Großbritannien: der hartnäckige Anstieg der unsicheren Arbeitsverhältnisse

Oktober 2017

Großbritannien: der hartnäckige Anstieg der unsicheren Arbeitsverhältnisse

Der folgende Artikel ist eine leicht gekürzte Übersetzung eines Artikels aus der Zeitschrift Class Struggle (Nr.110 - Herbst 2017) von  unseren britischen Genossen von Workers Fight.

In Großbritannien arbeiten heute 24% der Arbeiter als Teilzeitbeschäftigte; 15% als Scheinselbständige [1]; 4,8% in befristeten Vollzeitjob; 2,8% haben einen so genannten Nullstundenvertrag (ohne feste Stundenzahl und ohne festen Lohn) und 1,6% machen eine Ausbildung. Anders gesagt, fast jeder zweite Arbeiter hat entweder einen unsicheren oder einen Teilzeit-Job.

Theresa May und ihre Regierung rühmen sich gerne damit, dass unter ihnen ein Beschäftigungsrekord erreicht wurde, von 75,3% im vergangenen September. Sie verschweigen jedoch, dass ein bedeutender Teil dieser Beschäftigungsverhältnisse eben diese prekären Arbeitsverhältnisse sind, deren Lohn kaum zum Überleben reicht.

Diese Jobs breiten sich in allen Branchen aus - was deutlich macht, dass es sich um eine allgemeine Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft handelt. Auch einige bürgerliche Ökonomen und Kommentatoren haben diese Entwicklung bemerkt, wie der Herausgeber der Financial Times, der die wachsende Prekarisierung als "eine bewusste Entscheidung der Investoren und Unternehmer" beschreibt, "um die Gesetze zu umgehen, die zum Schutz der Arbeiter existieren". Als ob dies irgendwas Neues wäre!

Doch wie hat sich die Situation der Arbeiter dermaßen verschlechtern können - und das in einer relativ kurzen Zeitspanne?

Von den Jahren des Booms zur Wirtschaftskrise

Die unsicheren Arbeitsverhältnisse waren nicht immer so weit verbreitet. In den zwanzig Jahren bescheidenen wirtschaftlichen Aufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg waren sie de facto die Ausnahme.

In einigen Bereichen gab es sie auch damals schon im größeren Stil. Im Baugewerbe zum Beispiel wurden viele Arbeiter als Selbständige eingestellt und erhielten Verträge für einen Tag oder eine Woche. Als Lohn erhielten sie eine Pauschale, unabhängig von der Art und der Menge der Arbeit, die sie erwartete. Dieses Pauschalsystem, verbunden mit niedrigen Löhnen und der unerträglich hohen Zahl an Arbeitsunfällen (allein 1971 wurden 76.000 Bauarbeiter aufgrund von Arbeitsunfällen arbeitsunfähig), war der Auslöser für den ersten Generalstreik im Baugewerbe 1972.

Doch im Allgemeinen hatte nur eine Minderheit der Arbeiter in den Jahren von 1945 bis 1970 unsichere Arbeitsverhältnisse. Die Kapitalisten waren bereit, sich sozialen Frieden zu erkaufen, indem sie die Arbeitsbedingungen verbesserten - unter der Voraussetzung, dass die Kosten für diese Verbesserung ihre Gewinne nicht schmälerten, was unter den besonderen Umständen (den Wirtschaftsaufschwung der Nachkriegszeit) möglich war.

Aber diese Umstände waren nicht von Dauer. Ab 1971 setzte die durch den Krieg unterbrochene weltweite Krise der kapitalistischen Wirtschaft wieder voll ein. Zuerst brach das nach dem Krieg eingeführte internationale Währungssystem zusammen, das auf dem Dollar basierte. Es zog Handel und Produktion mit in die Abwärtsspirale. Die Märkte schrumpften. Um trotzdem ihre Profite aufrecht zu erhalten, haben die Kapitalisten von da an versucht, mit allen Mitteln die Arbeitskosten zu senken. Und eine Regierung nach der anderen hat ihnen dabei geholfen.

