Die Rolle und die Natur des Staates in den unterentwickelten Ländern (aus Lutte de Classe - Klassenkampf - von April 1967)

Die Rolle und die Natur des Staates in den unterentwickelten Ländern
April 1967

Vom Sozialismus kann man heute das sagen, was Blanqui zu seiner Zeit vom Wort "Demokratie" sagte: Es ist so vieldeutig geworden, dass jeder sich dahinter verstecken kann. Und das gilt ganz besonders in den unterentwickelten Ländern, wo es praktisch keinen Staatsmann gibt, vom "Kommunisten" Mao Tse-tung bis zur Königlichen Hoheit Norodom Sihanuk, der sich nicht mehr oder weniger auf den Sozialismus beruft.

Nun sind die Stellungnahmen der revolutionären Organisationen und besonders derjenigen, die sich auf den Trotzkismus berufen, nicht dazu geeignet, das Problem zu klären. Denn während sie ansonsten identische oder zumindest gleichartige Gedankengänge entwickeln, erkennt jede von ihnen einer unterschiedlichen Zahl von Staaten die Eigenschaft "Arbeiterstaat" zu, genauer gesagt - "Trotzkismus" verpflichtet - "deformierter Arbeitsstaat" .

Wenn für die Organisationen des Internationalen Komitees (1) allein die so genannten Länder der "Volksdemokratien" und China das Recht auf diese sehr unklare Bezeichnung haben, so soll nach Auffassung derjenigen des Vereinigten Sekretariates diese Liste außerdem Kuba, Algerien und noch einige andere einschließen; und für die Posadisten ist sie so lang, dass sie lieber von dem sprechen "was noch an Kapitalistischem in der Welt bleibt" .

Bemerken wir schließlich nebenbei, dass die Stalinisten, die trotz allem Guinea oder Mali nicht zum "sozialistischen Lager" zählen können und die auch keine Möglichkeit haben, über deformierte Arbeiterstaaten zu sprechen, um niemanden zu verärgern, die interessante Kategorie von "in nichtkapitalistischem Entwicklungswege befindenden Ländern" geschaffen haben!

Die Grundlage all dieser Analysen, die darauf abzielen, die Bezeichnung "deformierter Arbeiterstaat" zu rechtfertigen, die sie für diesen oder jenen Staat anwenden, bilden immer dieselben Argumente: Das eine ist die Bodenreform, die keiner Diskussion standhält, weil sie für einen Marxisten geradezu der Prototyp der bürgerlichen Reform ist; das andere betrifft die mehr oder weniger große Verstaatlichung im betreffenden Land.

Genau darin besteht eine der Meinungsverschiedenheiten zwischen den verschiedenen Teilen der IV. Internationale über die Natur des Staates in manchen dieser Länder: Wenn man in dem Ausmaß der Verstaatlichungen das, oder zumindest eines der entscheidenden Kriterien hierfür sieht, dann muss man uns wenigstens sagen, bei welchem Prozentsatz an Verstaatlichungen sich der qualitative Sprung vollzieht, der, durch welches mysteriöse dialektische Wunder auch immer, aus diesen Staaten mehr oder weniger deformierte Arbeitsstaaten macht.

Der Eingriff des Staates in das Wirtschaftsleben ist keineswegs eine "sozialistische" Tat. Seit Sumer oder dem Ägypten der Pharaonen gab es keine Klassengesellschaft, in der der Staat nicht auf die eine oder auf die andere Weise, und sei es auch noch so wenig, in die Wirtschaft hätte eingreifen intervenieren müssen.

Und wenn dieses Phänomen oft nur nebensächlich war, so ist diese Intervention des Staates heute, in der imperialistischen Ära, in den fortgeschrittenen kapitalistischen wie in den unterentwickelten Ländern, ein wichtiges Phänomen und eine absolute Notwendigkeit.

In allen imperialistischen Ländern mit Ausnahme des amerikanischen Imperialismus, des reichsten unter allen, der es bis heute im Wesentlichen vermeiden konnte, musste der Staat eine gewisse Zahl von Schlüssel-Sektoren direkt übernehmen und sie verstaatlichen.

