitimität erworben hat, die er in den imperialistischen Ländern hat. Er hängt von Putins Gnaden ab, aber auch von der Passivität oder Kampfbereitschaft der Massen. Was wäre, wenn sie es morgen von ihnen zurückholen? Diese tiefverwurzelte Angst ist die Hauptursache für den Autoritarismus des Regimes. Dem Proletariat steht immer noch keine mächtige Bourgeoisie gegenüber, sondern eine Bürokratie und eine Oligarchie, die weder das gesellschaftliche Fundament noch die Selbstsicherheit der amerikanischen, französischen, deutschen und anderen Kapitalisten hat. Ebenso wenig gibt es ein großes Kleinbürgertum, das die Gesellschaftsordnung der besitzenden Klassen zu der ihren gemacht hätte und auf das sie sich verlassen könnten.

Die Zukunft gehört dem Proletariat

Zu ihrer Zeit konnten sich die Bolschewiki die russische Revolution nicht anders vorstellen als ein Kettenglied in der Weltrevolution. Im März 1918 sagte Lenin beim Kongress der Kommunistischen Partei: "Es besteht kein Zweifel daran, dass der endgültige Sieg unserer Revolution undenkbar ist, wenn wir isoliert bleiben, wenn es keine revolutionäre Bewegung in anderen Ländern geben würde ... angesichts all der Schwierigkeiten liegt unsere Rettung in der Revolution in ganz Europa."

Den revolutionären Internationalismus der Bolschewiki ersetzte die stalinistische Bürokratie schließlich durch den Nationalismus und spannte das organisierte Proletariat überall vor den Karren der Bourgeoisie. Auf diese Weise führte es die Arbeiterklasse von Niederlage zu Niederlage und schließlich zur Demoralisierung und dahin, dass sie das Bewusstseins ihrer Klasseninteressen verlor.

Gegenwärtig geht Russland den gleichen reaktionären Weg wie der Rest der Welt. Eben darin besteht im Grunde seine Wiedereingliederung in das weltweite System. Der Kapitalismus in der Krise führt die Gesellschaft in eine Sackgasse und in die Barbarei. Putins Arroganz ist das Gegenstück zu der von Trump. Der Druck des Nationalismus und der reaktionären Ideen in Russland, wie auch seine militärischen Interventionen im Ausland, gehen einher mit der reaktionären Entwicklung und den Militärinterventionen der imperialistischen Staaten und allen anderen Erscheinungsformen des verfaulenden Kapitalismus, der sowohl die Terroranschläge, die Flüchtlingskrise wie auch das zunehmende Säbelrasseln in der ganzen Welt hervorruft.

Deshalb müssen wir die Notwendigkeit bekräftigen, den Kapitalismus zu stürzen, um der Menschheit die Zukunft zu bieten, die sie verdient. Die Aufgabe der Revolutionäre besteht darin, das Klassenbewusstsein und die politische Organisation wiederzubeleben, die dem Proletariat so sehr fehlen. Jeder Fortschritt in dieser Richtung, jeder Erfolg in einem Land wird sich auf die anderen auswirken. Die revolutionäre kommunistische Bewegung muss in allen Ländern wiedergeboren werden.

Und vor allem muss das Proletariat in Russland wie anderswo seine Kampfbereitschaft und das Bewusstsein zurückgewinnen, dass es angesichts des untergehenden Kapitalismus die Zukunft der Gesellschaft repräsentiert.