Als die sozialdemokratische Labour-Partei 1974 nach einem kurzen Zwischenspiel der konservativen Torries wieder an die Macht kam, unternahm sie den Versuch, ein kapitalistisches System zu retten, das in ernsten Schwierigkeiten steckte. Premierminister Harold Wilson begann damit, private Firmen mit staatlichen Geldern zu unterstützen. So finanzierte er beispielsweise einen Sanierungsplan für die britische Chrysler-Tochter, der zur Entlassung eines Drittels der Belegschaft führte. Gleichzeitig begann unter ihm die Politik des Stellenabbaus im Öffentlichen Dienst. Er setzte einen Einstellungsstopp im Gesundheitswesen durch, dem größten Arbeitgeber des Landes: Frei werdende Stellen wurden nicht mehr nachbesetzt und das Hilfspersonal wurde drastisch reduziert, indem man Küchen, Reinigung und Laborarbeiten zentralisierte.

In dem Versuch, die Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes zu besänftigen, startete Wilson eine Kampagne für seinen sogenannten "neuen Sozialvertrag". Sein Ziel war es, "jeden Arbeiter, seine Familie und seine Gewerkschaft" davon zu überzeugen, dass die Ertragspolitik der Regierung keine Falle wäre und ihn nicht zwingen würde, den größten Teil der Staatsschulden zu bezahlen. Aber die Arbeiter erkannten bald, dass es genau die Falle war, die sie befürchtet hatten. Ganze Teile des Öffentlichen Dienstes wurden zu Lohnsenkungen und schlechteren Arbeitsbedingungen erpresst, angeblich um Massenentlassungen zu verhindern, die ansonsten angeblich unvermeidlich gewesen wären. Zu dieser Zeit begann sich auch der Einsatz von Subunternehmern im öffentlichen Dienst zu verbreiten.

Irgendwann gelang es der Labour-Partei in dem Kontext der sich verschärfenden Krise immer weniger, die Wut der Arbeiter einzudämmen. Unter anderem kam es zu einer Streikwelle gegen die Anordnung der Regierung, Lohnerhöhungen auf höchstens 5% zu begrenzen. Schließlich kam der berühmte Winter der Unzufriedenheit 1978/1979, die größte Streikwelle seit dem Generalstreik von 1926. Dies überzeugte die britischen Kapitalisten endgültig davon, dass die Labour-Partei der Aufgaben, die sie von ihr erwartete, nicht gewachsen war.

Die Wende unter Thatcher

Was Thatcher's konservativer Regierung ermöglicht hat, dort fortzufahren, wo die Labour-Regierung gescheitert war, war die wirtschaftliche Krise der frühen 1980er Jahre, mit ihrem brutalen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Im Jahr 1983 hatte sich die Arbeitslosigkeit im Vergleich zu 1973 verdreifacht und 11,3% erreicht! Und die Bosse taten ihr Bestes, um mit Thatchers Hilfe diese Situation zu ihrem Vorteil auszunutzen.

Ab 1980 wurden Aufträge im Öffentlichen Dienst systematisch ausgeschrieben. Dadurch konnten sich private Firmen ganze Bereiche im Öffentlichen Dienst unter den Nagel reißen, insbesondere was den Reinigungsdienst, die Kantinen, die Sicherheit und den Nahverkehr betraf. In der Folge davon stieg die Zahl der befristeten Verträge stieg von 5,5 auf 7%.

Die Jugendarbeitslosigkeit schnellte in die Höhe und erreichte 20% im Jahr 1983. Dies nahm die Tory-Regierung als Vorwand, um Zwangsprogramme für arbeitslose Jugendliche einzuführen, die den Unternehmern schlecht bezahlte Langzeit-Praktikanten als billige Arbeitskräfte zur Verfügung stellten.