Man darf nicht vergessen, dass in Frankreich zum Beispiel einer von drei Arbeitern beim Staat beschäftigt ist. Und Pompidou (2) (zitiert durch Informations Ouvrières (3) vom 6. März 1967) konnte zu Recht fragen, ob Verstaatlichungen Sozialismus bedeuten, wenn er von "der Besonderheit unseres Systems, das halb-kapitalistisch, halb-sozialistisch, gleichzeitig liberal und geplant ist" sprach.

Für die Stalinisten gibt es da übrigens gewissermaßen ein Körnchen Sozialismus, weil es sich um wichtige "Eroberungen der Arbeiter" handele. Tatsächlich aber wurden diese Verstaatlichungen keineswegs der Bourgeoisie aufgezwungen. Sie waren für sie eine Notwendigkeit und betrafen nicht die Sektoren, wo die kapitalistischen Gewinne am höchsten waren, sondern ganz im Gegenteil die defizitären Sektoren, und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg genau diejenigen, die im Zuge des Wiederaufbaus für die ganze kapitalistische Wirtschaft grundlegend waren, und wo allein der Staat es auf sich nehmen konnte, sehr viel Kapital ohne Hoffnung auf entsprechende Gewinne zu investieren .

Kein Revolutionär denkt (zumindest heute) daran, solche Verstaatlichungen als sozialistisch zu bezeichnen. Aber man sieht ähnliche Phänomene in der Mehrheit der unterentwickelten Länder. Und wenn es oft in größerem Maßstab stattfindet, so liegt dies keineswegs an einem mehr oder weniger sozialistischen Willen ihrer Führer, sondern an der großen Schwäche ihrer nationalen Bourgeoisien.

In diesen Ländern handelt es sich nicht nur um unrentable Sektoren der Wirtschaft.

Sehr oft ist dort kein Privatkapital fähig, die Investitionen zu leisten, die für den Bau oder für die Ausdehnung moderner Unternehmen notwendig sind. Nicht nur, dass die industrielle Entwicklung (so schwach sie auch im Vergleich zu den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern ist) nur dank der direkten Intervention des Staates in Betracht gezogen werden kann, sondern dies gilt ebenso für das normale Funktionieren der Volkswirtschaft.

Sicher hat die Bourgeoisie in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern begonnen, sich mit Kapitalien zu entwickeln, die vielleicht nicht sehr beachtenswert waren (und sie hat es übrigens mit Hilfe des Staates getan). Aber damals hatte sie Unternehmen im Maßstab ihres Jahrhunderts und also ihren finanziellen Möglichkeiten entsprechend zu schaffen.

Heute stellt sich in den unterentwickelten Ländern das Problem auf eine sehr andere Weise. Es kommt nicht in Frage, alle wirtschaftlichen Entwicklungsstadien nachzuholen, die jene Länder durchmachten, deren Industrie sich vor mehreren Jahrhunderten zu entwickeln begann. Es kommt nicht in Frage, Unternehmen der Größe aufzubauen, die dem privaten Kapital entsprechen, über das die nationale Bourgeoisie verfügt.

Diese Verstaatlichungen oder diese staatlichen Unternehmensgründungen sind also keineswegs "sozialistische" Umwandlungen. Die bürgerlichen Staaten, die sie vornehmen, haben keine Wahl, weil es keine Wahl zwischen Leben und Tod gibt, und sie können nur unabhängig überleben zum Preis dieser Verstaatlichungen oder dieser - beschränkten - Industrialisierung auf staatlicher Basis.

Manche werden zweifellos die Idee abwegig finden, Staaten als "bürgerlich" zu bezeichnen, die manchmal fast ihre ganze Industrie und ihren Großhandel verstaatlicht haben.

In Wirklichkeit aber ist es abwegig, dass Leute, die sich auf den Marxismus berufen, tatsächlich behaupten, dass Verstaatlichungen Sozialismus bedeuten.