Die Arbeiterklasse war durch die Wirtschaftskrise geschwächt worden und verunsichert darüber, dass sich die Gewerkschaftsführungen sich nicht auf die Kampfkraft, die die Arbeiterklasse in den Jahren davor an den Tag gelegt hatte, stützten wollte, um diese Angriffe des Bürgertums zu bekämpfen. So gelang es Thatcher und nach ihr Major, die Arbeit fortzusetzen, die die Labour-Partei begonnen hatte. Gen Ende von Majors Amtszeit arbeitete ein Großteil der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst in Subfirmen mit unsicheren Arbeitsverträgen.

Aber auch Thatcher war auf dem Gebiet des Klassenkampfes gescheitert: Sie hat zwar die Bergleute besiegt, aber es ist ihr nicht gelungen, eine Reihe größerer Streiks zu verhindern. Obendrein war die Parlamentsmehrheit ihres Nachfolgers Major zu gering, um eine neue Offensive gegen die Arbeiterklasse beginnen zu können. Diese Aufgabe kam daher der Labour-Partei zu, diesmal unter der Führung Tony Blairs.

Blairs "flexibler Arbeitsmarkt"

In der Tat wurden die entscheidenden Maßnahmen für die Ausbreitung prekärer Beschäftigung unter Blair ergriffen. Blair übernahm Thatchers Politik in diesem Bereich und setzte sie bis zum Ende durch: Er nutzte weidlich die Tatsache aus, dass die Arbeiter nach der Niederlage des Bergarbeiterstreiks sehr entmutigt waren. Und diese Demoralisierung verstärkte sich noch dadurch, dass die Gewerkschaftsapparate bereitwillig Blairs Politik unterstützen.

Eine seiner ersten Maßnahmen bestand darin, viele Unternehmer vom Arbeitgeberanteil an den Sozialversicherungsbeiträgen zu befreien - unter dem Vorwand, auf diese Weise die Einstellung von Jugendlichen zu erleichtern. Gleichzeitig jedoch erhöhte er die Grenze, ab der die Unternehmer Sozialversicherungsbeiträge zahlen müssen, um 30% (auf 84 Pfund pro Woche, rund 100 Euro nach derzeitigem Wechselkurs). Damit forderte er die Unternehmer regelrecht dazu auf, die Löhne unter diese Grenze zu senken, was zu einem plötzlichen Anstieg der Teilzeitarbeit führte.

Auf Thatchers Reformen aufbauend weitete Blair den Einsatz von schlecht zahlenden privaten Fremdfirmen im öffentlichen Dienst erheblich aus. Am Ende seiner Präsidentschaft hatte jeder zehnte städtische Angestellte einen prekären Arbeitsvertrag. 19.700 Lehrer arbeiten als Zeitarbeiter jeden Tag in englischen und walisischen Schulen, und 10% der Krankenschwestern wurden über Zeitarbeitsfirmen eingestellt.

Einer der größten Märkte für Zeitarbeitsfirmen war und ist das Gesundheitswesen. Nur ein Jahr nach Blairs Wahl im Mai 1998 beschäftigte Nestor, die bedeutendste Zeitarbeitsfirma des Landes, bereits 92.000 Krankenschwestern im Gesundheitswesen und stellte fast 18% des gesamten Personals im Gesundheits- und Pflegesektor.

Offensichtlich explodierte die Zahl der Zeitarbeitsfirmen unter Blair so stark, dass es zu Beginn seiner zweiten Amtszeit 10.000 verschiedene Unternehmen in diesem Bereich gab! Blair ging sogar so weit, die Arbeit der Arbeitsämter an einige dieser Zeitarbeitsfirmen zu vergeben, darunter Manpower und Reed, die allein schon 700.000 Zeitarbeiter in der gesamten Wirtschaft beschäftigen!

Wie zu erwarten breiteten sich auch im privaten Sektor, insbesondere im Automobilsektor, Subunternehmer- und Zeitarbeitsfirmen aus. So waren bereits 2002 an den Fließbändern im BMW-Werk Cowley, das den Mini produziert, gut ein Drittel der Arbeiter Leiharbeiter. Und daran hat sich bis heute nichts geändert.

Aber hauptsächlich war es Blairs Kreuzzug gegen die Arbeitslosen, die den sogenannten "flexiblen Arbeitsmarkt" schuf, wie Blair ihn euphemistisch bezeichnete. Ein Arbeitsmarkt, der es den Unternehmern ermöglichte, billige Arbeitskräfte zu finden, die sie nach Belieben ausbeuten konnten und durch die sie die Arbeitskosten senken konnten.

Blair griff als erstes die Arbeitslosen an, die zu schlecht bezahlte Jobs ablehnten. Er ging darin weiter, als es die konservativen Regierungen gewagt hatte. Diese hatten bereits die Dauer des Arbeitslosengeldes verkürzt. Blair hingegen setze um, was die Konservativen sich nie zu verwirklichen gewagt hatten: Er strich den Arbeitslosen, die ein "vernünftiges" Arbeitsangebot ablehnten, jegliche soziale Unterstützung. Blair griff ebenfalls diejenigen im erwerbstätigen Alter an, die keine Arbeit suchten: Langzeitkranke, Behinderte, Alleinerziehende usw. Auch ihnen wurde gedroht, ihre Sozialleistungen zu verlieren, wenn sie nicht die erstbeste prekäre Arbeit nicht annehmen würden.

Auf diese Weise hat Blairs Labour Partei aus hunderttausenden arbeitslosen Armen hunderttausende arbeitende Arme gemacht. Das war das wahre Phänomen, dass man als "Rückkehr zur Vollbeschäftigung", in Wahrheit zur unterbezahlten Teilzeitbeschäftigung feierte!

Nach 2007: eine weitere Senkung der Arbeitskosten

Nach dem Beginn der Finanzkrise 2007 machte sich Blair's Nachfolger Gordon Brown (ebenfalls von der Labour-Partei) daran, die Schraube bei den Arbeitskosten weiter anzuziehen. Er setzte die unter Blair eingeführte Methode, unbefristete Vollzeitarbeitsplätze in Teilzeit- und/oder Niedriglohnjobs umzuwandeln, fort - jedoch in beschleunigtem Tempo.

Insbesondere die Null-Stunden-Verträge (die weder eine Mindestarbeitszeit noch einen Mindestlohn garantieren) wuchsen rasant. Ihre Zahl stieg offiziell von 166.000 im Jahr 2007 auf 883.000 im Jahr 2017, was 2,8 % der Arbeitsplätze entspricht. Aber nach anderen Schätzungen liegt sie bereits bei weit über einer Million.

Gleichzeitig haben sich die Arbeitsbedingungen in den Zeitarbeitsfirmen rapide verschlechtert. Eine Zeit lang war man davon ausgegangen, dass die europäische Richtlinie zur Leiharbeit mit ihrer Verpflichtung, den Leiharbeitern nach 12 Wochen im Betrieb den gleichen Lohn zu zahlen wie Festangestellten mit denselben Tätigkeiten, die Arbeitgeber dazu drängen würde, andere Formen der Beschäftigung zu suchen. Aber das war nicht nötig. Die so genannte schwedische Ausnahmeregelung machte es den Zeitarbeitsfirmen möglich, dass ihre Beschäftigten gar nicht als Leiharbeiter galten, sondern als Festangestellte der Leiharbeitsfirmen. Und für die galt die Richtlinie nicht.