Eine solche Konzeption hat nichts mit Marxismus zu tun. Das ist nur der Inhalt, den bürgerliche Anhänger des wirtschaftlichen Liberalismus dem Wort Sozialismus geben, wenn sie mit den Befürwortern der "Planwirtschaft" polemisieren. Das ist höchstens die Konzeption gewisser Reformisten, für die der Sozialismus an einem fernen Tage realisiert sein wird, wenn die ganze Wirtschaft verstaatlicht ist. Das ist keineswegs die Konzeption von Revolutionären.

Der Sozialismus bedeutet nicht die Aneignung der ganzen Wirtschaft durch den Staat. Sozialismus ist die Verwendung der Wirtschaft im Dienst der gesamten menschlichen Gesellschaft, das heißt auch im Weltmaßstab. Und wenn die Enteignung der besitzenden Klassen und die Zentralisierung der ganzen Wirtschaft in den Händen des Staates unentbehrlich sind, um dieses Ziel zu erreichen, dann kann nur ein Arbeiterstaat, der aus einer proletarischen Revolution entstanden ist, den Weg zu einer solchen Umwandlung öffnen.

Die Klassennatur des Staates bestimmt den Charakter dieser Verstaatlichungen. Die Verstaatlichungen aber bestimmen nicht die Klassennatur des Staates.

Abwegig ist zu schreiben, wie die Zeitschrift "IV. Internationale": "Die Natur des Staates wird durch die Form der Produktionsverhältnisse bestimmt, die die an der Macht befindliche Klasse verteidigt."

Der Sowjetstaat der ersten Jahre der NÖP, wo der Privatsektor zweifellos bedeutender war, als er gegenwärtig in gewissen unterentwickelten Ländern ist, war deswegen sicher nicht weniger ein Arbeiterstaat.

Die wesentliche Aufgabe eines solchen Staates besteht nicht darin, durch die Verstaatlichung der gesamten Wirtschaft den Aufbau des Sozialismus zu beginnen. Es wäre gar nicht möglich, den Sozialismus, und sei es auch nur ein kleines bisschen, in einem einzigen Land aufzubauen. Der Sozialismus lässt sich nicht in Stücke zerlegen. Die wesentliche Auflage des Arbeiterstaates besteht darin, die Entwicklung der sozialistischen Weltrevolution voranzutreiben. Und seine Wirtschaftspolitik im Inneren ist Sache von Umständen und Möglichkeiten, aber sie erlaubt es nicht, seine Klassennatur zu beweisen.

Noch einmal, was entscheidend ist, ist zu wissen, welche soziale Klasse die Revolution gemacht hat, welche soziale Klasse den Staatsapparat wieder aufbaut und welche soziale Klasse ihn beherrscht.

Das Komischste ist, dass viele den bürgerlichen Charakter gewisser Staaten leugnen, weil sie die Schwäche, sogar die Quasi-Abwesenheit oder das Fehlen des Bürgertums feststellen, und dass das ihnen ein genügendes Argument scheint, um diese dann als "Arbeiterstaaten" zu charakterisieren.

Und da es offensichtlich ist, dass die Arbeiterklasse nirgendwo, weder in China noch in Kuba und auch woanders nicht, die Staatsmacht, und sei es auch noch in so geringem Maße ausübt, spricht man von "deformierten Arbeiterstaaten", wo die politische Macht durch eine Bürokratie ausgeübt wird. Man weiß nicht so recht, wo diese Bürokratie herkommen soll, denn anders als in der UdSSR hat nirgendwo eine Degeneration eines Arbeiterstaates stattgefunden. Und diese Bürokratie soll, anders als die Sowjetbürokratie, die immer eine konterrevolutionäre Rolle gespielt hat, revolutionär genug gewesen sein, um den revolutionären Prozess zu leiten und zu beherrschen, und, wenn auch auf eine "deformierte" Weise, die Interessen des Proletariates vertreten.

Dieser letzte Punkt ist übrigens besonders schwer vorstellbar: welche nationalen Interessen des Proletariats sollten denn bitte diese Bürokratien, die einen rein nationalistischen Standpunkt vertreten, verteidigen können? Das Proletariat, das in diesen Ländern schwach, aber Teil einer internationalen Klasse ist, kann nämlich keine anderen als internationale Interessen haben.