Das einzige, was die Leiharbeitsfirmen hierfür tun mussten, war ihren Leiharbeitern zwischen zwei Einsätzen mindestens eine Woche lang einen Lohn in Höhe des Mindestlohns zu zahlen. Minimale Kosten für die riesigen Leiharbeitsfirmen, die es ihnen ermöglichten, erneut dem drohenden "gleichen Lohn für gleiche Arbeit" zu entkommen. Die Leiharbeitskonzerne florierten weiter. Heute gibt es 307.000 Leiharbeitnehmer im engeren Sinne, zu denen noch viele andere hinzukommen, die wegen der schwedischen Ausnahmeregelung oder anderer Tricks nicht als Leiharbeiter gelten.

Eine andere Art von Arbeitsplätzen, die sich seit 2007 rasant entwickelt hat, bietet den Arbeitern noch weniger Sicherheit: die Scheinselbstständigkeit. Diese Form der Beschäftigung ist in der Krise am schnellsten gewachsen: Die Zahl der Scheinselbständigen ist von 3,8 Millionen im Jahr 2007 auf heute 4,8 Millionen gestiegen. 15% aller Beschäftigten, die einen Arbeitsplatz haben, sind mittlerweile Scheinselbstständige! Nicht ohne Ironie wird geschätzt, dass die Hälfte der neuen Arbeitsplätze, die die Konservativen seit ihrer Rückkehr an die Macht im Jahr 2010 geschaffen haben, Scheinselbstständige, also kurz gesagt Krisenarbeitsplätze sind.

Dann kommen die vielen miesen Tricks, mit denen die Bosse die Arbeiter ihrer Rechte berauben. Beispielsweise ist es vielen Unternehmen gelungen, im Rahmen von Tarifverträgen unter Mitwirkung der Gewerkschaftsapparate unterschiedliche Rechte für bestimmte Gruppen von Arbeitern und damit Spaltungen einzuführen. Zum Beispiel erhalten in der Fabrik Ford-Dagenham im Osten Londons die Arbeiter, die nach 2012 eingestellt wurden, bei gleicher Qualifikation und gleicher Arbeit 5 Pfund (5,75 Euro) weniger pro Stunde als diejenigen, die vor 2012 eingestellt wurden. Als nächstes in der Hierarchie kommen dann die Arbeiter der Subfirmen: Einige von ihnen sind unbefristet, andere befristet eingestellt, aber sie alle bekommen für die gleiche Arbeit zwischen 7 und 11 Pfund (zwischen 8 und 12,50 Euro) weniger pro Stunde als die vor 2012 fest bei Ford eingestellten Arbeiter.

Erzwungene Teilzeitarbeit, verdeckte Überstunden und unbezahlte Arbeit

In den Jahren nach der Krise 2007 haben die Bosse die Zahl der Arbeitsstunden verringert. Angeblich um die Arbeitsplätze zu erhalten, in Wahrheit jedoch vor allem, um die Löhne zu senken. Mit dem Ergebnis, dass heute immer mehr Arbeiter Überstunden oder einen Nebenjob machen, um über die Runden zu kommen.

Die offiziellen Statistiken scheinen das Gegenteil nahezulegen. Danach leisteten die Beschäftigten 2007 durchschnittlich 1,4 Überstunden pro Woche, heute hingegen nur noch 1,1 Stunden. Nach Angaben der Rating-Agentur TotallyMoney jedoch, die in ihren Berechnungen auch die nicht gemeldeten und unbezahlten Überstunden schätzungsweise berücksichtigt, liegt der wahre Durchschnitt bei 8,4 Stunden Überstunden pro Woche. Und jeder zehnte Arbeiter würde durchschnittlich zwischen 8,4 und 31 Überstunden pro Woche leisten. Und was die Zweitjobs angeht, so ist ihre Zahl seit 2007 sogar offiziell um 10% gestiegen: 1,13 Millionen bzw. 3,5 % der Beschäftigten machen mittlerweile zwei Jobs.

Die Supermarktkette Tesco, Großbritanniens Unternehmen mit den meisten Beschäftigten (260.000), hat sogar eine App entwickelt, bei der die Beschäftigten per Smartphone anfragen können, ob sie Überstunden machen können. Laut der Geschäftsleitung "ermöglichen diese neuen Technologien den Arbeitenden, mit einem Klick zu erfahren, wo und wann es Überstunden zu machen gibt, und so die Geschäfte und Uhrzeiten auszuwählen, die sie interessieren". Mit anderen Worten, die Beschäftigten müssen sich ihre Überstunden nicht nur selber suchen, sondern sie müssen dafür vielleicht auch noch bis in ein Geschäft ans Ende der Welt fahren. Ein gutes Beispiel für den flexiblen Arbeitsmarkt, wie Blair ihn sich vorgestellt hat.

Aber die Kapitalriesen hätten gerne noch mehr Arbeiter, die sie ausbeuten und unterbezahlen können. So bedauert der Weltmarktführer für Zeitarbeit, Adecco, dass er "die Flexibilität, die Talente und den Arbeitswillen der Rentner, Behinderten und derjenigen, die sich um sie kümmern", nicht nutzen könne. Diese Kapitalhaie wollen uns selbst noch auf Krücken ausbeuten.

Auch die Arbeitslosen werden nicht verschont. Seit Blairs New Deal gibt es eine ganze Reihe von Programmen, die Arbeitslose dazu zwingen sollen, kostenlos für private Auftraggeber zu arbeiten, um das Privileg zu behalten, weiter Sozialleistungen zu beziehen. Mehrere dieser Programme wurden von den Gerichten für ungesetzlich erklärt und dann durch ein anderes, genauso schlimmes Programm ersetzt. Das neuste Programm heißt "Programm für Arbeit und Gesundheit" (Work-Health-Programm). Aber natürlich geht es bei diesem Programm in Wahrheit darum, dass die Arbeit der einen gebraucht wird, um die Gesundheit der Gewinne anderer zu erhalten.

Der Taylor-Bericht oder die institutionalisierte Prekarität

Seit kurzem sind mit dem Wachstum des Online-Handels weitere Arten prekärer Arbeitsverhältnisse hinzugekommen. Sie bilden quasi einen eigenen Wirtschaftssektor: Verträge von wenigen Stunden im Monat, Arbeiten auf Abruf - Arbeitsverhältnisse, die die englischen Spezialisten für Unternehmenskommunikation demagogisch die "Gig Economy" (die Wirtschaft der ,Auftritte') nennen, als ob diese Wirtschaft nicht auch ihre Ausbeuter und ihre Ausgebeuteten hätte. Zu diesem Wirtschaftssektor zählen Lieferanten wie Deliveroo oder JustEat, Uber-Fahrer, etc. Arbeiter, die mit extrem kurzzeitigen Verträgen oder als Freelancer arbeiten, werden für ihre "Auftritte" bezahlt, für das Ausliefern eines Pakets zum Beispiel. All dies ist in Wahrheit nichts anderes als eine Rückkehr zu den guten alten Zeiten der Akkordarbeit und des Stücklohns!

Einige der Praktiken der Gig Economy sind illegal. Die britische Gesetzgebung ist kulant, aber prekäre Arbeiter haben es trotzdem immer wieder geschafft, ihren Bossen Gesetzesübertretungen nachzuweisen und sie zu Zugeständnissen zu zwingen.

Dies war bei eCourier der Fall, einer Tochtergesellschaft mittlerweile privatisierten Post, die sich auf die Paketzustellung innerhalb von 24 Stunden spezialisiert hat. Einer der Kuriere, der als Scheinselbständiger eingestellt worden war, reichte Beschwerde gegen eCourier ein mit dem Ziel, den Status eines Angestellten (und so den dazu gehörigen bezahlten Urlaub) zu erhalten. Schließlich zog es eCourier vor, den Streit gütlich beizulegen. Dabei stellte sich jedoch heraus, dass alle 350 Kuriere mehr oder weniger den gleichen Status hatten, was an sich schon einen Verstoß darstellte, da der Status des "selbständigen Unternehmers" rechtlich nur mit einer spezifischen Aufgabe verbunden werden kann, die im Unternehmen einzigartig ist und eine Sonderbehandlung rechtfertigt.