Man muss jedenfalls beachten, dass von einer auch noch so minutiösen Analyse der zahlenmäßigen Bedeutung der sozialen Klassen in einem einzelnen Lande, und ausschließlich von den bestehenden Produktionsverhältnisse in diesem Land auszugehen, dem Marxismus völlig fremd ist.

Seit der "Deutschen Ideologie" verkündeten Marx und Engels, dass das Proletariat eine Klasse ist, die nur auf internationaler Ebene bestehen kann. Und diese Proklamierung war keine Sache von "guten internationalistischen Gefühlen". Sie war die grundlegende Basis ihrer Konzeption der Geschichte der Menschheit und des Sozialismus.

Seit dem XVI. Jahrhundert ungefähr ist es in der Tat unmöglich, die Geschichte der Menschheit anders zu betrachten als ein Ganzes.

Sicher erschien die Bourgeoisie in den ersten Ländern, in denen sie sich entwickelte, wie ein nationales Phänomen, das man notfalls verstehen kann, ohne internationale Faktoren zur Hilfe zu nehmen. Aber das Aufkommen des industriellen Kapitalismus, und damit des Proletariates, war ein internationales Phänomen, selbst wenn dieser industrielle Kapitalismus und dieses Proletariat anfangs nur in einer beschränkten Zahl von Ländern erschien. Denn diese Entwicklung war nur möglich dank einer primitiven Akkumulation des Kapitals, die durch die Ausplünderung nicht nur ganzer Länder, sondern ganzer Kontinente stattgefunden hatte.

Seit dieser Epoche ist es nicht mehr möglich, die Entwicklung irgendeines Landes zu betrachten, ohne den entsprechenden internationalen Kontext zu berücksichtigen, und dieser Kontext ist im Fall der unterentwickelten Ländern sogar entscheidend, um den Klassencharakter dieser Staaten zu verstehen.

Zweifellos ist die Bourgeoisie dieser Länder schwach. Wäre sie aber überhaupt nicht vorhanden - was niemals der Fall ist und was übrigens unmöglich ist, weil der internationale Kapitalismus notgedrungen bürgerliche Produktionsverhältnisse eingeführt, und daher mindestens einen Embryo von nationalem Bürgertum geschaffen hat, und sei es nur eine Kompradorenbourgeoisie (4) -, so ändert das nichts am Problem. Nicht so sehr die Verbindungen zu ihrer eigenen Bourgeoisie, sondern viel mehr die Beziehungen zum Weltimperialismus bestimmen die bürgerliche Klassennatur dieser Staaten.

Ihre Beziehungen zur eigenen Bourgeoisie sind in der Tat unendlich viel schwächer als diejenigen, die den Staat in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern an die Klasse bindet, die er vertritt. Denn die Bourgeoisie der imperialistischen Länder hat eine solche wirtschaftliche Macht, die es ihr erlaubt, ihren Staatsapparat zu beherrschen, selbst wenn sie aus politischen Gründen gezwungen ist, ihn in Händen einer Bürokratie zu legen, die ihr großenteils fremd ist, wie es zum Beispiel in Nazideutschland der Fall war.

Diese relative Unabhängigkeit des Staates gegenüber der nationalen Bourgeoisie in den unterentwickelten Ländern ermöglicht es zu verstehen, mit welcher Leichtigkeit in manchen Fällen fast die ganze Industrie verstaatlicht werden konnte.

Viele Leute sind der Meinung, dass China ein Arbeiterstaat ist, weil Mao Tse-tung fast die ganze chinesische Industrie verstaatlicht hat. Aber das Ägypten Nassers, das nicht solche Beurteilungen hervorgerufen hat, steht China auf diesem Gebiet in nichts nach. Über welche Bewegungsfreiheit der Staat solcher Länder manchmal gegenüber seiner eigenen Bourgeoisie verfügen kann, zeigt besonders gut die Tatsache, dass eine gewisse Zahl von besonders korrupten und reaktionären Regierungen, die man selbstverständlich politisch nicht mit Castro oder mit Mao Tse-tung vergleichen kann, für ihren eigenen Gewinn wichtige Teile der Bourgeoisie enteignen konnten. . Das schlagendste Beispiel ist der Fall des verstorbenen Trujillo, der sich persönlich zum Besitzer fast aller Fabriken und Ländereien der dominikanischen Republik gemacht hatte.

Es ist offensichtlich, dass ein solches Phänomen in fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern unvorstellbar, aber in einem unterentwickelten Land durchaus möglich ist.

Wenn man sich tatsächlich nicht vorstellen kann, dass der Staat eines imperialistischen Landes den größten Teil seiner Wirtschaft verstaatlicht, so ist es anders bei Ländern, wo die nationale Bourgeoisie sehr schwach ist.

In den imperialistischen Ländern ist der Staatsapparat wirklich nur der Diener der Bourgeoisie, und seine Mitglieder haben ganz das Interesse, den Eifer und die Hingabe, ihrer Bourgeoisie jeden Gefallen zu erweisen.

In den unterentwickelten Ländern, und vor allem in den ärmsten, in denjenigen, wo das Bürgertum am schwächsten ist, ist es durchaus nicht so. Der Staatsapparat ist dort unendlich viel unabhängiger. Und er bezieht sowohl seine Einkommen und Pfründen nicht so sehr von der nationalen Bourgeoisie, als vielmehr aus der Korruption und der einfachen Unterschlagung staatlicher Einnahmequellen.

Das ist einer der Aspekte der "Entwicklungshilfe" für die unterentwickelten Länder: Sie ist vor allem eine "Hilfe" für ihre Führer und gleichzeitig ein Mittel, diese zu kontrollieren.

Selbst, wenn diese Führer moralisch vollkommen sauber wären, so würde es nichts an der Art, wie das Problem sich stellt, ändern.

Denn wenn auch eine große Zahl der Führer dieser Länder offensichtlich nur gedungene Diener des Imperialismus sind, so sind die Staaten nicht weniger bürgerlich, wenn sie von Menschen geleitet werden, die scheinbar, oder sogar wirklich, einen "antiimperialistischen" Kampf führen, (das heißt gegen den eigenen, sie selbst unterdrückenden Imperialismus, aber nicht gegen den Imperialismus im Allgemeinen). Denn ihre bürgerliche Klassennatur wird vor allem durch die Tatsache bestimmt, dass sie der imperialistischen Welt nicht entkommen können.

Um das Maximum an Gewinnen aus den kolonialen und halbkolonialen Ländern zu ziehen und um seine Investitionen zu sichern, hat der Imperialismus oft die militärische Gewalt und die politische Unterwerfung eingesetzt. Aber man muss verstehen, dass sie für ihn keineswegs unentbehrlich sind, um diese Länder auszubeuten.

Der Respekt der "Gleichberechtigung zwischen den Nationen", den die Stalinisten und die kleinbürgerlichen Demokraten so sehr fordern, kann letztlich nur zum Weiterbestehen der wirtschaftlichen Ausbeutung der unterentwickelten Länder führen.

Im besten Fall, wo der Handel auf der Grundlage der Weltmarktpreise stattfindet, führt er trotzdem wegen des riesigen Unterschiedes der Industrialisierung, also der Arbeitsproduktivität dazu, dass sehr unterschiedliche menschliche Arbeitsmengen ausgetauscht werden, also die Ausbeutung der unterentwickelten Länder durch den Imperialismus bestehen bleibt.

Man kann sich also im äußersten Fall - aber das ist selbstverständlich nur eine Abstraktion - einen Staat in einem Land vorstellen, in dem keine Bourgeoisie existiert und der politisch völlig unabhängig vom Imperialismus wäre: Er wäre dennoch ein bürgerlicher Staat (außer wenn er aus einer proletarischen Revolution hervorgegangen ist), alleine"nur", weil er die Aufrechterhaltung der imperialistischen Ausbeutung ermöglicht.

Aber das ist weder der einzige noch der wichtigste Grund. Denn das Problem der Natur dieser Staaten stellt sich nicht nur bezüglich der Verbindungen, die sie heute mit dem Imperialismus unterhalten, es stellt sich vor allem in Bezug auf die Zukunft der Menschheit, das heißt in Bezug auf die Entwicklung der sozialistischen Weltrevolution.