Auf ähnliche Weise versuchte Deliveroo im Jahr 2016, bei seinen 15.000 scheinselbständigen Radfahrern ein Pay-per-Run-System (Bezahlung pro Fahrt) statt eines Pay-per-Hour-Systems (Bezahlung pro Stunde) einzuführen. Die Auslieferer traten augenblicklich in den Streik und sechs Tage später gab das Management sein Projekt auf. Was beweist, dass auch prekär Beschäftigte kämpferisch und in der Lage sein können, einen internationalen Konzern unter Druck zu setzen.

Es stimmt, dass solche Erfolge selten sind. Aber diese wenigen Fälle reichten aus, um die Bosse zu beunruhigen, die sich nun fragen, ob ihr Recht auf Ausbeutung der Arbeiter nicht gefährdet sein könnte. Teil dieser Besorgnis war, dass die gesetzlichen Rechte (oder das Fehlen solcher Rechte) für prekäre Arbeiter bei weitem nicht klar definiert waren. Theresa May hatte versprochen, "neue Praktiken im Bereich der Beschäftigung" zu entwickeln und die Untersuchung des Problems einer Kommission unter dem Vorsitz von Matthew Taylor anvertraut. Diese Entscheidung war nicht ganz unbedacht, denn Taylor ist niemand Geringeres als Blairs ehemaliger Berater für seine Arbeitsmarktreformen.

Das Ergebnis war der Taylor-Bericht, der in keinster Weise die unsichere Beschäftigung zu verringern sucht, sondern im Gegenteil vorschlägt, die neuen prekären Beschäftigungsverhältnisse ins Gesetz aufzunehmen. Der Bericht schlägt vor, im Gesetz eine neue Kategorie von Arbeitern zu schaffen, die als "abhängige Unternehmer" bezeichnet und deren Rechte an die Bedürfnisse der Gig-Economy angepasst werden.

Prekarität: Symptom einer kranken Gesellschaft

Eines der entscheidenden Probleme der Arbeiterklasse, das eine wichtige Rolle bei der Verschlechterung ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen spielt, ist die Weigerung der Gewerkschaftsführer, einen umfassenden Kampf gegen die unsichere Beschäftigung zu organisieren. Sie haben sich sogar als unfähig erwiesen, prekäre Arbeitskräfte zu organisieren. Ganz zu schweigen davon, sie in die großen Bataillone der Arbeiterklasse zu integrieren...

Beispielsweise bedauert die Gewerkschaft der Kommunikationsarbeiter, die 100.000 Postangestellte von Royal Mail bei sich organisiert hat, dass die Arbeitsbedingungen bei Royal Mail immer weiter nach unten angeglichen werden. Statt sich jedoch klar gegen die Royal Mail-Bosse zu stellen, gegen ihre Sparpolitik zur Senkung der "Arbeitskosten" (einschließlich der Tatsache, dass befristete Verträge normal geworden sind), macht die Gewerkschaftsführung den "unlauteren Wettbewerb" anderer Lieferdienste und deren Einsatz billigerer Arbeitskräfte dafür verantwortlich. Natürlich nutzen DPD, Jodel, UKMail, Amazon usw. prekäre Beschäftigung und missbrauchen sie schamlos. Deshalb müssten die Gewerkschaftsführer es sich zum vorrangigen Ziel machen, die Mitarbeiter dieser Lieferdienste zu organisieren und mit den Postangestellten der Royal Mail gemeinsam zu kämpfen, um die Politik, die Arbeitsbedingungen ständig nach unten anzugleichen, zu beenden.

Heute erklären die meisten Gewerkschaftsführer, der einzige Weg zur Bekämpfung der unsicheren Beschäftigungsverhältnisse bestünde darin, eine Labour-Regierung zu wählen, die dann Gesetze zum Schutz der Beschäftigten verabschieden würde. Aber hat die Labour-Partei in der Regierung jemals die materiellen Interessen der Arbeiterklasse verteidigt? Nein, natürlich nicht!