Die Marxisten sind keine Historiker der Gegenwart. Sie wollen die Geschichte nicht schreiben: Sie wollen dazu beitragen, sie bewusst zu gestalten. Der theoretische Gedanke soll vor allem ein Werkzeug im Dienst der revolutionären Aktion sein. Das wahre Problem besteht nicht darin zu wissen, welches bereits existierende Etikett am besten dieses oder jenes einzeln betrachtete Phänomen bezeichnet, sondern darin zu versuchen zu begreifen, was dieses Phänomen für die historische Entwicklung der Menschheit bedeutet.

Deshalb ist es zum Beispiel lächerlich, die Natur des chinesischen Staates durch ein mehr oder weniger richtiges Sezieren des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen in China, oder der dort bestehenden Produktionsverhältnisse entdecken zu wollen. Das wahre Problem besteht darin, zu erkennen, ob die chinesische Revolution einen Schritt vorwärts in der Entwicklung der sozialistischen Weltrevolution darstellt.

Sicher hat die chinesische Revolution den Imperialismus geschwächt, und das ist zweifellos eine positive Tatsache. Aber das Problem besteht nicht darin, den Imperialismus zu schwächen, sondern ihn zu zerstören. Das übersteigt selbstverständlich die direkte Tragweite einer Revolution in einem unterentwickelten Land.

Auf dieses Ziel aber würde sich eine proletarische Revolution trotz alledem konzentrieren, und sie würde versuchen, es mit einer folgerichtigen internationalistischen Politik zu erreichen.

Aber alle Revolutionen, die seit mehr als zwanzig Jahren das, was man fälschlich die "Dritte Welt" nennt, erschüttert haben, haben Staaten hervorgebracht, deren Politik keine andere Bezeichnung als nationalistisch verdient. Und das ist kein einfacher "Irrtum" ihrer Führer. Das ist es, was uns zwingt, sie als bürgerliche Staaten zu betrachten.

Die Verspätung der sozialistischen Weltrevolution ermöglichte es tatsächlich vielen Bourgeoisien, die eigentlich keine historische Zukunft hatten, unabhängige Staaten zu bilden. Das schwache soziale Gewicht dieser Bourgeoisien hat dazu geführt, dass die Staatsapparate dieser Länder eine ungeheure Macht erhalten konnten, nicht zu vergleichen natürlich mit der der bürgerlichen Staaten der industrialisierten Länder. Aber diese Formen sind keineswegs eine Vorwegnahme der Zukunft. Sie sind im Gegenteil nur Formen des Überlebens der alten Gesellschaft. Es gibt tatsächlich nur ein einziges Kriterium, das erlaubt, über die Klassennatur eines Staates zu urteilen: seine internationale Politik.

Ein Arbeiterstaat wäre vielleicht unfähig, die Wirtschaft mehr zu entwickeln, als Castro oder Mao Tse-tung es haben leisten können. Er könnte nicht mehr als diese die Gräben zuschütten, die die unterentwickelten Länder von den industrialisierten Ländern trennen, und auch nicht den ungleichen Tausch verhindern, der den Imperialismus bevorteilt. Aber er könnte wirklich gegen den Imperialismus kämpfen (im Allgemeinen und nicht nur gegen den besonderen, eigenen Imperialismus, der das Land unterdrückt), für die sozialistische Weltrevolution kämpfen, mit einer wirklichen und konsequenten internationalistischen Politik. Das heißt, er würde sich nicht damit begnügen, am 1. Mai oder an einem anderen Tag zu erklären, dass er Anhänger des proletarischen Internationalismus sei, sondern er würde seine ganze Politik dem Kampf für die Entwicklung der sozialistischen Weltrevolution unterordnen. An erster Stelle würde er sich bemühen, allen Ländern die größtmögliche politische und materielle Hilfe für den Aufbau revolutionärer Arbeiterparteien zu bringen, sich um den Wiederaufbau einer revolutionären Internationale bemühen, und aus seiner Diplomatie ein Werkzeug revolutionärer Propaganda bei den Massen der ganzen Welt machen.

Wir müssen feststellen, dass mit Ausnahme der UdSSR, wo dies in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution von 1917 die wirkliche Politik war, und die auf Grund dieser Tatsache eine Ausnahme ist, es bislang sonst keinen Staat gibt und gab, weder in den unterentwickelten Ländern noch anderswo, der eine solche Politik - wenn auch nur vorübergehend - betrieben hat.

Es nützt nichts, sich mit der Vorstellung zu trösten, trotz der Abwesenheit einer internationalen revolutionären Führung habe sich die sozialistische Revolution, wenn auch nur "auf eine deformierte Weise" entwickeln können. Die Welt hat sich seit 1917 sicherlich fortentwickelt. Aber außerhalb des sozialistischen Weges. Und die Revolutionen, die die kolonialen und halbkolonialen Länder kurz nach dem zweiten Weltkrieg erschüttert haben, haben vielleicht kurzfristig manche der Probleme der Bauernmassen lösen können, doch langfristig, das heißt im Maßstab der Geschichte der Menschheit, führen sie trotzdem in eine Sackgasse. Das Problem der sozialistischen Revolution bleibt weiterhin vollständig bestehen. Es wurde weder in China, noch in Kuba, und auch nicht anderswo, auch nicht nur teilweise, gelöst.

Das Gegenteil zu behaupten, zu sagen, das Proletariat übe irgendwo - wenn auch nur auf "deformierte" Weise - die politische Macht aus, heißt nichts anderes, als sich selbst etwas vorzugaukeln.

Denn wenn auch kein Teil der IV. Internationale irgendwo genug Einfluss besitzt, um die Massen mit solchen Theorien demobilisieren zu können, so können diese dennoch nur dazu führen, dass die Revolutionäre sich von den bürgerlich - demokratischen Führungen ins Schlepptau nehmen lassen. Aber in Bezug auf die wesentliche Aufgabe, die sich heute den Revolutionären stellt, nämlich dem Aufbau einer revolutionären Internationale, können die Genossen, die diese Theorien von so genannten "Arbeiterstaaten" verteidigen, angesichts dessen,, was in einer gewissen Zahl von unterentwickelten Ländern geschieht, nur politisch entwaffnet sein. Was können sie nämlich den Revolutionären dieser Länder Anderes vorschlagen, als sich von den politisch "deformierten" revolutionären Führungen ins Schlepptau nehmen zu lassen?

Und der beste Beweis ist die Haltung der französischen Teile der IV. Internationale während des Algerienkrieges.

Trotz der großen Meinungsverschiedenheiten, die die Sektionen des Internationalen Komitees von derjenigen des Internationalen (und danach des Vereinigten) Sekretariates trennten, waren ihre Irrtümer vollkommen symmetrisch.

Die einen sahen in der Algerischen Nationalen Bewegung (MNA) von Messali Hadj die zukünftige algerische revolutionäre Partei. Die anderen gewährten diese Rolle der Nationalen Befreiungsfront (FLN). Aber beide hörten tatsächlich auf, die Idee der Notwendigkeit zu verteidigen, eine algerische revolutionäre Partei außerhalb dieser nationalistischen Organisationen aufzubauen.

Deshalb ist das Problem der Rolle und der Natur der aus Revolutionen der kolonialen und halbkolonialen Länder entstandenen Staaten ein grundlegendes Problem. Denn die Antwort, die verschiedene, sich auf den Trotzkismus berufenden Gruppen heute darauf geben, wird kaum Einfluss auf ihre direkte Entwicklung haben, beeinflusst aber umso mehr ihre Fähigkeit, das Problem des Wiederaufbaus der IV. Internationale anzugehen.

 

1) Internationale Gruppierung um die damaligen französische OCI (heute PT) und die britische SLL

2) Ministerpräsident 1962-1968, Vorsitzender der Republik 1969-1974

3) Die Zeitung der OCI

4) Bourgeoisie eines armen Landes, die im Dienste des ausländischen Kapitals das Land verwaltet