Bedeutet dies, dass die Arbeiterklasse entwaffnet und ohnmächtig ist? Nein. Wurde die heutige Arbeiterbewegung nicht ursprünglich von prekären Arbeitern aufgebaut, die keinerlei rechtlichen Schutz genossen?

Die Streiks der ungelernten Arbeiter in der Gasindustrie ließen Eleanor Marx 1889 sagen: "Der erste Versuch von ungelernten Arbeitern, sich das zu verschaffen, was die Gewerkschaften der Facharbeiter nie wirklich für sie zu erreichen versucht hatten, geht auf die Demonstration von 1889 zurück. Damals organisierten sich die Londoner Gasarbeiter und forderten, was keine andere Versammlung von Menschen je gefordert hatte: den Acht-Stunden-Tag (...). Am 27. Juni, drei Monate nach Gründung ihrer Gewerkschaft veranstalteten sie eine gigantische Kundgebung, um einen Sieg zu feiern, der alles übertraf, was jemals von erfahreneren und wohlhabenderen Gewerkschaften erreicht worden war, nämlich die Gewährung des Acht-Stunden-Tages ohne Lohnkürzung und in vielen Fällen sogar mit einer Gehaltserhöhung."

Die Geschichte lehrt uns, dass der Elan der Gasarbeiter in East London eine noch größere Bewegung "unter den ärmsten, am meisten verachteten und verzweifelten Arbeitern" auslöste: den Hafenarbeitern. Die Unternehmer zu zwingen, die Rechte der Arbeiter einzuhalten, erfordert ein günstiges Kräfteverhältnis. Letztlich ist es eine Frage der Organisation.

Die Arbeiter des späten 19. Jahrhunderts wussten ihre kollektive Kraft gegen die Unternehmer einzusetzen. Die Arbeiterklasse des beginnenden 21. Jahrhunderts kann das Gleiche tun. Um dies zu erreichen, muss sie sich organisieren und dabei die Kräfte aus allen Branchen und aller Beschäftigungsverhältnisse bündeln. Arbeitende des öffentlichen Dienstes und der Privatwirtschaft, gelernte und ungelernte Arbeiter, Beschäftigte in Vollzeit und Teilzeit, mit unbefristeten und befristeten Verträgen, Lohnabhängige und Scheinselbstständige, britische und ausländische... Die Liste der von Ausbeutern geschaffenen künstlichen Spaltungen ist lang. Aber es gibt nur eine einzige Arbeiterklasse. Und sie ist es, die den ganzen Reichtum dieser Gesellschaft produziert.

Entgegen der Märchen von Politikern und ihren Vertretern in den Medien wurde noch kein Reichtum von den Geschäftsleuten internationalen Ranges produziert, geschweige denn vom Glücksspiel der Finanzmärkte. Einzig die Arbeiterklasse kann Reichtum schaffen und schafft ihn in der Tat. Kein Hindernis kann ihrer kollektiven Stärke widerstehen, wenn sie sich entscheidet, diese einzusetzen.

16. Oktober 2017

 

Fußnoten

[1] In Großbritannien haben Scheinselbständige nicht die gleichen sozialen Rechte wie lohnabhängig Beschäftigte. Sie haben keinen Anspruch auf bezahlten Urlaub, auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder Arbeitslosenunterstützung. Sie haben nicht das Recht, zu streiken, Gewerkschaften beizutreten oder sich auf Regelungen zu Arbeitszeiten oder Arbeitsbedingungen zu berufen, wie sie für die nicht prekär Beschäftigten gelten. Andererseits müssen sie von ihrem Lohn sowohl die Arbeitgeber- wie die Arbeitnehmeranteile der Sozialversicherungsbeiträge bezahlen.